Abends komme ich in dem kleinen Städtchen an und schaue mich um. Der Bahnsteig ist menschenleer. Allein bin ich hier ausgestiegen und genieße die Abenddämmerung. Die untergehende Sonne hat den Himmel in Pastelltöne getaucht, die ihn in orange, rosa, gelb und einem zartem Blau erstrahlen lassen, das meine Seele sanft berührt. Ich atme erleichtert auf. Die Reise war lang und anstrengend. Doch nun bin ich endlich an den Ort meiner Bestimmung gelangt. Wie es weitergeht und wohin mein Weg mich führt, das ist für mich noch unklar. Doch ich bin mir sicher, dass sich mir dies zeigen wird, sobald die Zeit dafür gekommen ist.
Der Zug fährt langsam ab. Es ist kein moderner Zug, sondern eine alte Dampflokomotive. Rauch steigt aus ihr auf. Ich kann nicht erklären, warum – doch es wundert mich nicht im Geringsten, dass ich mit diesem altertümlichen Zug hierher gefahren bin. Es erscheint mir ganz natürlich. Die Lokomotive nimmt mehr und mehr an Tempo zu, bis sie den Bahnsteig verlässt. Während ich der immer kleiner werdenden und schließlich am Horizont verschwindenden Lokomotive nachschaue, sinne ich darüber nach, ob es einen Zug gibt, der mich zu meinem Zuhause zurückfährt. Doch dann wird mir bewusst, dass es so einen Zug gar nicht geben kann. Denn mein Zuhause befindet sich an keinem anderen Ort der Welt als genau hier, wo ich jetzt stehe. Ich bin bereits angekommen. Und obwohl ich vorher noch nie an diesem Ort gewesen bin, fühlt er sich für mich unendlich vertraut an, wie ein Teil meines tiefsten Inneren.
Während ich den Anblick der hinter den Berggipfeln untergehenden Sonne genieße und die nach Sommerblumen duftende Luft einatme, stelle ich fest, wie still es hier ist. Kein Laut ist zu hören. Müde geworden durch die lärmenden Straßen der Großstadt, überfüllt vom Verkehr und von Menschenmassen, empfinde ich dies als unfassbar wohltuend. Ich tauche ein in diese grenzenlose Stille, nehme sie in mich auf und werde eins mit ihr.
Selbstvergessen in mich und diesen traumartigen Ort versunken, werde ich einer Vogelstimme gewahr, die aus einiger Entfernung erklingt. Leise, aber eindringlich macht sie sich bemerkbar. Langsam öffne ich meine Augen und schaue in die Richtung, aus der sie gekommen ist. Doch sobald ich die Augen öffne, verstummt der Vogel. Vielleicht sollte ich es mal mit geschlossenen Augen versuchen, sagt mir meine innere Eingebung. Und tatsächlich – kaum sind meine Augen zu, höre ich den Vogel wieder singen. Er singt ein Lied, das ich niemals zuvor gehört habe, dessen bin ich mir sicher. Dennoch scheint es einen Teil meiner Seele, den ich längst vergessen hatte, wiederzugeben und zu beleben. Ich höre dem Vogel, ohne mich zu bewegen, eine Weile zu. Und spüre nach, wie die Melodie seines Liedes in mir nachhallt und mein innerstes Selbst erklingen lässt.
Der Vogel scheint mich mit seinem Gesang locken zu wollen. Wohin, das weiß ich nicht. Doch meine Seele beschließt, ihm zu folgen. Schritt für Schritt gehe ich mit geschlossenen Augen voran. Zunächst langsam und vorsichtig, aus Angst, ich könnte irgendwo anstoßen, stolpern und hinfallen. Doch mit jedem Schritt werde ich immer mutiger und komme schneller voran. Tatsächlich stolpere ich nur dann, wenn ich meiner Angst nachgebe. Ebenso weiß ich, dass ich an diesem Ort sicher und geborgen bin, da er doch ein Teil meiner Selbst ist, und dass mir hier keine Gefahr droht, die ich mir nicht selbst in meiner Vorstellung ausmale. Also lasse ich nur den Vogelgesang in meine Seele hineinfließen und folge ihm bedingungslos.
Erst schreite ich über den steinigen Boden des Bahnsteigs. Die Sohlen meiner Schuhe geben einen dumpfen Hall wieder. Anschließend führt mich mein Weg über Waldboden. Ich atme das intensive Aroma der Laub- und Nadelbäume ein und fühle mich erfrischt. Der Vogel singt immer weiter und weiter… Ich kann ihn sehr deutlich hören.
Die Dunkelheit vor den geschlossenen Augen, stelle ich mir vor, wie diese sich immer mehr lichtet. Ich starre in sie hinein und erkenne nach und nach eine Landschaft, als würde ich mit offenen Augen hinschauen. Ich sehe den Wald, welchen ich durchschreite, das Gras unter meinen Füßen, die Bäume links und rechts neben mir. Obwohl die Sonne bereits untergegangen ist, kann ich alles klar in ungewöhnlich leuchtenden Farben erkennen. Warum das so ist, weiß nicht. Doch ich freue mich darüber, dass ich, selbst mit geschlossenen Augen, nicht im Dunkeln tappe. Je weiter ich laufe, desto lauter kann ich den Vogel singen hören.
Nach einer Wanderung, deren Dauer mir unmöglich ist, zu bestimmen, wird das Lied des Vogels so laut, dass ich meine, er würde direkt neben mir herfliegen. Ich ringe mit mir, die Augen nicht zu öffnen. Die Neugier treibt mich dazu, mir den wundersamen Sänger anzuschauen. Was mag das für eine Art sein, die solch paradiesische Weisen von sich gibt? In welchen Längen- und Breitengraden mag sie beheimatet sein? Stammt sie aus dieser Welt? Oder kommt mich mein gefiederter Freund aus einer jenseitigen Sphäre besuchen? Diese Fragen stellen sich mir und bohren sich tiefer und tiefer in meinen Kopf hinein. Denn auch, wenn ich die Umgebung um mich herum sehen kann oder meine, sehen zu können, fehlt von dem Vogel in meiner Vision jegliche Spur.
Ich schreite voran, über Stock und Stein, achte nun, gequält von meiner Neugier samt ihren Fragen, weniger auf den Vogelgesang und stolpere hier und da. Als ich mich schließlich ganz meiner Grübelei hingebe, falle ich beinahe hin. Dann halte ich es nicht mehr aus. Zu groß ist der Drang in mir, zu sehen, wer das geheimnisvolle Wesen ist, das mich mit seinem überirdischen Gesang immer tiefer in den Wald lockt. Kann ich ihm denn auch wirklich vertrauen, ihm folgen? Oder sollte ich lieber umkehren? Vielleicht treibt es mich nur ins Verderben!
Und dann…öffne ich meine Augen. Rings um mich herum sehe ich den dichten Wald, Bäume und Büsche. Doch neben mir ist niemand. Kein Vogel, kein mystisches Wesen – einfach nichts! Zudem ist in dem Moment, als ich die Augen öffne, das Lied verstummt. Meine Seele schweigt sich aus. Einsam und allein stehe ich nachts im Wald und weiß nicht, wohin. Fremd fühle ich mich hier, und verlassen. Warum habe ich nur meiner Neugier nachgegeben und meine Augen geöffnet? Ich war doch schon so nah am Ziel! Der Vogel hat so schön laut gesungen! Wohin soll ich mich nun wenden? Wie soll ich aus diesem Wald wieder herausfinden? Oder auf welchem Wege noch tiefer hinein? Ich schließe die Augen, in der Hoffnung, den Vogel wieder singen zu hören. Doch er bleibt stumm.
Ich wende meine Augen dem Himmel zu. Ein gewaltiger Vollmond steht am Himmel und scheint mich zu beobachten. So groß habe ich ihn noch nie gesehen. Mit seinem fahlen Licht bedeckt er den ganzen Wald. Immerhin bin ich nicht in vollkommener Dunkelheit allein gelassen worden. Immerhin ist mir das Licht des Mondes ein Trost und eine Hilfe, mich in diesem Wald zurechtzufinden. Ich schaue mich nach allen Seiten um, drehe mich einmal im Kreis. Als ich nach einer Umrundung an meine Ausgangsposition zurückkehre, erscheint vor meinen Augen ein Bauwerk von seltener Schönheit in der Ferne.
In das magische Licht des Mondes gehüllt, steht das Bauwerk verlassen da. Je mehr ich mich ihm nähere, desto stärker fallen mir seine ungewöhnlichen Details auf. Eine Kuppel, die das Dach bildet und in den unterschiedlichsten Farben schimmert, welche vom Mondlicht reflektiert werden. Darunter eine kleine Halle aus marmornen Säulen im antiken Stil, welche die Kuppel stützt.
Das Gebäude wirkt auf mich wie ein Tempel. Doch warum steht er hier mitten im Wald? Was mag das für eine Bedeutung haben? Und welche Bedeutung hat der Tempel selbst?
Ich gehe immer weiter auf ihn zu. Doch dann stelle ich fest, dass ich nicht mehr weiter auf den Tempel zu laufen kann. Einige Meter vor ihm und rings um ihn herum wurde ein Zaun aus hohem Stacheldraht angebracht. Warum mir dieser nicht schon vorher auffiel, ist mir ein Rätsel. Dieser Wald steckt eben voller Mysterien. Und das macht ihn umso anziehender für mich.
Doch so schnell will ich mich nicht geschlagen geben. Es muss doch sicher eine Möglichkeit geben, den Tempel zu erreichen. Also beschließe ich, den Stacheldrahtzaun ein Mal zu umrunden. Vielleicht gibt es ja irgendwo ein Tor.
Tatsächlich! Nach ungefähr dreißig Schritten stehe ich vor einem hohen Tor. Ich drücke die Klinke herunter. Doch es ist abgeschlossen. Vermutlich ist dieser Tempel Privatbesitz und so vor Eindringlingen gesichert. Doch wer würde für sich mitten im Wald einen Tempel errichten? Das will mir nicht in den Sinn.
Es mag auch sein, dass dieser Tempel ein Relikt aus vergangener Zeit ist und der Stadt gehört. Oder aber er ist das Werk eines Künstlers. Was auch immer dieser damit zum Ausdruck bringen wollte. Viel mehr habe ich das Gefühl, dass dieser Tempel einen Teil meiner Seele darstellt, zu mir gehört. Doch weshalb bin ich dann durch den Stacheldrahtzaun von ihm getrennt?
Wenn ich schon nicht zu ihm kann, so genieße ich wenigstens seine überirdische Schönheit und seine mystische Ausstrahlung von hier aus.
Ich fühle mich wie in einem Traum, aus dem es kein Entkommen gibt. Doch eigentlich will ich hier auch gar nicht weg. Der Zauber dieser ungewöhnlichen Welt hat mich längst in ihren Bann gezogen und lässt mich nicht wieder los.
Wie hypnotisiert schaue ich den Tempel weiterhin an. Das Mondlicht spielt mit den Farben der Kuppel, lässt sie in den unterschiedlichsten Nuancen erstrahlen. Dieses Schauspiel versetzt mich zunehmend in Trance. Schließlich kann ich nicht mehr meinen Blick davon abwenden. Ich spüre meinen Körper immer weniger. Meine Gedanken und Gefühle treten immer mehr in den Hintergrund. Das Erfahren meiner Persönlichkeit verblasst zunehmend. Raum und Zeit lösen sich in Luft auf. Ich weiß nicht mehr, wer ich bin, wie ich hierher kam und wo ich mich überhaupt befinde. Das spielt auch keine Rolle. Ich bin dabei, an einen Ort meines tiefsten Inneren vorzudringen, der mir bislang verschlossen war. Das allein ist von Bedeutung.
Doch etwas hindert mich daran, dorthin zu gelangen. Etwas in mir fürchtet sich vor der neuen Erfahrung, vor dem Unbekannten. Vor einer Tür oder einem Tor, das vielleicht besser verschlossen bleiben sollte.
Plötzlich höre ich einen lauten entsetzlichen Schrei. Er ist von Angst, Leid und Schmerz dermaßen durchzogen, dass ich es kaum ertrage. Das reißt mich aus meinem meditativen Zustand vollkommen heraus.
Ich öffne die Augen, schaue mich um. Was ist passiert? Wer mag diesen Schrei von sich gegeben haben? Wem kann ich zu Hilfe eilen? Es war vollkommen unnötig, meine Augen zu öffnen. Denn ich weiß, dass ich in diesem Wald allein bin. Mir ist bewusst, dass dieser Schmerzensschrei nicht von einem anderen Wesen, sondern aus meinem tiefsten Inneren stammt. Hier gibt es niemandem, dem ich helfen kann – außer mir selbst.
Plötzlich höre ich den Vogel wieder singen…
Texte: © Träumerin
Bildmaterialien: © Träumerin
Cover: © Träumerin
Tag der Veröffentlichung: 11.02.2022
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