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Baum und der Künstler

 An einem sonnigen Tag im Monat Juni kam ein großer Mann mit seinem kleinen Sohn in den Park. Baum sah sie von Weitem gemütlich in seine Richtung schlendern. Der große Mann wirkte etwas erschöpft und schaute oft zum Boden herab, während der kleine Junge munter den Weg entlang hüpfte, sein Gesicht der Welt zugewandt. 

 

"Schau mal, Papa, was dort für ein schöner großer Baum steht!" Rief der kleine Junge mit Begeisterung in der Stimme.

Der Mann schaute vom Boden auf und erblickte Baum.

"Du hast Recht, mein Sohn. Dieser Baum ist wirklich ein seltenes Prachtexemplar." Sagte der Mann.

Der kleine Junge rannte nah an Baum heran, umarmte ihn fest und schaute mit leuchtenden Augen hoch hinauf in seine Krone, als würde er ihm ins Gesicht blicken.

"Schau her, Papa, was für einen kräftigen Stamm er hat und wie grün seine Blätter sind!"

"Ja, mein Sohn. Dieser Baum ist wirklich beeindruckend. Er mag einige Jahrhunderte auf seinem Buckel haben."

Der Junge lief ein Mal um den Baum herum, schaute sich Baum dabei genau an. Als er wieder neben seinem Vater stand, sagte er verwundert:

"Papa, der Baum hat aber doch gar keinen Buckel. Wie kann er nur so gerade stehen, wenn er schon so alt ist? Oma ist doch noch keine hundert Jahre alt und ihr Rücken ist krumm wie eine Gurke. Ohne Stock kann sie gar nicht mehr gehen."

"Oma ist ja auch ein Mensch und kein Baum. Menschen altern schneller als Bäume und bekommen einen krummen Rücken." Erklärte ihm sein Vater.

"Warum ist das so?" Fragte der kleine Junge neugierig.

"Das weiß ich nicht, mein Sohn. Wahrscheinlich muss das einfach so sein."

 

Doch der kleine Junge spürte, dass das nicht stimmte und dass sein Vater einfach nicht wusste, warum Bäume länger lebten und dabei einen geraden Stamm behielten, während Menschen früher und buckelig in den Himmel reisten. Daher beschloss er, Baum selbst zu fragen. Er blickte zu ihm mit großen Augen hinauf.

"Hallo Baum, warum bist du so groß und stark?"

"Aber mein Sohn, was tust du da?" Schrie sein Vater entsetzt. "Du kannst doch nicht mit einem Baum sprechen. Was sollen die Leute denn denken, wenn sie dich mit ihm reden hören?"

Der kleine Junge war verwirrt.

"Was ist denn daran schlimm, Papa?"

"Mit Bäumen spricht man einfach nicht. Sie stehen nur rum und sind stumm."

 

Der kleine Junge wusste, dass das nicht stimmte. Baum sprach sehr wohl zu ihm und hatte viele Geschichten zu erzählen. Doch die Menschen interessierten sich nicht für ihn und seine Geschichten. Sie schauten, wenn sie an ihm vorbei gingen, lieber auf ihre kleinen viereckigen elektronischen Geräte und tippten darauf herum, anstatt sich im Herzen mit Baum zu verbinden. Deswegen fühlte Baum sich etwas traurig und allein. Dem kleinen Jungen tat Baum Leid, wie er so einsam und verlassen dastand. Und er spürte, dass Baum ein großes gütiges Herz hatte. Also setzte er sich neben seinen Vater auf die Bank, die direkt vor Baum stand, und hörte seiner Baumseele zu.

 

"Danke, dass du hier bist, kleiner Freund." Flüsterte ihm Baum ins Ohr.

Der kleine Junge schaute zur Seite auf seinen Vater. Doch dieser hatte anscheinend nichts gehört. Mit geschlossenen Augen saß er da und ließ sich die Sonne ins Gesicht scheinen, während er sich mehr und mehr entspannte und sich vom Stress der anstrengenden Arbeitswoche reinwusch.

Der kleine Junge unternahm den Versuch, mit Baum zu sprechen, ohne seine Lippen dabei zu bewegen. Er dachte seine Worte und sendete sie Baum zu.

"Baum, kannst du mich hören?" Fragte er vorsichtig.

"Natürlich höre ich dich. Schön, dass du mich besuchen kommst."

Hoch erfreut darüber, dass es funktionierte, machte der kleine Junge weiter.

"Baum, warum bist du schon so alt und fliegst immer noch nicht in den Himmel?"

"Weil ich bereits im Himmel bin und der Himmel in mir ist, kleiner Freund."

Der Junge sann über seine Worte nach. 

"Und wie machst du das, im Himmel zu sein?"

"Das ist es ja, ich mache gar nichts. Ich bin einfach. Die Menschen denken oft, sie müssten etwas tun, um in den Himmel zu kommen. Und während sie am Tun und Machen sind, werden sie müde, alt und buckelig. Weil sie nicht wissen, dass sie bereits den Himmel in sich tragen oder genauer gesagt: Selbst der Himmel sind. Sie suchen etwas im Außen, das sie nur in sich selbst finden können. Wenn all ihre körperlichen Energiereserven verbraucht sind, fliegen sie in den Himmel zurück. Sie können es aber auch schon sehr viel früher und brauchen nicht dafür zu sterben, wenn sie die Tür zum Himmel in sich öffnen."

 

Der kleine Junge wusste, dass Baum die Wahrheit sprach.

Plötzlich bewegte sich sein Vater etwas neben ihm und gähnte leise. 

"Hmm, wie wäre es, wenn wir beide ein Bild zeichnen?" Fragte er.

"Ja, gerne, Papa. Du weißt doch, wie sehr ich das Zeichnen liebe."

Der Mann nahm aus seinem Beutel je einen Block Zeichenpapier, gab einen davon seinem Sohn und legte eine Schachtel Buntstifte auf die Bank zwischen ihnen.

"Was wollen wir heute zeichnen?" Fragte er.

"Jetzt zeichnen wir Baum." Gab sein Sohn entschlossen zur Antwort.

Der Mann lächelte. "Das habe ich mir schon gedacht, dass du den Baum zeichnen möchtest. Also gut, legen wir los."

 

So saßen sie beide nebeneinander und brachten jeder seine Version von Baum zu Papier. Der Mann war ohne jeden Zweifel ein begnadeter Künstler. Das Talent zum Zeichnen war ihm in die Wiege gelegt worden. Bereits, als er noch ein Kind war, bewunderten die Menschen seine Bilder und ihre Seelen atmeten bei ihrem Anblick auf. Später besuchte er über viele Jahre eine Zeichenschule, wo er unterschiedliche Zeichentechniken erlernte. Sein Stil nahm in all der Zeit an Präzision und Detailreichtum zu. Mit seinem geschulten Auge konnte er die kleinsten Dinge erkennen, die für andere auf den ersten Blick unsichtbar erschienen, und diese auf dem Papier wiedergeben. Doch je mehr er sich der exakten Wiedergabe der äußeren Beschaffenheit von Pflanzen, Tieren und Menschen zuwandte, desto mehr verließ der unergründliche Zauber, welcher die Seelen und Herzen der Menschen berührt hatte, seine Werke. Sie waren äußerlich bis ins kleinste Detail beschrieben und analysiert, ohne einen Hauch von Innenleben. Dadurch wirkten sie leblos und kalt, wie Objekte. Die Menschen wandten sich von seiner Kunst ab, was ihn verzweifeln ließ, weil ihm nicht bewusst war, woher diese Kehrtwende rührte. Er hatte sich doch in all den Jahren so viel Mühe gegeben und an seinem Stil gefeilt, sich unzählige Gedanken darüber gemacht, wie er ihn verbessern konnte...und daraufhin genau das Gegenteil von dem, was er tief in seinem Innersten wollte, erreicht.

 

"Papa, ich bin fertig mit meinem Bild!" Rief sein Sohn auf einmal freudig

"Na dann lass mal sehen, kleiner Mann."

Begeistert hielt ihm sein Sohn das Bild von Baum hin. Es war eine einfache Kinderzeichnung. Baum war schlicht mit den allernotwendigsten Strichen darauf abgebildet, gerade genug, um zu erkennen, dass es sich dabei um einen Baum handelte. Seinen Stamm hatte der kleine Junge mit einem braunen Buntstift ausgemalt. Im grünen Laub der Krone saß ein blauer Vogel mit geöffneten Schnabel, als würde er ein Lied singen. Um Baum herum hatte der Junge ein großes strahlendes Herz gemalt. 

 

Diese Zeichnung war, äußerlich betrachtet, alles andere als ein Kunstwerk im üblichen Sinne. Und doch trug sie den Zauber in sich, der es vermag, die Seelen und Herzen der Menschen zu berühren und sich an ihr wahres Wesen zu erinnern.

 

Der Mann saß schweigsam mit der Zeichnung in der Hand da und ließ sie auf sich wirken. In ihm war auf einmal alles still und ruhig geworden. Die Gedanken in seinem Kopf waren verstummt, der Sturm in seinem Inneren hatte sich gelegt. Als er das Rascheln der grünen Blätter in seinem Herzen vernahm und den blauen Vogel in seiner Seele singen hörte, erinnerte er sich daran, wie es war, im Himmel zu sein. Mit einem Lächeln der freudigen Erkenntnis auf den Lippen schloss er seine wachen Augen und flog mit dem singenden blauen Vogel in himmlische Gefilde davon.

Impressum

Texte: © Träumerin
Bildmaterialien: © Angelino Dali
Tag der Veröffentlichung: 14.04.2022

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