Als meine Freundin aus ihrem Urlaub auf den Kanarischen Inseln zurückkehrte, brachte sie ein sonderbares Bild mit, das während ihrer Reise auf ungewöhnliche Weise in ihren Besitz gelangt war. Sie hatte es bei einem Einkaufsbummel durch die Stadt zufälligerweise in der dunklen Ecke eines kleinen Antiquariats entdeckt. Vergessen stand es dort in einer Nische zwischen der Wand und einem altertümlichen Schrank. Neugierig zog sie es heraus und wischte mit der Hand vorsichtig, um es nicht zu beschädigen, die dünne Staubschicht vom Gemälde.
Ein riesiger Baum mit kräftigem Stamm und leuchtend grünen Blättern war darauf zu sehen. Offensichtlich stand er in einem Park. Auf seinen Ästen und Zweigen hatten sich unzählige kleine Vögel niedergelassen. Auch wenn das Bild keinen Laut von sich gab, glaubte meine Freundin fast, die Vögel singen hören zu können. So klar und deutlich, um nicht zu sagen realistisch, war die Szenerie auf dem Gemälde dargestellt. Der Künstler, der es gemalt hatte, verfügte über ein nahezu überirdisches Talent und sie hätte zu gerne seinen Namen in Erfahrung gebracht. Doch leider enthielt das Bild keine Signatur. Zutiefst beeindruckt von seinem Werk ging sie, das Bild in den Händen haltend, zur Kasse.
„Hallo. Dürfte ich Ihnen eine Frage stellen?“ Wandte sie sich an die Verkäuferin, eine Dame in den späten Fünfzigern.
„Aber selbstverständlich.“ Gab diese zur Antwort.
„Von welchem Künstler stammt dieses wunderschöne Gemälde?“
„Oh, da kann ich Ihnen leider nicht weiter helfen, tut mir Leid. Mit Kunst kenne ich mich überhaupt nicht aus.“
„Schade. Ich würde das Bild trotzdem gerne mitnehmen. Wie viel kostet es?“
Die Verkäuferin musterte meine Freundin einen Augenblick lang, ließ ihre Augen dann zum Bild wandern und sah anschließend erneut meine Freundin an, wobei sie ein nachdenkliches Gesicht machte.
„Wissen Sie was.“ Brachte sie schließlich heraus. „Nehmen Sie es umsonst mit, wenn sie wollen. Das Bild liegt hier schon so lange herum und niemand interessiert sich dafür. Eigentlich ist es nichts wert und hätte längst weg geschmissen werden sollen.“
Über diese Antwort war meine Freundin höchst erstaunt, da ihr das Gemälde sehr kostbar zu sein schien. Der Baum mitsamt den kleinen Vögeln auf ihm wirkte außergewöhnlich lebendig. Sie rechnete jeden Moment damit, dass sich seine Blätter im Wind wiegen und mit einem leisen Rascheln den zarten Gesang der Vögel begleiten würden. Doch sie war schließlich glücklich darüber, für dieses unbeschreiblich schöne Bild nichts bezahlen zu müssen. Also bedankte sie sich, wünschte der Verkäuferin alles Gute und verließ das Antiquariat.
In ihrem Hotelzimmer angekommen, stellte sie das Bild an die Wand und setzte sich ihm gegenüber aufs Bett, um das Kunstwerk in aller Ruhe noch einmal in Augenschein zu nehmen. Es war bereits Abend geworden und die Sonne im Begriff, hinter dem Horizont zu versinken. Eine frische Brise wehte durch das geöffnete Fenster herein und ließ den dünnen hellblauen Vorhang im Wind tanzen.
Von den Farben auf dem Gemälde ging ein geheimnisvolles Leuchten aus. Erst dachte meine Freundin, sie würde sich das nur einbilden. Doch das bunte Licht strahlte mehr und mehr aus dem Bild heraus und tauchte das Hotelzimmer zunehmend in seine Farben.
Gleichzeitig zog das Bild meine Freundin magisch an und in sich hinein, wie ein Sog, gegen den sie sich zu wehren nicht im Stande war. Die Gedanken in ihrem Kopf lösten sich allmählich in Luft auf. Sie war sich kaum dessen bewusst, was sie tat. Es zog sie unaufhaltsam in eine andere Dimension jenseits ihrer Wirklichkeit hinein und zum Baum auf dem Bild hinüber.
Sie erhob sich vom Bett und ging dem Baum Schritt für Schritt entgegen. Er wirkte so echt, plastisch, als würde er, zum Greifen nah, mitten im Raum stehen. Seine grünen Blätter bewegten sich sanft, als der Wind, der durch das Fenster hereinwehte, sie berührte. Meine Freundin konnte ein leises Rascheln, das von ihnen ausging, vernehmen. Im nächsten Moment hörte sie auch schon die Baumvögel singen, erst ganz leise und mit jedem ihrer Schritte Richtung Baum immer lauter werdend. Der Wind streifte ihre Haut und schob sie mehr und mehr dem Baum entgegen, der sie zu sich in seine geheime Welt hinter dem Bild einzuladen schien.
Bald schon stand sie direkt vor ihm und spürte, wie von ihm Wellen der Liebe und des Friedens ausströmten, die ihr Herz berührten und ihre Seele ausfüllten. Die Melodie, welche durch das Rascheln der Blätter und das Singen der Vögel erzeugt wurde, drang bis in ihr tiefstes Innerstes vor und schwang dort eine Saite an, die, vor langer Zeit in Vergessenheit geraten, geduldig darauf gewartet hatte, wieder in ihr zu erklingen. Als die freudigen Töne in ihrem Herzen mit dem Gesang der Vögel und dem Blättergeraschel eins wurden, spürte sie eine friedvolle Verbundenheit mit allem um sich herum, die bis in die unergründlichsten Weiten des Alls hinaus reichte und die Gemüter der Wesen in den entferntesten Galaxien mit ihrem Zauber berührte, wodurch auch in ihnen Funken der Hoffnung und der Zuversicht entfacht wurden. Wie ein Lauffeuer machte die himmlische Melodie mit unbändiger Kraft ihre Runde durch das gesamte Universum, so dass schließlich alles in blendend hellem Licht erstrahlte. Das Licht hatte gesiegt und die Mächte der Finsternis an den Rand des Universums verbannt, wo sie nun, ihrer Kraft beraubt, in tiefen Schlaf versanken.
Plötzlich wachte meine Freundin in ihrem Bett auf. War dies alles etwa nur ein Traum gewesen? Nein, das konnte nicht sein. Dazu hatte sich ihr ungewöhnliches Erlebnis viel zu real angefühlt. Realer als die Realität selbst, die sie bislang gekannt hatte.
Als sie einen Blick auf das Gemälde warf, stellte sie fest, dass das eigentümliche Leuchten aufgehört hatte. Der Baum stand reglos in seliger Ruhe an seinem Platz im Park, umringt von den bunten kleinen Vögeln, die es sich auf seinen Zweigen gemütlich gemacht hatten. Kein Laut drang aus dem Bild zu ihr herüber. Doch in ihrem Inneren konnte sie die lichtvolle Melodie, welche sie zusammen mit den anderen Wesen erschaffen hatte, nach wie vor hören. Diese würde bis in alle Unendlichkeit durch die Weiten des Alls schweifen und die Seelen aller Planetenbewohner aus ihrem Traum zu neuem Leben erwecken.
Damit auch mir diese wundervolle Erfahrung zu Teil wird, hat mir meine Freundin das Gemälde geschenkt. Ich nehme die eingerahmte Schwarz-Weiß-Aufnahme von New York, die seit etlichen Jahren über meinem Schreibtisch hing, von der Wand, und hänge stattdessen das farbenfrohe Baumbild auf. Heute Abend, wenn die Sonne untergeht, werde ich mich auf die Reise in die Realität jenseits des Bildes begeben. Baums Welt wartet auf mich schon sehr lange, das spüre ich. Jetzt bin ich endlich dazu bereit, in sie einzutreten, voller Vorfreude darauf, was ich dort erleben werde.
Texte: © Träumerin
Tag der Veröffentlichung: 14.04.2022
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