Cookie klammerte sich an seinen Ast weit über dem Erdboden und spähte in die Ferne hinaus. So weit sein Auge reichte: Nichts als Regen um ihn herum. Er selbst hatte es sich unter dem schützenden Blätterdach der hohen Tropenbäume gemütlich gemacht, wo er kaum einen Tropfen abbekam. Sah er doch einmal einen Regentropfen direkt über sich herunterfallen, fing er ihn im Nu mit seinem Schnabel auf und genoss den erfrischenden, süßlichen Geschmack des Tropenwassers.
Nachdem Cookie einige Stunden auf seinem Ast im Dickicht ausgeharrt hatte, ließ der Regen schließlich nach. Die Sonne bahnte sich ihren Weg durch die graue Wolkendecke, die sich daraufhin verflüchtigte. Über dem Dschungel konnte Cookie einen Regenbogen ausmachen. Wie das Tor zu einer anderen Welt schwebte dieser hoch oben am leuchtend blauen Himmel und ließ einige Schmetterlinge in den schillerndsten Farben passieren. Was mochte die bunten Schmetterlinge wohl hinter dem Regenbogen erwarten? Fragte sich Cookie. Er überlegte, ob er ihnen folgen sollte. Zu gern hätte er die geheimnisvolle Welt auf der anderen Seite des Regenbogens erkundet. Doch kurz bevor er schon die Flügel zum Flug aufspannte, entschied er sich doch dafür, auf dem Ast zu bleiben. Etwas hielt ihn davon ab, diesen auch nur für einen kurzen Moment zu verlassen. Und dieses Etwas befand sich genau unter ihm, im Gebüsch.
An und für sich wäre Cookie ein ganz gewöhnlicher Papagei, gäbe es da nicht zwei Dinge, die ihn von allen anderen Papageien im tropischen Regenwald unterschieden und damit zu etwas Besonderem machten. Zum einen knabberte Cookie bereits seit seiner Zeit als Papageienküken leidenschaftlich gern Kekse, weshalb seine Eltern ihm den Namen Cookie gegeben hatten. Vor allem die Kekse mit den Schokotropfen mochte er ganz besonders gern. Zum anderen war Cookie mit Tourette zur Welt gekommen. Bereits als er aus dem Ei schlüpfte, schlug er in einem heftigen Anfall mit solcher Inbrunst mit seinem Schnabel gegen die Schale, dass er sich schneller als seine Geschwister aus dem Ei befreien konnte.
Sowohl seine Geschwister als auch die anderen Tiere im Dschungel lachten sich beim Anblick seiner Tourette-Attacken Löcher in den Bauch. Doch davon nahm Cookie inzwischen keinerlei Notiz mehr. Denn er wusste seine Anfälle zu seinem Nutzen einzusetzen und mit deren Hilfe Dinge zu vollbringen, welche für die anderen Dschungelbewohner an Zauberei grenzten. So hatte sich Cookie unter anderem die Fähigkeit angeeignet, während seiner Tourette-Attacken heftig und ausdauernd mit seinem harten Schnabel gegen die Schoko-Kekse zu hämmern, was dazu führte, dass sich die darin befindlichen Schokotropfen lösten und in die Luft flogen, woraufhin Cookie sie nur noch geschickt mit seinem Schnabel aufzufangen brauchte. Ein Bild für die Götter: Cookie, der Kekspapagei.
Sein Leibgericht, die Schokotropfen-Kekse, hütete Cookie wie seinen Augapfel. Als Versteck hatte er dazu das Gebüsch unter seinem Ast auserkoren. Sobald er es rascheln hörte, läuteten seine inneren Alarmglocken und rissen ihn aus dem Schlaf, ganz gleich wie tief dieser auch sein mochte. Vernahm er auch nur den leisesten Laut unter sich, wusste der Kekspapagei sofort Bescheid, was los war: Seine Feinde, die vier gierigen Mäuse, zwei graue und zwei weiße, waren drauf und dran, seinen Keksvorrat zu stibitzen. Das wollte und konnte Cookie um keinen Preis zulassen. Die Kekse waren schließlich sein, ganz allein. Unruhig trat er mit seinen Füßen auf dem Ast hin und her, lief einen Schritt nach rechts, zwei nach links und dann wieder zurück, wobei er die ganze Zeit angespannt das Treiben der Mäuse unter sich beobachtete.
Da! Ein Keks erhob sich wie von selbst aus dem Busch! Doch die Schnurrhaare, die links und rechts den Keksrand überragten, verrieten die Maus. Und dann sah Cookie auch schon ihr Schnäuzchen, mit dem sie den Keks am unteren Rand festhielt.
Cookie wollte die Maus um keinen Preis mit dem Keks entwischen lassen. Also wandte er seinen altbewährten Trick an, um die kleine Diebin zu vertreiben. Eigens dazu hatte er das Plätzchen auf dem Ast über dem Keksversteck überhaupt auserkoren. Er nahm die Maus genau ins Visier, zielte sorgfällig und… Klecks! Besudelte er die Maus mit seinem Unrat. Diese ließ vor Schreck den Keks sofort fallen und schaute überrascht zu ihm hinauf. Grenzenlose Empörung stand ihr ins Gesicht geschrieben, als sie den Kekspapagei auf seinem Ast majestätisch stolzieren sah, und begriff, was ihr soeben geschehen war. Angewidert nahm sie ihr soeben verschmutztes Fell in Augenschein.
„Du böser, böser Papagei! Das wirst du noch bitter bereuen!“ Piepste die weiße Maus wütend in Cookies Richtung und drohte ihm eifrig mit ihrem Pfötchen. Das Einzige, was der Kekspapagei daraufhin von sich verlauten ließ, war ein siegerträchtiges „Booooack!“, das durch den ganzen Dschungel hallte und alle seine Bewohner wissen ließ, dass Cookie den Kampf gegen die Mäuse mal wieder gewonnen hatte.
Zufrieden schüttelte Cookie sein Gefieder und schaute der Maus hinterher, wie sie schimpfend, aber kekslos sein Revier verließ und von dannen zog. Er hatte seinen Feinden wieder einmal bewiesen, wer hier der Herr im Hause war und das Sagen hatte. Sollten die Mäuse doch woanders Kekse klauen gehen oder besser noch: Gras essen. Das wuchs hier nämlich zur Genüge.
Cookie breitete seine Flügel zu einem Sturzflug Richtung Gebüsch aus, schnappte sich, noch über der Erde schwebend, mit seinem Schnabel den Keks, den die Maus liegen gelassen hatte, und ließ sich anschließend wieder auf seinem Ast nieder. Diesen würde er nun zum Abendessen verspeisen. Doch er knabberte in den Keks nicht einfach rein, sondern ging nach seinem eigentümlichen Ritual vor. Zuerst platzierte er den Keks an einer sicheren Stelle, wo er nicht herunter fallen konnte. Gleich würde sich eine Tourette-Attacke seiner bemächtigen. Das spürte er deutlich. Und diese wollte er nicht ungenutzt vergehen lassen. Dies war sein großer Moment.
Da war sie auch schon! Eifrig schlug Cookie mit seinem Schnabel gegen den Keks, immer und immer wieder, woraufhin die Schokotropfen heraus sprangen und wild durch die Luft flogen. Geschickt fing er einen nach dem anderen davon mit seinem Schnabel auf und ließ sie sich schmecken. War das köstlich! „Booooack!“
Die Sonne verschwand langsam hinter dem Horizont. Die Stunde für Cookies Nachtruhe rückte immer näher. Das Zirpen der Grillen wiegte ihn immer mehr in den Schlaf, während er den Sonnenuntergang genoss. Am Himmel funkelten bereits einige Sterne. Cookie wurde immer schläfriger und schloss schließlich seine müden Papageienaugen. Im Traum sah er vor sich das Regenbogen-Portal und flog mit den bunten Schmetterlingen hindurch. Über weite Blumenwiesen schwebten sie dahin, der Sonne entgegen.
Als Cookie morgens aufwachte, wusste er sofort, dass etwas nicht stimmte. Etwas Unvorhersehbares war geschehen, während er schlief. In dem Moment, als er seine Flügel streckte und seinen Schnabel zum morgendlichen „Booooack!“ aufreißen wollte, stellte er fest, dass er nicht im Stande war, diesen zu öffnen. Fest verschlossen war er und blieb es trotz Cookies Anstrengungen auch. Er verstand die Welt nicht mehr! Was war nur passiert?
„Hihihihi…“ Kicherte ein leises Stimmchen aus dem Gebüsch unter ihm. „Das hast du nun davon, du böser Papagei. Weil du deine Kekse nicht mit uns teilen wolltest, haben wir dir nachts einfach deinen Schnabel zugebunden.“
Cookie schaute erregt nach unten und sah dort alle vier Mäuse versammelt neben seinem Keksvorrat sitzen. Er wollte ein empörtes „Booooack“ von sich geben. Doch dann fiel ihm ein, dass dies ja im gegenwärtigen Moment nicht möglich war.
„Hihihihi… Jetzt musst du wohl deinen gefräßigen Schnabel ein für allemal halten, du blöder Papagei! Und da das so ist, brauchst du die Kekse ja nicht mehr. Also nehmen wir sie einfach mit!“ Die Mäuse grinsten ihm fies zu und die weiße Maus, die er am Tag davor besudelt hatte, streckte ihm sogar die Zunge heraus.
Das war mehr, als Cookie ertragen konnte. Er fühlte sich in seinem Stolz, als Cookie, der Kekspapagei, zutiefst gekränkt. Durch einen gut einkalkulierten Sturzflug gelang es ihm, die erschrockenen Mäuse, die mit seinem Angriff nicht gerechnet hatten, in alle vier Himmelrichtungen zu vertreiben. Jede davon schaffte es zwar, einen Keks in ihrem Schnäuzchen auf der Flucht zu stibitzen. Doch immerhin nahmen sie, wie angedroht, nicht alle Kekse mit.
Was sollte Cookie nun mit seinem Schnabel anstellen? Auf welchem Wege konnte er sich nur vom lästigen Lianenzweig, den die Mäuse ihm drum herum gebunden hatten, befreien? Er dachte angestrengt nach. Doch ihm wollte keine Lösung für sein Problem in den Sinn kommen.
Schließlich wurde er von der ganzen Grübelei müde. Hunger und Durst taten ihr übriges, um seine Kräfte mehr und mehr schwinden zu lassen. Cookie wurde es durch die zunehmende Benommenheit immer schummeriger vor Augen. Die Konturen der Pflanzen verschwammen in der tropenfeuchten, dampfenden Luft und vermischten sich mit den Schreien der Aras und Paradiesvögel.
Ganz langsam öffnete Cookie seine Augen. Nanu? Was war das? Vor ihm stand plötzlich das Regenbogen-Portal. Dabei regnete es doch gar nicht. Neugierig hob Cookie seinen Kopf etwas an. Von der anderen Seite des Regenbogen-Portals bewegte sich etwas auf ihn zu. Eine kleine weiße Gestalt rannte ihm aus der Ferne entgegen. War es etwa eine weiße Maus, die etwas Neues ausgeheckt hatte, um ihn zu verärgern? Erschrak Cookie ein wenig. Von den Streichen der Mäuse hatte er fürs Erste freilich genug.
Als sich das kleine Wesen ihm näherte, konnte er erkennen, dass es lange Ohren hatte. Nein, das war keine Maus. Zudem hüpfte es, anstatt wie eine Maus zu rennen. Was konnte das nur sein? So etwas hatte Cookie noch nie zuvor gesehen. Er kannte alle Bewohner des Dschungels. Doch so etwas gab es hier nicht. Dieses Wesen schien demzufolge auf der anderen Seite des Regenbogens zu leben.
Bald darauf hatte das kleine Wesen den Baum, auf welchem Cookie saß, erreicht, und schaute mit seinen blauen Äuglein zu ihm herauf.
„Hallo Cookie. Ich bin Lilly, das Kaninchen, und komme, um dir zu helfen.“
Der Kekspapagei horchte auf. Er befürchtete bereits, es mit einem Keksdieb zu tun zu haben.
„Du brauchst keine Angst vor mir zu haben. Ich knabbere nur schnell den Lianenzweig durch, mit dem dein Schnabel zugebunden ist. Danach kannst so viele Kekse knabbern, wie du willst.“
Cookie war sich nicht sicher, ob er dem Kaninchen vertrauen konnte. Vielleicht wollte es ihm Böses und gab nur vor, ihm helfen zu wollen. Doch was blieb ihm anderes übrig, als sich auf den Vorschlag des kleinen Wesens einzulassen? Immerhin bot sich ihm jetzt die wunderbare Gelegenheit, seinen Schnabel wieder frei zu bekommen. Und er brauchte dafür nichts weiter zu tun, als auf den Erdboden hinunter zu flattern und seinen Schnabel dem Kaninchen hin zu halten.
Die beiden warfen sich noch einen letzten prüfenden Blick zu. Dann legte Cookie seinen Kopf auf die Erde, damit Lilly den Lianenzweig besser mit seinen scharfen Zähnen erreichte. Es dauerte ein wenig, doch schließlich hatte das Kaninchen, wobei es ein eifriges Gesicht machte, die Liane durchgebissen. Der durchgekaute Zweig fiel zu Boden. Cookies Schnabel war gerettet. Der Kekspapagei gab zum Zeichen seiner Dankbarkeit ein glückliches „Booooack!“ von sich und schwang sich hoch hinauf auf seinen heiß geliebten Ast.
Lilly ließ freudig ihre langen Ohren wackeln und verkündete mit ihrem hohen Stimmchen: „Ich muss jetzt wieder los, auf die andere Seite des Regenbogens. Aber falls du wieder mal Hilfe brauchst, kannst du immer auf mich zählen.“
Und schon hoppelte sie unter dem Regenbogen-Portal davon. Cookie schaute ihr nach, bis er ihre weiße Bommel in der Ferne nicht mehr erkennen konnte, und schloss für einen Moment die Augen, um seine wieder gewonnene Freiheit zu genießen.
Als er sie wieder öffnete, war das Regenbogen-Portal verschwunden. Hatte er womöglich nur davon geträumt? Doch sein losgebundener Schnabel war für ihn Beweis genug, dass dies kein Traum gewesen sein konnte. Das Kaninchen Lilly gab es wirklich. Und er hatte nach all den Jahren des Alleinseins, in welchen er sich an den Ast über dem Gebüsch klammerte, um seinen Keksvorrat zu bewachen, endlich eine Freundin gefunden. Oder, um genau zu sein: Sie fand ihn. Hier in seiner Welt, jenseits des Regenbogen-Portals. Er wusste nicht, wann sie sich wieder sehen würden. Aber wenn sie das nächste Mal vorbei gehoppelt kam, würde er ihr zum Zeichen seiner Freundschaft den schönsten und größten Schokotropfen-Keks schenken, den er in seinem Geheimversteck finden konnte.
Texte: © Träumerin
Bildmaterialien: © Träumerin
Cover: © Träumerin
Tag der Veröffentlichung: 11.02.2022
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Widmung:
Mein Dank geht an Angelino Dali, der Cookie den Kekspapagei ins Leben gerufen hat. Booooack!
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