Langsam öffne ich meine Augen. Über mir sehe ich unzählige Sterne am tiefblauen Nachthimmel leuchten. Jeder davon hat seine eigene Geschichte und sendet seine persönliche Botschaft in die grenzenlosen Weiten des Alls. Wenn wir ganz leise sind und unsere Ohren gut genug spitzen, können wir die Sterne von fernen Welten erzählen hören. Doch ich ziehe es im Moment vor, einfach die Stille zu genießen.
Moment mal... Wo bin ich hier überhaupt? Und was ist passiert? Wie komme ich hierher? Mit eingeschalteter Taschenlampe suche ich in den Gängen meines geistigen Labyrinthes nach der Antwort auf meine Fragen. Tiefer und tiefer krame ich in meinem Gedächtnis. Da muss doch irgendwas sein, das mir weiterhilft... Das kann doch unmöglich alles aus dem Nichts heraus entstanden sein. Oder doch?
Moment... Das Nichts... Ich erinnere mich an diesen Ort. Dort bin ich gewesen, kurz bevor ich hierher kam. Erst flog ich frei wie der Wind durch diesen endlos scheinenden langen schwarzen Tunnel. Dort gab es tatsächlich nichts…außer Dunkelheit und Schwärze. Einige von euch werden nun meinen: "Dunkelheit und Schwärze - das ist doch auch etwas. Was schwafelst du da also von einem Nichts, wenn da sehr wohl etwas ist?" Doch sobald ihr diese Erfahrung einmal selbst macht, werdet ihr wissen, was ich mit diesem so genannten Nichts meine. Und, dass sich das Etwas manchmal wie ein Nichts anfühlen kann und das Nichts wie ein Etwas. (Vielleicht sollte ich zum näheren Verständnis ein kleines Beispiel mit einem Vergleich anführen: Die irdische Welt ist voll von Nichtigkeiten, die vielen Menschen, oberflächlich betrachtet, sehr viel bedeuten. Dinge, die man nicht braucht, um glücklich zu sein, und die dennoch viele Leute haben wollen, weil sie denken, diese Dinge würden sie glücklich machen. Und wenn in der irdischen Welt, so gesehen, ein Nichts ein Etwas sein kann - warum sollte dann in einer anderen Dimension ein Etwas kein Nichts sein können? Es ist alles eine Frage der Wahrnehmung. Soviel dazu.)
Ich kann mich glücklich schätzen, dass ich die Dunkelheit mag und mich nicht vor ihr fürchte. Sonst wäre ich im dunklen Tunnel vor lauter Angst vermutlich gestorben.
Gestorben? Jetzt klingelt es in meinen Ohren. Wie Engelsglöckchen. Das hilft meiner Erinnerung auf die Sprünge. Auf einmal war der Flug durch den Tunnel vorbei und an seinem Eingang (oder Ende?) sah ich strahlendes Licht. Es schien heller als tausend Sonnen, blendete mich jedoch nicht im Geringsten. Es strahlte so viel Wärme und Liebe aus, dass ich total überrumpelt war und es mich direkt vom Hocker gerissen hätte, würde ich auf einem sitzen. Doch ich saß nicht (ein Hocker war sowieso nicht da), sondern schwebte. Einfach so in der Luft. Wie ein Geist. Womöglich war ich einer.
Als ich dem strahlenden Licht näher kam, sah ich einen Engel darin stehen, der mich freundlich anlächelte und mir zuwinkte. Jetzt fragt ihr euch vielleicht, woher ich wusste, dass es ein Engel war. Nun ja, er trug ein weißes Gewand, hatte langes blondes Haar und große Flügel auf dem Rücken, wie ein Schwan. Zum anderen hatte er eine so wohlwollende Ausstrahlung, dass es unverkennbar ein Engel sein musste. Auf Erden begegnet man solch einem Wesen jedenfalls nicht (die Menschen machen oft solch griesgrämige, unzufriedene Gesichter und rempeln einander missmutig auf der Straße an). Und um ganz genau zu sein, war es kein Er, sondern eine Sie.
Ich schwebte die letzten paar Meter mit Freude und Neugier auf dieses himmlische Wesen zu. Als ich vor der Engelsfrau stand, sah ich in ihre strahlend blauen Augen, die mich liebevoll und mitfühlend anblickten. Sie reichte mir ihre Hand und ich nahm sie in die meine.
In dem Moment, als wir uns berührten, geschah etwas Unbeschreibliches mit mir. Plötzlich fühlte ich mich mit der Engelsfrau so stark verbunden, als würden wir eine Einheit bilden. Als gäbe es keine Grenzen zwischen ihr und mir. Als wären wir ein und dasselbe Wesen. Das war schon ziemlich abgespaced. Aber überaus interessant. Und es fühlte sich wirklich gut an, vermutlich weil es sich bei der Engelsfrau um ein reines, himmlisches Wesen handelte. Ich wollte gar nicht näher darüber nachdenken, wie ich mich wohl gefühlt hätte, wäre ich von einem Dämon (welchen es aber hier zu meinem Glück anscheinend nicht gab) berührt worden. Vermutlich wäre ich dann aus allen Wolken gefallen. Doch zum Nachdenken blieb mir sowieso keine Zeit und für trübe Vorstellungen schon gar nicht.
...denn ich trat hinaus in eine wunderschöne, helle, farbenfrohe, von Licht durchflutete Welt. Hier wuchsen unterschiedliche Arten von Pflanzen in Hülle und Fülle. Es sah aus wie im Dschungel, nur ohne Spinnen, Schlangen und anderes unliebsames Getier und Gewürm...das mir Gott sei Dank erspart blieb. Die Bäume, Sträucher und Blumen leuchteten aus ihrem Inneren heraus und tauchten alles in ein kunterbuntes Lichtspiel. Vögel flogen zwischen den Ästen singend und zwitschernd hin und her. Frieden lag in der Luft. Ich musste im Paradies sein.
Die Engelsfrau geleitete mich durch diese Welt, ohne ein Wort zu sagen. Ich hatte so viele Fragen, dass ich nicht wusste, wo beginnen. Zugleich gab es so viel zu sehen und zu hören, das mir die Sinne beinahe schwanden. Ich war überwältigt von der Schönheit und Erhabenheit dieses Ortes. Einige Zeit lang gingen meine Gefährtin und ich schweigend Hand in Hand nebeneinander her.
Schließlich tat sich eine Lichtung im Urwald auf. Und auf dieser Lichtung stand ein kleines Holzhaus mit Garten, Brunnen und Pavillon. Alles wirkte wie neu, unbenutzt. Wir schlenderten zu Letzterem hinüber und setzten uns hinein. Der Pavillon hatte einen weißen Anstrich und ein rotes Dach. Als wir uns gegenüber saßen, vernahm ich auf einmal die Stimme der Engelsfrau. Ohne dass sie dabei ihre Lippen bewegte und einen Laut von sich gab. Sie schaute mich mit ihren sanften blauen Augen an und blickte dabei durch mich hindurch, bis in mein tiefstes Inneres. Ich hörte ihre Stimme in meinem Kopf. Während sie "sprach" leuchtete auf ihrer Stirn oberhalb ihrer wohlgeformten Augenbrauen etwas Blaues auf, wie so eine Art Sensor. An der gleichen besagten Stelle an meiner Stirn spürte ich einen leichten Druck und es wurde warm. Das musste Telepathie sein.
"Fühl dich hier herzlich willkommen. Das ist dein neues Zuhause. Du wirst hier eine Weile leben. Aber nur vorübergehend. Entspann dich und erhol dich gut. Tu den lieben langen Tag, was du willst und was dein Herz begehrt. Bade dich unterm Wasserfall, schwimm mit den Delphinen oder höre dem Gesang der Vögel zu. Du hast hier alle Zeit der Welt...denn hier gibt es keine Zeit."
Na das klang doch wunderbar. Klagen konnte ich nicht.
"Schön, dass du damit einverstanden bist und es dir hier gefällt."
Die Engelsfrau schenkte mir ein Lächeln.
Ups, sie hatte also meine Gedanken gehört. An diese Art der Kommunikation musste ich mich wohl erst noch gewöhnen. Hier konnte man anscheinend nichts für sich behalten. Oder aber ich wusste als Neuankömmling noch nicht, wie.
"Darf ich dir ein paar Fragen stellen?" Dachte ich laut.
"Ja natürlich." Erwiderte Angelina (wie ich sie heimlich bei mir nannte - insofern man an diesem Ort Heimlichtuerei betreiben konnte, da schließlich jeder einzelne Gedanke laut wurde, so leise und heimlich er auch sein mochte).
"Was ist das hier für ein Ort? Und warum bin ich hier?"
"Das ist das Jenseits. Das Paradies. Deine Seele hat deine physische Hülle verlassen, als der Moment dafür gekommen war, und ist hierher gereist, um sich von deinem letzten irdischen Leben zu erholen. Eine Pause einzulegen. Kraft zu tanken. Pläne für deine kommende irdische Erfahrung zu schmieden."
Jetzt erinnerte ich mich, was mir kurz zuvor auf der irdischen Ebene widerfahren war. Der Blitz hatte mich getroffen, und ich fiel auf der Stelle tot um. So was kann durchaus hin und wieder vorkommen, wenn man es sich mit aufgespanntem Regenschirm bei Starkregen und Gewitter unter einem Baum gemütlich macht. So was Dummes aber auch. Und dass nur, um nicht nass zu werden. Als wäre ich aus Zucker.
Wie dem auch sei – nun war ich hier.
Wenn auch die Pflanzen prächtiger und die Farben leuchtender waren, erinnerte mich die Szenerie etwas an das Naturschutzgebiet, das ich zu Lebzeiten auf Erden nahezu jedes Wochenende besucht hatte, um mich vom hektischen Treiben mitsamt seinen Menschenmassen, Umweltgiften und Lärmerzeugern der Großstadt zu erholen. Mit den letzten Kraftreserven, die mir von meinem unliebsamen Vollzeitjob plus chronisch unbezahlte Überstunden blieben, setzte ich mich jeden Samstag und zuweilen auch Sonntag in die Bahn Richtung Freiheit, Ruhe und Unbegrenztheit. Und diese fand ich jedes Mal wie ein unausgesprochenes Versprechen in der Natur.
Bei Regen, Schnee und Sonnenschein wanderte ich stundenlang durch das menschenlose Gehölz, setzte mich hier und da auf einen Baumstamm oder auf die Wiese, schloss die Augen, hörte den Vögeln zu, genoss die menschenleere Stille, die mich umgab. Meine Seele kehrte allmählich zu mir zurück. Ich konnte mich wieder spüren. Und versank in innere Wahrnehmung, begleitet von den Rufen der Vögel und dem Rauschen des Windes in den Blättern der Bäume. Hier war ich zu Hause. Wirklich zu Hause. Am liebsten hätte ich im Wald eine Hütte aufgestellt und wäre darin eingezogen.
Jetzt lebte ich tatsächlich in einer Hütte. Mitten im Paradies.
Eine sanfte Berührung am Arm riss mich aus meinem Tagtraum.
"Ich muss nun gehen. Doch wenn du mich brauchst, werde ich bei dir sein. Wir sind immer miteinander verbunden. Denke an mich - und ich bin da."
Ich schaute Angelina zu, während sie sich buchstäblich in Luft auflöste. Ihre strahlend blauen Augen und der Sensor verschwanden ganz zuletzt. Weg war sie, und ich war wieder allein. Doch das machte mir nichts aus. Ich liebe das Alleinsein.
In den kommenden Tagen schaute ich mir die Umgebung genauer an. Spazierte durch den Wald, schnupperte an den vielen bunten Blumen, deren köstliches Aroma in der Luft lag, streichelte Kaninchen, die mir entgegen gehoppelt kamen, schwamm mit den Delphinen. Ein Urlaub auf den Malediven hätte nicht schöner sein können. Und kostengünstiger schon gar nicht.
Ich fragte mich, womit ich das Leben im Paradies verdient hatte. Ein ganz gewöhnlicher Mensch war ich zu Lebzeiten gewesen. Doch vielleicht brauchte man sich das Leben im Paradies gar nicht zu verdienen. Und vielleicht sieht das Paradies jeder Seele anders aus. Womöglich genügt es, das Paradies in sich selbst wahrzunehmen, so intensiv und so konsequent, bis es eines Tages auch in der Außenwelt Gestalt annimmt.
Doch dazu braucht man nicht zu sterben. Und wenn man stirbt, ist das womöglich keine Garantie dafür, dass man an einen so schönen Ort wie diesen gelangt. Denn wenn es Engel gibt, wie ich ja nun mit eigenen Augen gesehen habe, dann mag es vielleicht auch Dämonen geben, die an finsteren, ungemütlich kalten oder unerträglich heißen Orten hausen und dort ihr Unwesen treiben.
Deshalb bleibt man besser auf Erden und bei Gewitter zu Hause. Denn wo das Leben nach dem Leben weitergeht, das sieht man erst dann, wenn es zu spät ist. Dann bleibt einem nichts anderes übrig, als zu nehmen, was man bekommt. Ohne dass es ein Zurück gibt. Meine Geschichte ist nur mein persönliches Erlebnis, meine eigene Erfahrung und meine individuelle Wahrnehmung. Und diese mag von Seele zu Seele zuweilen sehr unterschiedlich ausfallen.
Nun war ich also angekommen, im Garten meiner Träume. Bei meinen Erkundungsausflügen konnte ich bislang keine weitere Menschenseele entdecken. Hier scheine ich ganz allein zu sein, fühle mich aber alles andere als einsam. Die Natur verzaubert mich jeden Tag aufs Neue mit ihrer Pracht. Eichhörnchen und andere Tiere kommen mich besuchen. Kanarienvögel erfreuen mich mit ihrem Gesang.
Es ist hier so friedlich, in meiner kleinen, traumgleichen Welt. Hier, auf meinem blühenden Stern, bin ich Seele…bin ich frei.
Texte: © Träumerin
Bildmaterialien: © Träumerin
Cover: © Träumerin
Tag der Veröffentlichung: 15.02.2022
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