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Mein kleiner Garten

An diesem wunderbar warmen Sommertag habe ich es mir in meinem kleinen Garten gemütlich gemacht. In einem Liegestuhl sitze ich mit ausgestreckten Beinen und gebe mich der Entspannung hin. Der Himmel erstrahlt in einem ungewöhnlich klaren Blau, das bis in meine Seele vordringt und sie mit tiefem Frieden erfüllt. Die Sonne hat ihren Höchststand erreicht und wärmt mit ihren Lichtstrahlen mein Herz. Die Augen geschlossen, genieße ich den Moment, fühle mich frei und beschwingt, wie die kleinen Vögel, die am Himmel kreisen. Ich tauche mehr und mehr in die mich umgebende Stille ein, bis sie mich ganz umhüllt und ich mich in ihr auflöse. So sinke ich in den Schlaf und betrete eine andere Welt...

 

...diese andere Welt ist für mich nur im Traum zugänglich. So lange ich wach bin, schützen mich die Wände der Glaskugel vor ihr, die meinen kleinen Garten umgeben. Sobald ich jedoch meine Augen schließe, mich dem Schlaf hingebe, erwache ich jedes Mal in der Welt hinter der Glaskugel. Es ist, als würde ich eine Art Doppelleben oder Parallelexistenz führen. In der Welt der Wachen befinde ich mich in meinem kleinen Garten, umgeben von Natur, Frieden, Freude und Liebe. Die Natur schenkt mir alles, was ich zum Leben brauche, und ich erfreue mich dankbar an ihrer Schönheit. Hier lebe ich wirklich. Hier ist meine Seele zu Hause. In meinem kleinen Garten.

 

Doch sobald mich der Schlaf übermannt, werde ich in die Welt hinter der Glaskugel geschleudert. Das Leben dort ist so grau, trist und trostlos, dass man eigentlich gar nicht von Leben sprechen kann. Die Bauwerke sind verfallen, die Menschen unglücklich und die wenigen Pflanzen, die es dort gibt, werden von den Einwohnern dieser Welt achtlos niedergetrampelt. Der Anblick welker Blumen und ausgetrockneter Bäume bricht mir fast das Herz. Egal wie weit man auch laufen mag, die Atmosphäre bleibt von Lieblosigkeit und Leid erfüllt. Die Menschen wissen nicht mehr, wer sie sind, haben ihren natürlichen Ursprung vergessen und ihre Verbindung zur Seele im dichten Großstadtdunst verloren. 

 

Seltsame Gerätschaften haben sie dort, die ihre Existenz zu bestimmen scheinen. In den Häusern sehe ich viereckige Kästen, auf denen Bilder erscheinen und aus denen Stimmen dringen. Die Menschen sitzen allein oder auch in kleineren Gruppen vor diesen Kästen und hören ihnen wie hypnotisiert zu. Was ihnen zu Ohren kommt, scheinen sie für richtig zu befinden. Denn sie nicken den sprechenden Gesichtern hinter der Scheibe des Kastens immer wieder zu. Manchmal machen sie auch entsetzte Gesichter und schreien kurz auf. Was sie hören und sehen, scheint sie zu fesseln und in seinen Bann zu ziehen.

 

In den Straßen begegne ich immer wieder Menschen mit kleinen viereckigen Geräten, die sie in der Hand halten und dabei mit den Fingern bearbeiten. Das finde ich seltsam. In meinem kleinen Garten gibt es so etwas nicht. Einige Schritte weiter sehe ich zwei Menschen nebeneinander auf einer Bank sitzen. Einen Mann und eine Frau in mittleren Jahren. Sie haben beide jeder so ein Ding in der Hand und tippen emsig darauf. Nun kann ich meine Neugier nicht mehr im Zaum halten und beschließe, die beiden zu fragen, was es damit auf sich hat und was sie da tun. Ich gehe auf sie zu und bleibe vor der Bank, auf der sie sitzen, stehen. 

"Entschuldigung, was macht ihr da?" Frage ich.

 

Als sie meine Stimme hören, macht sich auf den Gesichtern der beiden panisches Entsetzen breit. Sofort, wie auf Kommando, führen sie ihren Zeigefinger an den Mund und bedeuten mir dadurch, zu schweigen. Das verwundert mich sehr. Ich habe doch nur mit ihnen gesprochen und ihnen eine Frage gestellt, sonst nichts. Tun sie etwas Verbotenes und wollen keine Aufmerksamkeit auf sich lenken? 

 

Der Mann hält mir sein Gerät vor die Augen. Darauf sehe ich einen schwarzen Text. Manche Passagen sind weiß unterlegt, die anderen grün. Bei näherer Betrachtung stelle ich fest, dass es sich um einen Dialog handelt. Der Mann bedeutet der Frau, mir ihr Gerät vor die Augen zu halten. Auch darauf ist Text, und zwar der exakt gleiche wie auf dem Gerät des Mannes, abgebildet. Jetzt verstehe ich. Die beiden kommunizieren miteinander über dieses kleine Ding. Sie geben mit ihren Fingern abwechselnd Worte und Sätze ein. Es ist so ähnlich, wie wenn man sich per Brief miteinander austauschen würde. Doch warum reden sie nicht direkt miteinander, wenn sie doch so eng zusammen sitzen? Dadurch würden sie einander doch viel besser erreichen. Ein tiefer Blick in die Augen kann doch so viel mehr sagen als ein geschriebenes Wort. 

 

Die Welt hinter der Glaskugel erscheint mir mit jedem Aufenthalt immer rätselhafter. Mit meinem kleinen Garten hat sie so wenig gemein. Zudem erscheint mir mein kleiner Garten, je länger ich mich in der grauen Welt aufhalte, so fern, dass ich in Heimweh fast ertrinke. Diese Welt hier ist so viel größer als mein kleiner Garten, doch so leer. Und das Schweigen in ihr ist so tot. In meinem kleinen Garten kommuniziere ich mit den Bäumen, Blumen, Büschen, Grashalmen, mit der Erde, auf der sie wachsen, mit den Würmchen und Käferchen, die den Boden auflockern. Sie geben sich alle solche Mühe dabei, meinen kleinen Garten am Leben zu erhalten. In der Welt hinter der Glaskugel wachsen keine Wiesen, um barfuß darüber zu laufen und sich mit Energie aufzuladen. Hier gibt es stattdessen kalten Asphalt und Beton. Am grauen Himmel, der von Abgasen verschmutzt ist, fliegen keine Vögel. Für das wenige Lebendige, was es hier noch gibt und das in seinen letzten Atemzügen liegt, empfinden die Menschen, die hier wohnen, keinerlei Wertschätzung. Sie haben sogar Angst davor, wie ich bemerkt habe, als ich den Mann und die Frau auf der Bank ansprach. Die Vorstellung einer lebendigen Kommunikation versetzt sie in Schrecken. Die Menschen hier führen ein von sich selbst und von ihrer Umwelt abgegrenztes Dasein, wodurch ihre Welt mehr und mehr verfällt und in sich selbst zusammen bricht.

 

Es ist ein wirklich trauriger Anblick, der sich mir hier bietet. So gern würde ich die Menschen in meinen kleinen Garten einladen und sie die Schönheit der Natur erleben lassen. Wie die Blumen würden sie darin aufblühen und gleich Bäumen Wurzeln in der Erde schlagen. Die Sonnenstrahlen würden sie vom Großstadtdunst reinwaschen und in den grenzenlosen Weiten des Himmels würden sie ihre Seele wiederfinden und zu neuem Leben erwachen. Bei dieser Vorstellung wird mir bewusst, wie sehr ich meinen kleinen Garten vermisse. Viel zu lange weile ich schon in der grauen Stadt. Mein Wunsch, nach Hause zurück zu kehren, wächst und wächst...

 

...und dann bin ich wieder dort, wo ich hingehöre. Die Sonne lässt nach wie vor ihr goldenes Licht vom Himmel strahlen, das mich mit Lebensenergie auffüllt. Hoch oben in der Luft sehe ich die Vögel kreisen und ein munteres Lied anstimmen. In meine Nase dringt der Duft zahlreicher Blumen. Grashüpfer springen freudig durchs Gras. Eine Biene summt mir vertraut ihr Geheimnis ins Ohr. Um auszudrücken, wie sehr ich diesen friedvollen Ort liebe, fehlen mir die Worte. Deswegen schweige ich und bin einfach glücklich, hier zu sein.

 

Ein Schmetterling flattert zu mir herüber und setzt sich auf meiner Hand nieder. Ich betrachte mit Anmut seine blau schimmernden Flügel, seine sich bewegenden Fühler und Beinchen, mit denen er über meine Hand läuft, was ein wenig kitzelt. Kurz darauf erhebt er sich und fliegt wieder davon, dem Himmel entgegen. Das schimmernde Blau seiner Flügel verschmilzt immer mehr mit dem leuchtenden Blau des Himmels. Ich schaue ihm lange nach, bis ich nicht mehr erkennen kann, wo der Schmetterling aufhört und wo der Himmel anfängt. Und in diesem Moment erkenne ich, dass ich der Schmetterling und auch der Himmel bin und dass nicht ich im Garten sitze, sondern dass der Garten in mir ist.

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Texte: © Träumerin
Bildmaterialien: © Träumerin
Cover: © Träumerin
Tag der Veröffentlichung: 11.02.2022

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