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Baums verzauberter Spiegel

Als ich am Wochenende auf dem Dachboden des alten Landhauses, das mir meine Großtante nach ihrem Tod vererbt hatte, aufräumte, fand ich dort einen sonderbaren Spiegel. Einsam und verlassen stand er hinter Kisten, von einem alten Laken zum Schutz vor Staub umhüllt. Eingefasst in einen Rahmen aus goldenen Blüten und Blättern, schien er aus einer anderen Epoche zu stammen. Er war so groß, dass ich mich darin komplett erkennen konnte, und wies trotz seines Alters keinerlei Gebrauchsspuren auf. Was mich jedoch am meisten an ihm faszinierte, war seine eigentümliche Ausstrahlung, die mich in den Bann zog.

 

Je weiter ich an den Spiegel heran ging, desto mehr regte sich ein Gefühl von Nachhausekommen in mir. Es fühlte sich für mich so an, als würde sich auf der anderen Seite des Spiegels ein mir sehr vertrauter Ort befinden, den meine Seele zwar seit Urzeiten kannte, der jedoch in Vergessenheit geraten war. Dieser Ort war nicht von dieser Welt, sondern lag irgendwo zwischen Traum und Wirklichkeit. Und dennoch erschien er mir in diesem Moment, wo ich vor dem nostalgischen Spiegel stand, zum Greifen nah.

 

Das leise Rauschen der Wellen, das aus dem Spiegel zu mir herüber drang, lockte mich näher. Die Welt auf der anderen Seite, meine einst verlorene Heimat, die ich durch einen unerwarteten Zufall nun wieder gefunden hatte, rief nach mir, lud mich zu sich ein. Zaghaft folgte ich ihrem Ruf, legte mein Ohr an die Spiegelfläche, um der Brandung zu lauschen. Mit geschlossenen Augen genoss ich das Lied, welches das Meer für mich sang, gab mich dem Spiel der Wellen hin, tauchte in sie hinein und aus ihnen wieder auf, sah die Sonne weit über mir stehen und spürte ihre Wärme auf meiner Haut.

 

So träumte ich vor mich hin, während ich, mein Ohr an den Spiegel gepresst, vor ihm stand. Ein Teil von mir war bereits hinüber geflogen, in mein verloren geglaubtes Paradies, hatte seine ersten Schritte dort schon getan. Doch als ich meine Augen wieder öffnete, war ich zurück im Hier und Jetzt, welches mir nach meinem kleinen Ausflug nun nicht mehr genügte und mein Wesen nicht mehr erfüllte. An diesem Ort konnte ich nicht mehr bleiben. Ich musste hinüber… Musste fort… Zurück nach Hause…

 

Eine leichte Brise umweht mich, während ich die geheimnisvolle Welt hinter dem magischen Spiegel betrete. An meinen Füßen spüre ich den weichen, von der Sonne erwärmten Sand, wie er bei jedem meiner Schritte durch meine Zehen rinnt. Vor mir am Strand steht eine Palme, auf deren Ästen viele bunte Vögel sitzen: Papageien, Tukane, Zebrafinken, Pfirsichköpfchen, Paradiesvögel, Kolibris und Kanarienvögel. Gemeinsam stimmen sie ein Lied von Liebe und Harmonie an, das mein Innerstes sanft berührt und mich all meine Sorgen und meinen Kummer vergessen lässt.

 

Ich falle am Ufer in den weichen Sand und schaue auf das Blau des Ozeans hinaus. Grenzenlos scheint er zu sein. Ein Ende kann ich nicht ausmachen. Sein Wasser strömt in leichten Wellen zu mir heran, um gleich darauf wieder entspannt in die Ferne zurück zu treiben. Ich weiß nicht warum, doch der Anblick der Wellen schenkt meiner Seele einen allumfassenden Frieden, den ich vorher niemals gekannt habe.

 

Langsam schließe ich, mich dem Gesang der Vögel und dem Rauschen der Wellen hingebend, meine Augen. Doch was ich hinter meinen geschlossenen Lidern erblicke, ist nicht abgrundtiefe Schwärze, sondern der Baum am Strand. Die Palme mitsamt ihrer gefiederten Musikanten, offenbart sich mir nun in ihrer wahren Gestalt. In Wirklichkeit handelt es sich nicht um eine Strandpalme, sondern um eine stattliche Eiche, die seit achthundert Jahren in einem Park steht und sich dort, umgeben von Menschen, Tieren und anderen Pflanzen, des Lebens erfreut. Tag für Tag beobachtet sie in sich ruhend das Treiben um sich herum und heißt unzählige Besucher willkommen, die an ihr vorbei schlendern oder sich auf die hölzerne Bank, die vor ihrem Stamm aufgestellt wurde, niedersetzen, um nach einem ausgedehnten Spaziergang oder einem anstrengenden Arbeitstag Entspannung zu finden. Die weise, alte Eiche schenkt ihren Besuchern aus ihrem tiefsten Baumherzen heraus alles, was sie benötigen, um zu neuer Kraft und Leichtigkeit zurück zu finden, und wird dafür reich beschenkt, mal mit einem freudvollen Lächeln, ein anderes Mal sogar mit einer liebevollen Umarmung, woraufhin sie die leuchtend grünen Blätter an ihren Zweigen zum Dank leise rascheln lässt.

 

Hier an ihrem angestammten Platz im Park empfindet die Eiche – ich möchte sie von nun an einfach „Baum“ nennen – grenzenlose Glückseligkeit, da alles um sie herum in Einklang ist und Ausgewogenheit zwischen Geben und Nehmen besteht. Die vielen kleinen Parkvögel, darunter Meisen, Drosseln, Amseln und Finken, erfreuen Baum jeden Tag aufs Neue mit ihren anmutigen Liedern. In Frühlingsnächten lässt sich so manches Mal eine Nachtigall in seiner Krone nieder und wiegt ihn mit ihrem himmlischen Gesang sanft in den Schlaf, woraufhin Baum sich im Traum in anderem Gewand an anderen Orten wieder findet. Heute träumt er davon, eine Palme am tropischen Strand zu sein, und nimmt mich mit auf die Reise in seine wundersame Welt hinter dem verzauberten Spiegel, auf der ich ihn gerne begleite.

 

Baum fühlt sich, anders als ich, überall zu Hause. Ob er sich als Eiche im Park, als Palme am Strand oder als Tanne in den Bergen aufhält – es macht für ihn keinen Unterschied. Die Vögel auf seinen Ästen und Zweigen reisen stets mit ihm zusammen und passen dabei ihre äußere Gestalt ebenso den neuen Gegebenheiten an, ohne ihr wahres Wesen dadurch zu verlieren. Sowohl Baum selbst als auch seinen gefiederten Freunden bereitet es unfassbare Freude, die Welt auf diese Weise zu erkunden.

 

Ich bin dankbar dafür, dass ich auf ihrer heutigen Traumreise dabei sein darf. Denn tief in mir spüre ich, dass ich viel von Baum lernen kann. Schließlich hat er in seinem achthundertjährigen Dasein auf diesem Planeten bereits die unglaublichsten Dinge gesehen und erlebt, die sich Ring um Ring in sein Stamminnerstes eingeprägt haben. Die vielen Erfahrungen, aus denen er gelernt hat, haben ihn nicht nur groß und stark, sondern auch weise werden lassen. Egal wo er auch sein mag und was um ihn herum geschieht, ob die Sonne vom blauen Himmel hernieder scheint und seine Blätter in ihren Strahlen leuchten lässt oder ob ein Sturm seinen kräftigen Stamm umweht, seine Zweige im Wind schüttelt und der Regen wie aus Eimern auf ihn hernieder prasselt – er bewahrt stets seine Baumseelenruhe und lässt die Dinge geschehen, ist dankbar für jeden einzelnen Moment und im Frieden mit sich und der Welt.

 

Heute bin ich Baums Gast und lausche seinen klugen Worten, die im Rascheln seiner Blätter zart erklingen. Leise dringen sie in meine Seele vor und wecken jenen Teil in mir auf, der seit Jahren und Jahrzehnten in Schlaf gehüllt war. Schicht um Schicht löst sich durch die Melodie der raschelnden Blätter, vereint mit dem Chor der Vögel und der Hymne des Meeres, die Müdigkeit in meinem Inneren auf. Langsam werde ich wach und spüre, dass sich etwas verändert hat, in mir und auch um mich herum.

 

An meinem Rücken sind Schmetterlingsflügel gewachsen, die mich sanft emporheben und im leichten Flug Baums üppiger Krone entgegen tragen. Nachdem ich dort, mit meinen Fühlern Baums Zweige und Blätter streichelnd, ein Weilchen verweilt bin, zieht es mich weiter nach oben, in das strahlende Blau des Himmels hinauf. Baum schaut mir hinterher, während ich ihm mit meinen Flügeln zum Abschied winke.

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Texte: © Träumerin
Tag der Veröffentlichung: 13.04.2022

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