Sonja war mit der Fähigkeit, durch die Zeit zu reisen, geboren worden. Bereits in ihrer frühen Kindheit stellte sie fest, dass sie auf eine gewisse Art anders war als die Menschen, die sie kannte. Denn wenn sie ihren Eltern und Freunden von ihren sonderbaren Erlebnissen erzählte, glaubte ihr niemand oder tat es bestenfalls als Fantasterei ab. Dennoch geschahen diese Dinge. Und das verwirrte Sonja zutiefst. Es gab zudem weit und breit niemanden, mit dem sie hätte darüber reden können. So fühlte sie sich unverstanden und einsam.
Als Sonja neun Jahre alt war, passierte etwas, das ihr Leben veränderte. Das Universum schickte ihr einen Freund, dem sie alles anvertrauen konnte, ohne befürchten zu müssen, nicht ernst genommen oder gar ausgelacht zu werden.
Sie spielte an einem wunderschönen Frühlingstag gerade mit anderen Kindern im Park Verstecken und kniete sich dazu in ein Gebüsch. Während sie dort kauerte und wartete, wurde der Himmel, an dem gerade noch die Sonne gestanden hatte, tiefgrau, beinahe schwarz, und es fing an, wie aus Eimern zu gießen. Typisches Aprilwetter, wie man es seit eh und je kennt.
Der Busch bot Sonja nur unzureichenden Schutz vor dem Regen. Doch das war besser als nichts. Sie schob die Blätter und Zweige etwas zur Seite und konnte nun sehen, wie die Menschen in Windeseile den Park verließen. Manche hatten einen Schirm dabei, andere nicht, und zogen sich stattdessen ihre Jacken über den Kopf. Sie konnte auch einige ihrer Freunde darunter erkennen. Vermutlich war sie noch die Einzige, die in ihrem Versteck hockte. So gesehen hätte sie auch gut daraus hervorkriechen und nach Hause gehen können. Doch einem inneren Impuls folgend blieb sie, wo sie war.
Plötzlich hörte sie ein Rascheln und erblickte neben sich ein Kaninchen. Sein Fell war ganz nass, zerzaust, und es blickte sie aus seinen dunklen Augen an, als würde es bis in Ihre Seele hineinschauen. Neugierig kam es ihr näher. Anscheinend fürchtete es sich nicht vor ihr. Sonja war überrascht über ihren kleinen Besucher und freute sich über seine Gesellschaft. Vorsichtig, um ihren kleinen Gast nicht zu erschrecken, streckte sie eine Hand aus und streichelte dem kleinen Wesen übers Fell. Das Kaninchen schien, Gefallen daran zu finden. Es legte sich neben Sonja hin und kuschelte sich an sie. Sonja wurde dabei ganz warm ums Herz.
Schließlich ließ der Regen nach und hörte kurz darauf ganz auf. Die Sonne kam wieder zum Vorschein und tauchte die nasse Szenerie in ihr strahlendes Licht. Sonja beschloss, nach Hause zu gehen. Ihre Eltern machten sich bestimmt schon Sorgen, wo sie so lange blieb. Doch sie konnte und wollte sich nicht von dem Kaninchen trennen. Als sie sich erhob und aus dem Gebüsch hervortrat, hoppelte das Häschen ihr hinterher. Es schien ihre Nähe zu suchen. Immer weiter hoppelte es an ihrer Seite entlang durch den Park. Wären noch andere Menschen in diesem Moment hier gewesen, hätten sie sich gewiss über dieses ungewöhnliche Schauspiel gewundert. Ein wildes Kaninchen, das einem Menschen auf Schritt und Tritt folgt - so etwas kommt nicht alle Tage vor.
Als die beiden beim Parkeingang angekommen waren, blieb Sonja stehen und schaute auf das kleine Wesen herab. Vermutlich würde es sie bis zur Haustür begleiten. Sonja konnte nicht verstehen, warum das Tier sich an ihre Fersen gehängt hatte. Doch insgeheim freute sie sich darüber. Und da die beiden unzertrennbar schienen, kniete sie sich hin, nahm das Kaninchen auf den Arm und mit nach Hause. Es sträubte sich kein kleines bisschen und leckte ihr sogar die Hand ab. So begann die Freundschaft der beiden.
Sonjas Eltern waren zwar etwas verwirrt, als sie mit dem Häschen auf dem Arm die Wohnung betrat. Doch sie hatten keine Einwände, dass es bei ihnen blieb und ihr neuer Mitbewohner wurde. Sonja staunte direkt darüber, dass das alles wie am Schnürchen lief. Ihr Vater besorgte ein Katzenklo. Denn im Käfig einsperren und es seiner Freiheit berauben wollten sie es nicht. So hatte es also Tag und Nacht rund um die Uhr Auslauf in Sonjas Zimmer und benahm sich dabei sehr anständig. Es benutzte immer die Katzentoilette, rührte die Kabel und Wände weder mit seinen scharfen Zähnen noch mit seinen spitzen Krallen an und schlief in Sonjas Bett. Es war sehr verschmust und verkuschelt, ließ sich sehr gerne streicheln. Aber das Außergewöhnlichste an diesem Wesen war sein Blick, wenn es jemandem in die Augen sah. In solchen Momenten meinte man, es würde einen durchschauen und verstehen wie sonst niemand auf der Welt. Dadurch fasste Sonja zu ihm Vertrauen und erzählte ihm von ihren Ausflügen in andere Welten.
Oder sollte ich besser sagen - in andere Zeiten? Wir werden sehen... Mag sich jeder, der meine Zeilen liest und sie auf sich wirken lässt, selbst ein Urteil darüber bilden.
Als ich Sonja kennenlernte, hatte sie ihren neunzigsten Geburtstag bereits hinter sich. Ich besuchte sie in ihrem kleinen Haus am Rande der Stadt. Trotz ihres hohen Alters schien sie bei bester Gesundheit zu sein. An ihrer geistigen Klarheit hätte sich so manche Zwanzigjährige ein Beispiel nehmen können. Sie war eine kleine, zierliche Frau, wirkte aber keineswegs gebrechlich. Ihre blauen Augen schauten ruhig und gütig. Ein Lächeln umspielte stets ihre Lippen, als würde sie sich an die schönsten Erlebnisse aus den neunzig Jahren ihres Leben erinnern.
Ihr Häuschen war schlicht, aber gemütlich eingerichtet. Drei Zimmer (Wohn-, Schlaf- und Gästezimmer), eine größere Küche, in der auf den Regalen zahlreiche Gläser mit unterschiedlichen getrockneten Kräutern aus ihrem Garten standen, die einen überaus aromatischen Duft verströmten, und ein lichtdurchflutetes Bad. Ich fühlte mich in Sonjas Räumlichkeiten und vor allem in ihrer Gegenwart unbeschreiblich wohl. Sie hatte etwas so Besonderes an sich, strahlte Ruhe und Frieden aus. Ich fühlte mich automatisch angenommen und geliebt, als ich ihr in der Küche am Tisch gegenüber saß und in ihre Augen blickte. Etwas Überirdisches, Unerklärliches schien mich dabei zu berühren und meine Seele zu umarmen. Was hatten diese Augen gesehen, dass sie mich so anschauen konnten? Was hatte diese Frau erlebt? Um das zu erfahren, war ich hier.
Wir saßen uns also am Tisch gegenüber und tranken Tee, den Sonja aus ihren selbst angebauten Kräutern zubereitet hatte. Er schmeckte köstlich, war mit dem besten und auch teuersten Tee aus dem Supermarkt keineswegs zu vergleichen.
"Du hast also die weite Reise auf dich genommen, um zu erfahren, wer ich bin und was ich erlebt habe?"
Das war reine Telepathie. Genau daran hatte ich eben gedacht. Eine Antwort wäre vermutlich nicht nötig gewesen, weil diese Frau sie bereits kannte. Aus Höflichkeit und Respekt gab ich sie ihr dennoch:
"Ja, genau deswegen bin ich hierher gekommen. Ich betreibe im Internet eine Seite über paranormale Phänomene und mystische Erfahrungen, auf der ich von übernatürlichen Ereignissen berichte. Wenn mir jemand, der derartiges erlebt hat, online eine Nachricht schickt, treffe ich mich mit dieser Person und spreche mit ihr darüber. Anschließend veröffentliche ich diesen Bericht auf meiner besagten Internetseite, um mehr Menschen auf derlei Ereignisse aufmerksam zu machen. Mein inniger Wunsch ist es nämlich, den Menschen zu zeigen, dass es in dieser Welt mehr gibt als das Alltagsgrau der Großstadt und das Hamsterrad der Arbeitswelt. Und dass das echte Leben in ganz anderen Sphären beginnt. Haben Sie vielen Dank dafür, dass Sie mich zu sich nach Hause eingeladen haben. Das erlebe ich nicht oft. Meist treffe ich mich mit den besagten Menschen an einem Ort in der Öffentlichkeit, zum Beispiel in einem Park, im Cafe... Ihr Haus ist wirklich sehr gemütlich."
Sonja lächelte mich liebevoll an.
"Du kannst mich gerne duzen. Das macht vieles einfacher und lässt uns die künstlich erschaffene Barriere zwischen uns leichter vergessen. Ich freue mich, dass du dich bei mir wohlfühlst. Deine Bestrebungen, die Menschen aus ihrem Alltag zu befreien und ihre Wahrnehmung für die Welten der Seele zu öffnen, gefallen mir. Ich wünsche uns, dass du dabei möglichst viele Menschen erreichst und aus ihrem Dornröschenschlaf aufweckst. Der Planet Erde braucht jetzt wache Geister mehr denn je. Es ist fünf vor zwölf. Wenn der Wecker klingelt, könnte es womöglich zu spät sein."
Ich verstand genau, was Sonja damit zum Ausdruck bringen wollte. Die Erde versank zunehmend in Lieblosigkeit, Leid und Chaos. Kriege und Armut raubten so vielen Menschen das Leben. Die Natur wurde immer mehr ausgebeutet und zerstört. So konnte das nicht ewig weitergehen. Es war wichtig, dass die Menschheit zu einem neuen Bewusstsein erwachte, um diesen ganzen Irrsinn zu stoppen und das Licht zurück in diese Welt zu bringen.
"Danke für deine weisen Worte, liebe Sonja. Wir geben gemeinsam unser Bestes, um das Licht in dieser Welt zu vermehren, auf dass die Dunkelheit sich zurückziehen möge. Mit vereinter Kraft sind wir stark."
"Ja, das sind wir. Und wir sind wie Fackeln, die das Licht in den Herzen der Menschen anzünden und sich an ihren Ursprung und an ihre wahre Natur erinnern lassen. Viele Menschen sind unzufrieden und unglücklich, weil sie diese Welt als lieblos empfinden. Sie erkennen also intuitiv die Ursache allen Leids. Das ist gut. Das zeigt, dass sie ihren wahren Ursprung, die Liebe, noch nicht vergessen haben und dieses Wissen tief in ihnen schlummert, auch wenn sie aus Unwissenheit selbst lieblos handeln und anderen für ihre Sorgen und ihren Kummer die Schuld geben."
"Wer die Liebe tief in seinem Herzen spürt, sieht die Welt und die Menschen mit anderen Augen."
"Das ist wohl wahr. Nun denn... Bist du bereit, meine Geschichte zu hören?"
Und ob ich das war!
So verbrachte ich diesen Tag bis in die späten Abendstunden hinein bei Sonja, erst in der Küche, dann im Wohnzimmer und später im Schein des Vollmondes in ihrem wunderschönen kleinen, aber feinen Garten, und hörte ihr aufmerksam zu. Sie kommunizierte mit meiner Seele, sprach aus tiefstem Herzen und wählte ihre Worte mit Bedacht. Bereits durch ihre bloße Präsenz spürte ich, dass sich in meinem Inneren eine Wandlung vollzieht und sich meine Wahrnehmung verändert. Ihr Worte verstärkten diesen Prozess noch. Ich werde diesen einzigartigen Tag, den ich in Sonjas Haus verbrachte, niemals vergessen.
Sonja war eine Träumerin. Der Vorname Sonja wird von "Sophia" abgeleitet, was für Weisheit steht. Die Koseform "Sonja" geht auf das russische Wort "son", übersetzt "Traum", zurück. Somit machte Sonja ihrem Namen, "die Träumende" oder "die Träumerin", alle Ehre und lebte die Bestimmung, mit der sie vor neunzig Jahren diese Welt betrat, aus.
Sonja war aber nicht nur eine Träumende, sondern auch eine Zeitreisende. Seit ihrer Kindheit träumte sie von anderen Epochen und geschichtlichen Ereignissen. In diesen Träumen beobachtete sie als reines Bewusstsein die Geschehnisse, die sich vor langer Zeit, lange vor ihrer Geburt und auch vor der Geburt ihrer Eltern und Großeltern abgespielt haben mochten. Manchmal träumte sie auch von futuristischen Welten und nahm an, dass es sich dabei um die ferne Zukunft des Planeten Erde handelte. Alle diese Träume waren so intensiv und wirkten so realistisch, dass sie jedes Mal nach dem Aufwachen einen Moment brauchte, um im Hier und Jetzt anzukommen und zu begreifen, wo sie war. Wenn sie dann ihr liebes, kleines Kaninchen neben sich liegen sah, das ihr die Hand leckte, wusste sie, dass sie genau hier richtig war, und beruhigte sich schnell wieder.
Die vielen Stunden, die ich bei Sonja an diesem Tag verbrachte, genügten nicht, um alle ihre Erlebnisse wiederzugeben und zu Papier zu bringen. Doch ich bekam einen guten Einblick in ihre Erfahrungen und vor allem lernte ich eines... Doch das lasse ich Sonja lieber selbst mit eigenen Worten ausdrücken:
"Eines habe ich durch meine traumartigen Zeitreisen begriffen. Die Geschichte der Menschheit wiederholt sich von Epoche zu Epoche. Es ist immer dasselbe. Wir denken, wir leben jetzt in einer anderen Zeit und erleben nun andere Dinge. Doch das stimmt nicht. Zeit ist sowieso eine Illusion. Und im Kern ereignet sich seit Anbeginn immer dasselbe. Es besteht seit eh und je ein Kräftemessen zwischen Licht und Dunkel, zwischen Liebe und Angst, zwischen Gewissenhaftigkeit und Gewissenlosigkeit. Und du entscheidest selbst, welcher dieser beiden Seiten du dein Leben widmest und Kraft gibst."
Ich sann in meinem Herzen über Sonjas Worte nach und meine Seele wusste, dass sie die Wahrheit gesprochen hatte. Im gleichen Augenblick wurde mir klar, dass nur derjenige, der die Vergangenheit kennt, die Gegenwart verstehen kann. Und wer die Gegenwart versteht, der kann die Zukunft gestalten. Aus Sonjas Erzählungen habe ich sehr viel über die Vergangenheit gelernt und erst so richtig begriffen, worum es geht in diesem Leben und in dieser Welt. Nun mache ich mich mit den besten Absichten daran, die Zukunft zu gestalten, und freue mich darauf, euch in einer friedlicheren, liebevolleren Welt wieder zu begegnen, meine lieben Freunde.
Texte: © Träumerin
Bildmaterialien: © Träumerin
Cover: © Träumerin
Tag der Veröffentlichung: 11.02.2022
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