Seit Stunden schon irre ich durch den dichten, unergründlichen Wald, ohne einen Ausweg zu finden. Vom langen Fußmarsch ist mein Körper vollkommen ermüdet. Meine Beine schmerzen, auf meinen Füßen haben sich Blasen gebildet. Doch mein Geist gibt mir keine Ruhe und treibt mich weiter voran. Der Wunsch, endlich den Wald zu verlassen und wieder nach Hause zurückzukehren, wächst mit jedem Schritt. Umso mehr, weil ich mein letztes Stück Brot bereits vor mehreren Kilometern aufgegessen habe und sich zudem in meiner Flasche kein Tropfen Wasser mehr befindet. Wenn ich überleben will, darf ich nicht aufgeben, sondern muss weiter voranschreiten, dem Ziel entgegen…wo auch immer dieses sein mag.
Mit positiven Gedanken versuche ich, mir Mut zu machen. Immerhin ist es erst Frühling und noch nicht Hochsommer, sage ich mir. Das stundenlange Wandern in der Hitze wäre noch weit unerträglicher. Oder noch schlimmer: Durch die eisige Winterkälte. Einen Schneesturm kann ich nun wirklich nicht gebrauchen. Immerhin ist das Wetter auf meiner Seite und meint es gut mit mir, rede ich mir ein.
Es ist bereits später Nachmittag, was ich am Stand der Sonne ausmache. Eine Uhr habe ich nicht dabei, ebenso wenig einen Kompass oder eine Landkarte, die mir in dieser Landschaft aber ohnehin nicht von Nutzen gewesen wäre. Ich war wohl wirklich zu optimistisch, mit nichts weiter als zwei Käsebroten, einem Apfel und einem Liter Wasser loszuziehen, in mir unbekannte Gefilde, fernab der menschlichen Zivilisation. Oder nennt man das Leichtsinn? Warum musste mich die Abenteuerlust nur so packen? Ich werde allmählich wütend auf mich selbst. Auch mein Handy habe ich nicht dabei. Wunderbar.
Der Gesang der Vögel gibt mir Kraft. Ich setze mich auf einen großen Stein und höre ihnen zu. Sie fliegen munter von Baum zu Baum, von Ast zu Ast, von Zweig zu Zweig, ohne sich auch nur einen einzigen Gedanken über mein Schicksal zu machen. Sie haben ihre eigenen Sorgen und Freuden in ihrer Vogelwelt und gehen ihren täglichen Gewohnheiten nach. Ach, könnte ich doch nur die Sprache der Vögel verstehen! Dann würden die gefiederten Freunde mir womöglich den Ausweg aus meiner erbärmlichen Situation zwitschern, wo sie doch, hoch am Himmel fliegend, den Wald in seiner Gänze überschauen. Und ich wäre gerettet.
Die wärmenden Strahlen der Aprilsonne glitzern durch das Laub der Bäume. Das Gras und die Blätter erstrahlen in einem intensiven Grün, wie nach einem frischen Regenguss. Es liegt auch ein feiner Regenduft in der Luft.
Vor mir auf dem Weg laufen emsig Ameisen hin und her, tragen kleine Steinchen und Hölzchen, um daraus etwas zu bauen. Feuerkäfer reihen sich in Ketten aneinander. Ich schaue ihnen zu und beneide sie darum, dass sie ein Teil des Waldes sind. Ich würde auch gerne den Wald mein Zuhause nennen. Jeden Morgen mit dem Gesang der Vögel aufwachen, die frische Luft durch meine Lungen strömen lassen, den Anblick der Pflanzen genießen, die Stille in mir selbst spüren. Ja, hier, an einem Ort wie diesem, kann meine Seele Frieden finden.
Ich erhebe mich vom Stein und setze meine Wanderung fort. Meine Muskeln haben sich vom Sitzen etwas erholt. Doch gleichzeitig ist die Sonne ein Stück weiter nach unten gewandert. Und mein Durst hat sich vergrößert. Wenn ich doch nur eine Quelle finden könnte…
Das Ende des Weges ist in Nebel gehüllt. Ich laufe einfach immer weiter geradeaus, ohne zu wissen, was mich dort erwartet. Es ist ohnehin der einzige Weg, der sich mir seit Längerem schon bietet. Und ich bin froh darüber. Nun brauche ich nicht mehr zu wählen, ob ich nach links, rechts oder geradeaus laufen möchte. Es bleibt mir im Prinzip keine Wahl. So kann ich zumindest nichts falsch machen. Einfach nur dem Nebel entgegen, Schritt für Schritt.
Nach einiger Zeit nimmt der vor mir liegende Dunst immer mehr ab. Das Licht der Sonne durchdringt den Nebel und ich kann immer mehr von dem, was vor mir liegt, erkennen. Zunächst sehe ich nichts Besonderes, nur Bäume links und rechts vom Weg, den ich entlang schreite. Doch schon bald erscheint in einiger Ferne etwas vor mir, womit ich gar nicht gerechnet hatte. Mag das wohl ein Trugbild sein? Eine Fata Morgana? Spielt mir mein Gehirn, weil ich so durstig bin, womöglich einen Streich? Ich bin mir nicht sicher. Erstmal muss ich dort vorne ankommen und das, was ich sehe, berühren, bevor ich an dessen Existenz glauben kann. Also gehe ich weiter und weiter…dem Haus auf der Lichtung entgegen.
Einsam und verlassen steht es vor mir, ohne dabei einen verwahrlosten Eindruck zu machen. Es wirkt sogar sehr gepflegt und so, als wäre es vor nicht allzu langer Zeit erbaut worden. Dennoch bin ich mir absolut sicher, dass es schon sehr lange von keiner Menschenseele mehr betreten worden ist. Das flüstert mir eine innere Eingebung zu.
Um genau zu sein, handelt es sich um ein einfaches Holzhaus. Einstöckig und ohne jeglichen Schnickschnack. Nichts, was ein Vermögen wert wäre. Aber wie gemacht für das Leben in dieser Landschaft. Das Holzhaus wirkt wie ein Teil des Waldes auf mich, als hätte es hier vor einer Ewigkeit Wurzeln geschlagen oder als wäre es am gleichen Tag zusammen mit dem Wald entstanden. Ich wundere mich über diesen meinen Gedanken. Wahrscheinlich sollte ich wirklich bald etwas trinken, um dadurch meinen Kopf zu erfrischen.
Um das Haus herum wachsen einige Beerensträucher. Ich pflücke abwechselnd Himbeeren und Heidelbeeren und stecke sie mir gierig in den Mund. Noch nie habe ich etwas so wohlschmeckendes gegessen. Die Beeren sind unvergleichbar köstlich und aromatisch.
Ich gehe um das Haus herum und finde dort einige Obstbäume vor. Hungrig esse ich mich an Äpfeln und Birnen satt, so gut es geht. Auch diese Früchte schmecken außergewöhnlich gut. Auf dem Grundstück steht außerdem ein Brunnen. Wasser! Endlich! Ich ziehe den im Wasser schaukelnden Eimer hoch, stille eifrig meinen Durst und fühle mich anschließend wie neugeboren. Die Lebenskraft kehrt nach und nach in meinen Körper zurück.
Erschöpft, aber glücklich lasse ich mich ins hohe Gras fallen. Am Himmel treiben vereinzelt kleine Wölkchen dahin. Die Vögel singen. Die Sonne wärmt meine Haut. Es ist so ruhig und friedlich hier. Ich schließe meine Augen und schlafe ein…um in einer anderen Welt aufzuwachen.
Texte: © Träumerin
Bildmaterialien: © Träumerin
Cover: © Träumerin
Tag der Veröffentlichung: 12.02.2022
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