Wenn Baum seine Augen schließt, kann er an andere Orte reisen. Ob dies nur in seinem Geist geschieht oder ob er dabei tatsächlich an einen anderen Platz auf der Erdkugel, wenn nicht gar in eine andere Dimension des Universums gelangt, ist ihm nicht bekannt. Was er dabei erlebt, empfindet er nämlich als so real, dass er nur annehmen kann, dass sich in solchen Momenten sein Baumkörper mitsamt seines dicken Stammes, seiner starken Äste, der vielen Zweige und grünen Blätter daran sowie natürlich auch seiner Wurzeln im Erdreich auflöst, um sich an dem Ort, zu dem er reist, zusammenzufügen und wieder zu Baum zu werden. Oft behält er dabei seine gewohnte Gestalt, und selbst die Vögel, die kurz zuvor auf seinen Ästen und Zweigen Platz genommen haben, reisen unverändert mit. Manchmal aber verändert sich sein Baumkörper so sehr, dass er sich kaum wieder zu erkennen vermag. Sein Stamm hat auf einmal eine andere Farbe angenommen, ist schlanker, breiter, kürzer oder höher als sein Stamm als Parkbaum. Seine Blätter haben nun eine andere Form und sind nicht mehr grün, sondern violett, gelb, rot, orange oder sogar blau. An seinen Ästen und Zweigen wachsen unterschiedliche Früchte, darunter Kokosnüsse, Bananen, Kirschen, Äpfel, und Birnen. Und selbst die kleinen Vögel aus dem Park, die in seiner Krone mit ihm gereist sind, haben ein neues Gesicht erhalten, sich in Papageien, Kolibris, Pfirsichköpfchen, Kanarienvögel, Tukane, Zebrafinken und Paradiesvögel verwandelt. Baum fragt sich, ob sie davon etwas bemerken. Doch sie scheinen sich nicht darum zu kümmern und singen ihre Lieder so fröhlich wie zuvor, wenn auch mit veränderter Stimme. Das Einzige, was sich verändert hat, ist ihre äußere Gestalt. Im Wesen sind sie dieselben geblieben.
Baum liebt das Reisen an andere Orte, da ihm dies die Möglichkeit bietet, seinen angestammten Platz im Park zu verlassen, den er seit achthundert Jahren bewohnt und wie seine Westentasche kennt. Nicht, dass er seinen Platz im Park nicht mögen oder gar den Wunsch verspüren würde, ihn dauerhaft verlassen zu wollen. Hier fühlt er sich sehr wohl. Er liebt sein Zuhause im Park. Es ist still und friedlich. Er bekommt das genau richtige Maß an Sonne und die notwendige Menge an Regen ab, um weiterhin wachsen und gedeihen zu können. Niemand stört ihn. Er kann das Treiben im Park in aller Ruhe mit seinen vielen Augen beobachten und darüber nachsinnen. Tags kommen immer Menschen in den Park, oft solche, die er schon kennt. Sie scheinen Gefallen am Park und an Baum gefunden zu haben und suchen ihn immer wieder auf. Manche setzen sich auf die Bank vor Baum oder umarmen ihn sogar. Das sind die schönsten Momente in Baums Leben. Er lernt von den Menschen viel über die Welt und das Dasein und sendet ihnen aus seinem tiefsten Baumherzen heraus Liebe, um ihnen den Tag zu versüßen und sie ihre Sorgen vergessen zu lassen.
Manchmal sieht Baum im Park auch neue Gesichter und freut sich darüber, dass weitere Menschen den Weg hierher finden, in diese Oase der Entspannung und Erholung, die Baum mit seinem Wesen bereichert. Er erblickt von Zeit zu Zeit auch neue Tiere, die sich im Park und auch in Baum selbst ein Zuhause einrichten. Einmal hatte in seinem Stamm ein Eichhörnchen gewohnt. Die Erinnerung an ihre fröhliche Lebensgemeinschaft macht ihn heute noch glücklich. Es war ihm eine große Freude, dem Eichhörnchen und seinem Nachwuchs eine Behausung und Schutz vor anderen Tieren bieten zu können. Eines Tages waren die kleinen Eichhörnchen herangewachsen und hatten allesamt Baum verlassen. Von Zeit zu Zeit kommen sie ihn aber noch besuchen und erzählen ihm Geschichten aus ihrem bewegten Leben, während Baum schweigend da steht und ihnen staunend zuhört.
Gelegentlich juckt Baums Stamm, weil sich Insekten darauf niederlassen und herumkrabbeln. Das ist furchtbar kitzelig und bringt Baum zum Lachen, so dass er es nicht lassen kann, unentwegt seine Blätter rascheln zu lassen, was Verwunderung bei den Menschen auslöst, die sein Lachen nicht hören und keinen Wind vernehmen, der seine Blätter bewegt. So sehr Baum das Lachen in seiner tiefsten Baumseele auch genießt, so dankbar und erleichtert fühlt er sich dennoch, wenn ein Specht vorbeigeflogen kommt und die Insekten von ihm herunter pickt.
Nachts schlafen die kleinen Vögel geborgen in seiner Krone und singen ihm im Traum ein zauberhaftes Lied, das Baum sanft in den Schlaf wiegt. Sobald er die Augen schließt und den Vogelstimmen folgt, reist Baum an einen anderen Ort in eine andere Zeit oder Welt oder auch in eine Dimension jenseits von Zeit und Raum. Baum hat den Tag in stetiger Erfüllung verbracht und freut sich nun darauf, mit seinem bewussten Sein andere Gefilde zu betreten und neue Erfahrungen zu machen, die ihm zu neuen Erkenntnissen verhelfen.
Bei seiner heutigen Traumreise steht Baum als Palme an einem tropischen Strand. Das Blau des Meeres, der weiche Sand, die unzähligen Pflanzen, die vielen bunten Vögel - alles erstrahlt in ungewöhnlich stark leuchtenden Farben. Vielleicht mag das an der Sonne liegen, die hier mit einer höheren Intensität vom Himmel herab scheint als im Park und die gesamte Szenerie in ihr funkelndes Licht taucht. Vielleicht ist es auch der anmutige Gesang der exotischen Vögel, der Baum die Welt mit anderen Augen sehen lässt. Oder aber die Berührung des samtenen Sandes, der sich um seinen Stamm herum anschmiegt, versetzt ihn in einen Zustand, in welchem er die Schönheit der Welt in ihrer Vollkommenheit erfährt.
Baum ist schon an viele Orte gereist. Er war auf Bergen und in Tälern, an Seen und Flüssen, in Wäldern und Städten. Doch nirgendwo war es so schön wie hier. Die unberührte Natur läd ihn geradezu zum Verweilen ein und er genießt es aus tiefster Baumseele heraus, hier zu sein.
Ein Schmetterling flattert heran und setzt sich auf einem von Baums Blättern nieder. Baum heißt seinen neuen Freund willkommen und lächelt ihm im Herzen zu. Der Schmetterling fühlt sich sehr wohl in Baums Nähe und schließt seine Augen, um ein Nickerchen zu machen. Während Baum ihm selbstvergessen beim Träumen zuschaut, wird auch er müde und fällt in tiefen Schlaf, um dem Schmetterling ins Land der Träume zu folgen und ihn dort beim freien Flug über das weite Meer zu begleiten.
Texte: © Träumerin
Tag der Veröffentlichung: 14.04.2022
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