Cover

Impressum

Impressum

 

 

»Strange Love – Nur mit dir!«

1. Auflage November 2017

Copyright © 2017 Ann D. Stevens

 

Korrektorat: Janne Vorman

Covergestaltung: Covermanufaktur Sarah Buhr mit Motiven von www.iStockphoto.com

 

Sämtliche Personen in diesem Roman sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind nicht beabsichtigt und rein zufällig und keinesfalls beabsichtigt.

 

Alle Rechte vorbehalten. Ein Nachdruck oder eine anderweitige Verwertung (insbesondere die Einspeicherung in elektronische Medien) ist nachdrücklich nur mit vorheriger schriftlicher Genehmigung der Autorin gestattet.

 

Ann D. Stevens

c/o All About Authors

Autorenservice

Merveldtstraße 221 f

45663 Recklinghausen

www.anndstevens.com

 

Sie können über Facebook Kontakt mit mir aufnehmen oder via Mail an Ann.Stevens@gmx.de

 

Guide to Contents

Inhaltsverzeichnis

 

Impressum

1. Happy Birthday

2. Notfallkontakt

3. Aufgewacht

4. Bitte lächeln

5. Willkommen daheim

6. Komm näher

7. Erstes Zwischenspiel

8. So etwas wie Alltag

9. New York Days

10. New York Nights

11. Zweites Zwischenspiel

12. Schritt zurück

13. Zwei Schritte zurück

14. Drittes Zwischenspiel

15. Überraschung

16. Notfallkontakt

17. Nicht-Scheidungstag

Danke!


1. Happy Birthday

 

 

 

 

1. Happy Birthday

 

 

Olivia

 

 

Fünf Jahre zuvor. Ungeduldig beobachtete ich, wie der große Zeiger über das Ziffernblatt kroch. Als es endlich elf war, riss ich die Schürze herunter und legte Arnie die Abrechnung auf den Tresen. Schon den ganzen Morgen saß ich auf glühenden Kohlen. Entsprechend schnippisch hatte ich einen Frühstücksgast nach dem anderen abgefertigt und ein eher schmales Trinkgeld kassiert. Aber das war mir egal. Für Danys Geburtstagstorte reichte es und nur darauf kam es heute an.

»Hey, Liv«, Arnie bedachte mich mit einem zweideutigen Blick, »wenn Dany beim Geburtstags-Sex schlappmacht, kannst du gern zurückkommen. Da opfere ich mich glatt.« Natürlich lag mal wieder der halbe Diner vor Lachen auf dem Boden. Wie immer, wenn Arnie einen geschmacklosen Scherz auf meine Kosten machte.

Sehr witzig. Arnie japste ja schon, wenn er einmal quer über den Parkplatz lief. Ich schenkte ihm ein honigsüßes Lächeln und sagte: »Gern! Aber vielleicht gibst du mir vorher die Nummer von deinem Kardiologen. Nur um sicherzugehen, dass ich dich nicht überfordere.« Das Grölen wurde lauter, was Arnie mit einem gutmütigen Grinsen quittierte. Der Kerl war ein Bulle und gab gern den wilden Stier. Aber im Grunde seines Herzens war er weich und als Chef ein Schatz.

»Lass dein Trinkgeld ruhig stecken«, raunte er mir zu, als ich nach meiner Tasche griff. »Die Torte geht aufs Haus. Aber sag’s nicht weiter. Bei Bettys wechselnden Lovern muss ich sonst jede Woche einen Kuchen ausgeben.« Ich bedankte mich, indem ich Arnie kurz an mich drückte. Für einen Außenstehenden musste es aussehen, als würde sich ein Hobbit gegen ein Mammut pressen.

Dann wandte ich mich um und stöckelte in die Damen-Toilette um die Wäsche zu wechseln. Ich hasste den Raum. Unter Truckern hatte es sich herumgesprochen, dass man bei Arnie nicht nur gut, sondern auch günstig essen konnte, weswegen der Parkplatz fast rund um die Uhr mit Lastwagen vollgestellt war. Nur verirrten sich selten Frauen in Arnies Diner. Weswegen er bei der großen Renovierung vor einem Jahr das Damen-Klo mit den Worten »das lohnt sich nicht« ausgespart hatte. Es war gruselig. Und es stank bestialisch.

»Verdammt, Olivia, du siehst aus, als hättest du drei Nächte durchgemacht«, redete ich mit mir selbst, als ich einen Blick in den fast blinden Spiegel warf. Dann kramte ich mein Make-Up-Täschchen hervor und begann, mich zu restaurieren. Nach einer halben Tube Concealer waren die Augenringe verschwunden. Das Vogelnest auf meinem Kopf bändigte ich zu einem Knoten. Mascara und Lip-Gloss. Endlich war ich zufrieden mit mir, denn ich sah nicht mehr übernächtigt aus.

Die Frühschicht im Diner und der Putzjob in der Nacht, das schlauchte ganz schön. Meist war ich von fünf Uhr nachmittags bis elf Uhr morgens im Dauereinsatz und das sah man mir langsam auch an. Aber mit ein bisschen Make-Up ... ich legte den Kopf schief und zwinkerte mir zu, bevor ich in die miefige Kabine schlüpfte und meinen Sport-BH gegen einen Hauch aus schwarzer Spitze nebst passendem String tauschte – mein eigentliches Geburtstagsgeschenk. Dany würde ausflippen. Lächelnd zupfte ich meinen Jeans-Rock und mein Shirt zurecht, bevor ich in die Küche stürmte.

»Olivia«, mein Name war so ziemlich das einzige, was der Koch Wu je in einer mir verständlichen Sprache gesagt hatte, obwohl ich mir sicher war, dass er englische Sätze zumindest begriff. Schließlich schaffte er es ohne Probleme, die Bons mit den Gäste-Bestellungen zu lesen.

»Hast du meine Torte fertig?«, fragte ich und lächelte ihn an.

»Olivia!« Diesmal schallte mein Name in einem hohen Singsang durch die Küche, wobei Wu die riesige Kühlzelle öffnete und eine weiße Pappschachtel herausnahm.

Ich bedankte mich bei Wu, von dem ich noch immer nicht sagen konnte, ob er aus Korea, China, Japan oder einem anderen Fleckchen Welt stammte, in dem man sich vorwiegend mit arg in die Länge gezogenen »auoows« verständigte.

»Olivia.« Ich war schon fast zur Tür heraus, drehte mich aber noch einmal um. Da stand Wu und schwenkte eine Tüte mit winzig kleinen Kerzen in der Luft.

»Wenn ich dich nicht hätte«, gab ich zurück und hielt ihm den Karton so hin, dass er die Tüte darauf ablegen konnte. Am liebsten hätte ich ihn zum Dank auch umarmt, denn an Kerzen hatte ich natürlich nicht gedacht.

Ich wandte mich ab, grüßte beim Durchqueren des Restaurants ein paar Stammgäste und stürmte zu Danys Auto. Nachdem ich die Torte vorsichtig auf den Beifahrersitz deponiert hatte, ließ ich mich hinter das Steuer des Camaro gleiten. Der Wagen war Danys ganzer Stolz. Obwohl ich die Raten zahlte, war es ein Wunder, dass er mir heute die Schlüssel überlassen hatte. Aber man musste sich nichts vormachen. Das verdankte ich wahrscheinlich nicht seinem Glauben an meine Fahrkünste, sondern Danys Bequemlichkeit. Gestern hatte er mit ein paar Kumpels in seinen Geburtstag gefeiert und mich nicht mitten in der Nacht vom Putzen holen und zu Arnie fahren wollen.

Als der Motor aufröhrte, strahlte ich. Dieses Baby hatte so viele Pferdestärken, dass man die Kraft unter der Motorhaube förmlich vibrieren spürte. Grinsend trat ich das Gaspedal durch und rollte zwischen den riesigen Trucks in Richtung Tankstelle, um noch schnell ein Sixpack Budweiser für Dany zu kaufen.

»Oliv, Oliv«, Pete wiegte hinter dem Tresen bedächtig das Kinn. »Du weißt doch, dass ich dir strenggenommen noch gar kein Bier verkaufen darf. Du bist neunzehn«, Pete schnalzte tadelnd mit der Zunge. Doch mein Alter hielt ihn nicht davon ab, ganz ungeniert in meinen Ausschnitt zu glotzen. »Was für ein Dankeschön kriege ich denn, wenn ich ausnahmsweise beide Augen zudrücke?«

»Lass mich überlegen«, ich legte den Finger an die Unterlippe und tat, als müsse ich angestrengt nachdenken. »Wie wäre es, wenn ich den Leuten von der Umweltbehörde nicht sage, dass du den Inhalt deines Chemie-Klos in der Wüste abkippst?«

Pete holte tief Luft. »Das kannst du nicht beweisen.« Der Rest seines Gegrummels verlor sich in seinem imposanten Bart. »Na gut«, gab er endlich nach. »Aber zahlen musst du trotzdem.«

»Liebend gern!« Das war nicht einfach dahingesagt. Ich hätte wirklich lieber eigenhändig den Inhalt seines Chemie-Klos in die Wüste gefahren, als dem Kerl etwas schuldig zu sein. Ohne mit der Wimper zu zucken blätterte ich die Scheine auf den Tresen und schwang mich wieder hinter das Steuer. Als ich das Radio andrehte, lief »Born to be wild« und ich war durchaus gewillt, das als Omen für eine wilde Nacht zu nehmen – obwohl jetzt eigentlich erst Vormittag war.

Als ich eine Viertelstunde später den Camaro auf den Parkplatz von Mister Hettenweilers »Trailer Paradise & Lodges« lenkte, winkte mir unser Nachbar. Vince war biblisch alt und hockte mal wieder auf einem Klappstuhl unter dem Vorzelt seines Wohnwagens. Wie immer knipste er mit dem Auge und schenkte mir anzügliche Blicke. Irgendwie schien ihn das jung zu halten. Neu war jedoch, dass er dazu laut und vernehmlich pfiff. »Du wirst immer hübscher, Süße«, rief er dermaßen laut, dass ich mich fragte, ob mit seinem Hörgerät etwas nicht stimmte.

»Alles in Ordnung, Vince? Soll ich dir neue Batterien besorgen?« Doch er schüttelte nur den Kopf und schwadronierte unverdrossen laut weiter.

»Setz dich doch zu mir, Olivia. Dann musst du auch das Sixpack nicht so weit schleppen. Das können wir gleich hier leeren.« Er redete sich in Rage, aber ich hörte gar nicht mehr hin, weil ich alle Hände voll zu tun hatte, mit der einen Hand die Torte zu balancieren und in der anderen das Sixpack zu tragen, während meine hohen Hacken mit jedem Schritt in die Wiese einsackten. Shit, das war mein bestes Paar Pumps. Ich hatte es extra angezogen, um Dany die Überraschungs-Torte ein bisschen Pin-Up-Like überreichen zu können.

Fluchend hielt ich an der Bank vor unserem Trailer, stellte die Torte ab, wischte die Absätze notdürftig mit einem Taschentuch sauber, steckte die vier Kerzen in die Sahnehäubchen und zündete sie an. Dann legte ich die letzten Schritte zurück, riss die Tür zum Trailer auf und – starrte fassungslos auf Danys Hintern, der splitterfasernackt vor meiner Nase wippte.

»Was zum Henker ...«, rief ich verblüfft, doch erst als ich einen Schritt zurücktrat, erfasste ich das Grauen wirklich.

Dany hatte die Arme nicht einfach nur so über den Kopf gereckt, sie waren mit Handschellen an einen der Oberschränke gefesselt. Darum schnellte auch nur sein Kopf herum. Der Rest von ihm stand steif. Stocksteif! Selbst sein Penis, der unternehmungslustig vor Grace Meriners Gesicht auf und ab wippte.

»Baby«, Dany brüllte beinahe, während Grace hastig zurückwich. Aus dem Augenwinkel registrierte ich den verschmierten, nuttig roten Lippenstift und die riesige Geschenkschleife, die sie über ihre Silikon-Möpse drapiert hatte. »Das ist nicht ...«

»Scheiße, sag jetzt nicht, dass es nicht das ist, wonach es aussieht. Wag es nicht!«, schrie ich hysterisch.

»Aber es ist nicht ... es bedeutet nichts. Gar nichts. Sie ist mir völlig egal. Sie kam hier so vorbei und hat mit ihren Titten gewackelt und ...« Danny klang wie ein brodelnder Kessel kurz vor der Explosion.

»Waaaas?«, brüllte Grace. »Aber du hast gesagt du liebst mich«, jaulte sie auf.

Grundgütiger, ich wollte gar nicht wissen, was er dem amtierenden Flittchen vom »Trailer Paradise« noch alles ins Ohr geflüstert hatte. Damit sie es mir nicht doch noch brühwarm unter die Nase rieb, drückte ich ihr die Torte ins Gesicht. Zu schade, dass die Kerzen schon ausgegangen waren, sonst wären ihre blonden Extensions glatt abgeflämmt. Doch so war der Effekt verblüffend. Es klang, als würde man Wasser in einen Lautsprecher kippen. Die Worte verebbten in einem vollmundigen Schmatzen, bis endlich Stille herrschte.

Wenn man von Dany absah, der jetzt aufschrie, weil ich ihm mit Wucht die Hände in die Seiten rammte, um mich an ihm vorbei in den Wohnwagen zu quetschen. Kaum hatte ich es geschafft, rempelte ich Grace aus dem Weg und hastete in Richtung unserer Schlafkoje. Ich zahlte hier die Scheiß-Miete. Ich schleppte das Essen ran und überwies Monat für Monat die Raten für Danys verdammten Camaro. Wenn ich jetzt ging, fand ich, dass wir wenigstens quitt sein sollten.

Ein Griff unter die Matratze und ich hatte, was ich suchte: Den Umschlag, in dem Dany das Geld für seine Vegas-Trips aufbewahrte. Ich wusste nicht, wie viel er aktuell angehäuft hatte, aber es war sicher nicht mehr, als er mir schuldete.

»Fuck, Liv, das würde ich an deiner Stelle nicht tun«, Dany wütete und zerrte an dem Griff, an den Grace ihn gekettet hatte. Doch es half nichts. Tja, mein Freund, du hast drei Monate gebraucht, um den verdammten Griff endlich anzuschrauben, und wie es scheint, hast du dir wenigstens damit Mühe gegeben. Ein böses Grinsen spielte um meine Mundwinkel, während ich hastig ein paar Klamotten aus dem Schrank riss und sie in Danys Sporttasche stopfte.

Viel Zeit blieb mir nicht mehr, denn jetzt hatte auch Grace sich vom ärgsten Zuckerguss befreit und fluchte ganz ungeniert durch den Trailer. »Du miese Bitch. Ich kratz dir die Augen aus. Dany ist viel zu gut für dich.« Könnten Blicke töten, wäre ich durchlöchert wie ein Sieb. Grace schaute dermaßen wütend und mordlüstern, dass es nicht mehr lange dauern konnte, bis sie mich ansprang. Also stopfte ich den Umschlag oben in die Tasche und zog den Reißverschluss zu.

Auf dem Weg zurück zur Tür fiel mein Blick auf den Tisch, auf dem ein Miniaturschlüsselbund lag. Wenn der mal nicht die zu den Handschellen gehörte. Grace, die meinem Blick gefolgt war, wollte danach greifen, doch ich schubste sie noch einmal unsanft beiseite und griff mir die Dinger, während Dany immer weiter schrie.

»Du dumme Bitch. Gib mir den Schlüssel und den vom Camaro auch.«

»Ich denk nicht dran. Wer zahlt denn dafür? Das bin doch wohl ich«, herrschte ich Dany an, der jetzt mit gegrätschten Beinen und erstaunlich blutleerem Schwanz den Ausgang versperrte. Fast tat es mir leid, aber es musste wohl sein. Ich hob das Knie und kickte in seine Kronjuwelen. Nicht sehr fest. Zumal man das Bein in einem Jeans-Mini ohnehin nicht sehr hoch heben kann. Aber es reichte, um ihn erneut aufjaulen zu lassen wie einen angefahrenen Kojoten.

»Du Schlampe.« Dany keuchte und kniff die Augen zu. Zum Glück. Ich nutze den Moment, schlüpfte an ihm vorbei und raus ins Freie.

Dort fiel mein Blick auf Vince, der noch immer in seinem Camping-Stuhl saß und recht schuldbewusst dreinschaute. Von wegen, leere Batterien. Der Mistkerl hatte so geschrien, weil er ganz genau gewusst hatte, was hier drin abgelaufen war. »Hier«, rief ich und warf die Schlüssel quer über die Wiese in Vince’ Richtung. »Mach ihn ruhig los, du Verräter.«

»Sorry, Liv«, mehr brachte er nicht über die Lippen. Und diesmal sprach er sogar so leise, dass es in Danys und Grace’ Gezeter beinahe unterging. Junge, die brüllten sich im Wohnwagen so wahnsinnig an, dass ich hier draußen jedes Wort verstand.

Nachdem ich die Tasche hastig im Camaro verstaut hatte, trat ich aufs Gas, raste in Richtung Highway und wagte erst nach zweihundert Meilen, Pause zu machen. Mit letzter Kraft stöckelte ich in den nächstbesten Diner. Dort konnte ich die Tränen wirklich nicht mehr zurückhalten. Wohin jetzt? Was sollte aus mir werden. Zu meiner Mom konnte ich auf keinen Fall zurück. Es sei denn, ich wollte mich von ihrem neuen Lover noch einmal nachts im Schlaf überraschen lassen.

Vor lauter Frust begann ich, unter dem Tisch das Geld im Umschlag zu zählen, das waren tausend, zweitausend ... fast fünftausend Dollar. Okay, mit ein paar hundert hatte ich gerechnet. Aber das hier war so viel, dafür würde Dany mich definitiv suchen und mir den Hals umdrehen. Vor Schreck und Panik rieselte es mir eiskalt den Rücken herunter. Wo konnte ich mich verstecken?

»Alles in Ordnung, Schätzchen?« Die Kellnerin kam mit einer riesigen, dampfenden Kaffeekanne und füllte meinen Becher nach. »Du wirkst, als würde es dir nicht gut gehen.«

»Doch. Nein ... ich ...« Ich stotterte wie ein Backfisch beim ersten Date. Was vielleicht daran lag, dass die Angst langsam aber sicher jede Faser meines Körpers flutete. Dany war rachsüchtig. Und er konnte hartnäckig sein. Vielleicht nicht, wenn es darum ging, sich einen legalen Job zu suchen, aber wenn er mit jemanden eine Rechnung offen hatte, war er nicht zu bremsen. Das wusste ich von den Botengängen, die er regelmäßig für Fat Al erledigt hatte. Mir war es eiskalt den Rücken heruntergerieselt, als ich rausgefunden hatte, dass Dany den Forderungen nach Schutzgeld, die er in Als Namen überbrachte, meist mit gebrochenen Nasen oder Fingern Nachdruck verliehen hatte. So betrachtet war es ganz großer Mist, dass ich jetzt die war, die ganz oben auf Danys »Offene Rechnungen«-Liste stand. »Gibt es hier in der Nähe ein Motel, in das ich einchecken kann, ohne dass ich ...«

Die Kellnerin – Eva stand auf dem Schild an ihrem Revers – grinste mich an. »Ohne Papiere?»

Ich nickte.

»Na dann ...«, sie überlegte kurz. »Die nächste Ausfahrt raus, rechts und nach fünf Kilometern auf der linken Seite findest du ›Joe’s Inn‹. Ist vielleicht nicht das erste Haus am Platz, aber er wechselt die Wäsche regelmäßig und das Bad ist sauber. Sag, dass ich dich schicke. Dann geht das klar.«

Zwei Stunden später saß ich in ein Handtuch gewickelt auf dem Bett und starrte auf die Visitenkarte, die ich seit einem halben Jahr mit mir herumtrug. Ein Typ in Arnies Diner hatte sie mir in die Hand gedrückt. Eigentlich hatte ich sie sofort wegwerfen wollen. Aber der Kerl war so penetrant gewesen, dass ich sie unter seinen Augen in mein Portmonee geschoben hatte, damit er endlich Ruhe gab. Seit Monaten hatte ich nicht daran gedacht – bis jetzt. Plötzlich schien sie mir wie ein Lichtblick. Das Angebot war nicht ganz legal. Soviel stand fest. Aber wenn ich bei der Sache mitmachte, würde mir das einen neuen Namen bringen und das nötige Startkapital, um irgendwo in der Sonne neu anzufangen. Ich holte tief Luft, dann schaltete ich mein Handy ein und wählte.

 

* * *

 

»Der Camaro wird im Laufe des Tages abgeholt«, ließ ich den Kerl an der Anmeldung wissen, als ich am nächsten Morgen auscheckte und mir ein Taxi bestellte. Ich trennte mich schweren Herzens von dem rassigen Wagen, aber mit der Flammen-Lackierung auf der Motorhaube war er einfach zu auffällig, um damit ungesehen durchs Land zu rollen. Zumal ich dumme Nuss zugelassen hatte, dass die Papiere auf Danys Namen lauteten. Er kriegte es glatt fertig, mich wegen Diebstahls anzuzeigen. Sollte der Mistkerl seinen geliebten Wagen doch behalten und zusehen, wie er künftig die Raten zahlte. Mir stank es schon lange. Oder nein, korrigierte ich mich stumm. Es hätte mir stinken sollen! Aber ich war so verliebt gewesen, dass mir alles recht gewesen war, Hauptsache Danny war glücklich.

Und da poppte plötzlich wieder der Gedanke auf, der mich in schlechten Phasen immer beschlich. Ich war neunzehn. Ohne Schulabschluss, ohne festen Wohnsitz und ohne Familie. Vielleicht sollte ich mir langsam Sorgen um mein eigenes Glück machen, statt mich ständig für das anderer zuständig zu fühlen. All das rumorte so wild in meinem Kopf, dass mir schon wieder die Tränen kamen. Ich setzte die Sonnenbrille auf, schaltete mein Handy ein und schon bimmelte es wie verrückt, weil seit gestern tausend Nachrichten und Anrufe eingegangen waren. Schweren Herzens schickte ich Arnie eine SMS, bedankte mich für alles und kündigte. Die nächste Kurznachricht ging an meine Schichtführerin vom Putztrupp. Ein schrecklicher Besen. Weswegen ich ihr lediglich mitteilte, dass ich nicht mehr kommen würde.

Tja, und dann waren da noch unzählige Anrufe und Droh-Nachrichten von Danny, dem Kotzbrocken. Ich überlegte, was ich ihm schreiben sollte. Bis mir aufging, dass ich ihm nichts mehr zu sagen hatte.

Ich wollte das Handy gerade wieder ausmachen, um die SIM-Karte wegzuwerfen, als das Ding rappelte, weil eine neue Nachricht eingegangen war. Arnie hatte geschrieben. »Ich hab mir schon sowas gedacht. Der Typ ist nicht koscher. Melde dich, wenn du was brauchst. A.« Rasch notierte ich Arnies Nummer in meinem Kalender, dann zog ich endgültig die Karte heraus und warf sie aus dem Taxi-Fenster.

»Wow, Lady, wer ist denn hinter Ihnen her?«, wollte mein Chauffeur wissen.

»Mein Ex«, knurrte ich, während sich unsere Blicke im Spiegel trafen.

»Dacht ich’s mir doch. Sonnenbrille bei wolkenverhangenem Himmel, das ist ein bisschen auffällig.«

Ich nickte nur. Was sollte ich es auch abstreiten? Mein ganzes Gesicht war verquollen, hin und wieder schniefte ich ja jetzt noch, weil die Tränen sich nicht zurückhalten ließen.

»Wenn Sie Lust auf einen Kaffee haben?« Wieder sah er mich im Rückspiegel an, diesmal spielte ein erwartungsfrohes Lächeln um seine Lippen.

Heilige Scheiße! Das war typisch Mann. So sensibel wie ein Sack Beton. Als hätte ich gerade keine anderen Sorgen, als mich dem nächsten Kerl an den Hals zu werfen. Es war echt Zeit, dass wir an der Busstation ankamen. »Danke!«, sagte ich garstig. »Da verzichte ich liebend gern.«

 

2. Notfallkontakt

 

 

 

 

2. Notfallkontakt

 

 

Olivia

 

 

Fünf Jahre später. »Spreche ich mit Olivia Lefèvre?« Eine sauertöpfische Frau aus dem »Miami Memorial« bellte so laut in den Hörer, dass mir das Telefon beinahe aus den Fingern flutschte. Zumal meine Hände über und über mit Mehl bestäubt waren.

»Am Telefon«, sagte ich und hörte, wie skeptisch ich klang. Susi stand neben mir in der Backstube, Mister Winefine saß vorn im Café und schlürfte den zehnten Becher Kaffee. Mehr (Wahl)Verwandte hatte ich nicht. Weswegen mein Handy so gut wie nie bimmelte. Und meine einzige wirkliche Verwandte schied nun mal aus.

Seit ich mit sechzehn weggelaufen war, hatte Mom alle meine Anrufe abgeblockt. Meine Briefe waren erst mit dem Vermerk »Annahme verweigert«, später mit der Nachricht »Empfänger unbekannt verzogen« zurückgekommen. Ich machte mir keine Illusionen, das ließ sich nicht mehr kitten. Dazu war der Streit bei meinem Auszug zu heftig gewesen.

Mom und ihr neuer Lover hatten mal wieder gefeiert. Sie war sturzbetrunken auf dem Sofa im Wohnzimmer eingeschlafen, während er – wie schon andere vor ihm – versucht hatte, unter meine Decke zu schlüpfen. Als ich ihr am nächsten Tag davon erzählt hatte, war sie ausgerastet. Erst hatte sie mich eine Lügnerin, dann eine Schlampe genannt und später ihre Taktik geändert und behauptet, ich hätte ihn angemacht und provoziert, dass er scharf auf mich gewesen war. Klar. Ein schwitzender, übergewichtiger, wulstlippiger Wicht. Genau das, was ich mir mit sechzehn in meinen Jungmädchen-Träumen ersehnt hatte.

Nein, ich konnte mir wirklich keinen Reim darauf machen, was das »Miami Memorial« von mir wollte – es sei denn, sie warben jetzt schon telefonisch um Spenden für ihre Krebsstiftungen.

Doch die rabiate Krankenschwester ließ sich von meiner Zugeknöpftheit nicht weiter beeindrucken. »Sie sind als Notfallkontakt von Lucien Lefèvre angegeben.«

»Das kann eigentlich nicht ... ehrlich?«, fragte ich verblüfft.

Sie schnaubte verächtlich. »Denken Sie, ich telefoniere mich quer durch die Verwaltung, um an Ihre Nummer zu kommen, nur weil ich es lustig finde, Sie in den April zu schicken? Falls ja, liegen Sie falsch. Ich rufe an, um sie einzubestellen. Doktor Singer möchte dringend mit Ihnen reden.« Es war ihr deutlich anzuhören, wie krumm sie es nahm, mit einer begriffsstutzigen Plage wie mir gestraft zu sein.

»Einbestellen?« Verdutzt sah ich den Hörer in meiner Hand an.

»Exakt. Es ist ja auch nicht schwer zu verstehen, nicht wahr?«, seufzte sie schnippisch. »Also was ist? Können Sie herkommen? Gleich?« So, wie sie das sagte, klang es wirklich eilig.

»Sind Sie sicher, dass nicht noch jemand anderer in Frage kommt? Eltern? Enge Freunde?«

»Enger als sie?« Jede Silbe war eine sarkastische Anklage. Mir gefror das Blut in den Adern. Wie sollte ich der Frau erklären, dass ich Lucien Lefèvre noch nie im Leben getroffen hatte? Ausgeschlossen. Das ließ sich nicht erklären. Es sei denn, ich wollte riskieren, dass als nächstes die Cops herkamen und mich wegen Hochstapelei verhafteten.

»Schon gut!«, beeilte ich mich also zu sagen und ärgerte mich über mich selbst. Irgendwann musste ich den dummen Reflex, immer gleich springen zu wollen, wenn jemand unzufrieden mit mir war, doch mal ablegen. Doch heute war anscheinend nicht der Tag dafür.

»Also kommen Sie? Kann ich das dem behandelnden Arzt so ausrichten?«

»Von mir aus.« Ich knurrte es voller Widerwillen heraus, bevor ich mir den Namen der Station notierte und auflegte.

Lucien Lefèvre war vor fünf Jahren meine Rettung gewesen. Genauer gesagt ein Dokument, das ich unterschrieben hatte.

»Was ist los? Ist was passiert?« Susi wischte ihre mehligen Finger an der Kochschürze ab. Dann strich sie ein paar verirrte Haarsträhnen hinter ihr Ohr und setzte sich auf die freie Seite der Anrichte. Susi war so ziemlich genau der Stoff, aus dem die Mädchen in den Model-Sendungen immer waren.

Außer dem blonden Haar hatten wir herzlich wenig gemein. Susis Haar glänzte stets wie das Fell eines frisch gestriegelten Pferdes. Sie ging täglich joggen und dreimal die Woche zum Pilates und lebte in der festen Überzeugung, dass ein Leben ohne Kalorienzählen sinnlos war. Ich hatte weder die Zeit noch das Geld für solchen Luxus und wenn ich doch einmal nichts zu tun hatte, wäre ich im Leben nicht auf die Idee gekommen, mich zusammen mit tausenden anderen schwitzenden Menschen joggend über die Uferpromenade zu bewegen. Meine Leidenschaft galt dem Kochen und meinen Büchern. Beides nicht gerade schweißtreibende Hobbys. Entsprechend waren meine Hüften rund und mein Hintern verlangte nach mindestens einer Kleidergröße mehr, als Susi sie trug – obwohl ich ohne meine geliebten Heels um mindestens einen Kopf kleiner war. Abgesehen davon hatte Susi immerzu fast unanständig gute Laune. Manchmal machte ich mir wirklich Sorgen über den Kontrast, den wir boten, denn neben ihr wirkte ich mollig und mürrisch.

»Ich muss mal weg«, sagte ich unbestimmt.

»Ah, und wie lange? Ich dachte, wir wollten heute den Mittagstisch für die nächste Woche planen, damit du zum Großmarkt fahren kannst.«

Das war in der Tat eine gute Frage. Ich konnte den Leuten im »Miami Memorial« rein gar nichts Erhellendes über Lucien Lefèvre sagen. Höchstens zuhören, wenn der Arzt irgendwem erklären wollte, was genau mit dem Mann los war. Und das würde nicht ewig dauern. »Eine Stunde vielleicht«, sagte ich und zuckte die Achseln. »Maximal zwei.« Zumindest hoffte ich, dass es nicht länger dauern würde, denn mein Arbeitsplan quoll über. Nur konnte ich mir außer Susi leider keine Angestellten leisten. Entsprechend waren Susi und ich am Limit.

»Gut, dann halte ich hier so lange die Stellung und bereite das vor, was ich allein machen kann.«

»Oh, du bist einfach ein Schatz«, sagte ich und drückte Susi kurz an mich. Wir waren ohnehin beide mit Mehl besprenkelt, so dass ich mich nicht weiter vorsehen musste. Allerdings konnte ich mich so kaum im Krankenhaus blicken lassen. Beziehungsreich zupfte ich an meinen Klamotten. »Ich springe rasch nach oben und ziehe mich um. Dann bin ich weg.« Ich schnappte mein Portmonee und mein Handy, bürstete das Mehl aus meinen Haaren und schlüpfte in ein geblümtes, leichtes Sommerkleid. Trotzdem war ich schon wieder nassgeschwitzt, als ich in meiner aufgeheizten Nuckelpinne eine halbe Stunde später das Krankenhaus erreichte.

An einem Glas-Aquarium, in dem sich Pfleger in blauen Kitteln tummelten, machte ich Halt. Gott, ich beneidete die Leute glühend, weil sie in der unerträglichen Sommerhitze nicht in einer warmen Backstube, sondern auf einer klimatisierten Station arbeiteten. Obwohl, tauschen wollte ich lieber nicht. Irgendwie tat ich mich seit der Sache mit Danny schwer damit, mich fremden Menschen zu öffnen. So unbedarft, wie ich den Gästen in Arnies Diner begegnet war, so zugeknöpft war ich jetzt. Außerdem konnte ich noch nicht mal mein eigenes Blut sehen. Geschweige denn das Fremder.

»Wo finde ich Lucien Lefèvre?«, fragte ich, nachdem ich geklopft und den Kopf zur Tür hereingestreckt hatte.

»Hier bei uns auf der Intensiv-Station«, klärte mich jemand auf – nachdem er von seinem Sandwich abgebissen hatte. Ich beeilte mich, einen Schritt zurückzutreten, um nicht von umherfliegenden Truthahn-Bröckchen getroffen zu werden.

»Ah ...«, sagte ich schwach und sah den Mann unschlüssig an. »Und was soll ich jetzt machen? Eine Schwester hat mich angerufen, weil ich für Lucien Lefèvre als Notfallkontakt angegeben bin.«

»Das war ich!« Eine sauertöpfische Frau, die bis jetzt in einem riesigen Arzneimittelschrank herumgekramt hatte, lehnte sich ein Stück zurück und lugte an der Schranktür vorbei. Bevor sie – triefend vor Ironie – erklärte: »Na, da hat sich ja jemand überschlagen.«

Himmel, die Frau war genau so, wie sie sich angehört hatte. Mürrisch, grobschlächtig und so übellaunig, dass ich mir wie das reinste Sonnenscheinchen vorkam.

»Richtig!«, gab ich ebenso kühl zurück und fügte noch um ein paar Grad frostiger hinzu: »Ich habe mich überschlagen. Wenn Sie mir jetzt sagen würden, wie es weitergeht.«

Irgendwo in dem Gewühl aus OP-Kitteln gluckste jemand amüsiert und ich fragte mich, wie oft Schwester Robusta derlei Auseinandersetzungen führte.

»Ich hole den Arzt. Sie warten.« Mir erschien das reichlich schnippisch. Aber wenn man bedachte, wie sie sich mir gegenüber bis jetzt benommen hatte, war es nur konsequent.

Kaum hatte sie den Raum verlassen, schaltete sich ein Pfleger ein. »Möchten Sie ein Wasser, während Sie warten? Es kann sein, dass Doktor Singer sich noch im OP befindet. Dann dauert es etwas länger.«

Dankbar nahm ich den Pappbecher und ließ mich in das Vorzimmer des Arztes führen. Keine fünf Minuten später erschien er. »Miss Lefèvre«, er reichte mir die Hand und bedeutete mir, ihm zu folgen. Wie betäubt lief ich ihm hinterher. Erst als er vor einer breiten Schiebetür Halt machte, die aus matt gebürstetem Edelstahl bestand, blieb auch ich stehen.

»Hören Sie ...«, hob ich an. Doch dann wurde mir klar, dass ich keine Ahnung hatte, was ich sagen sollte.

»Misses Lefèvre, wir müssen eine Entscheidung treffen und zwar schnell.« Er wies auf eine breite Gestalt, die in einem Bett lag und an ein halbes Dutzend Monitore angeschlossen war.

»Aber ich ...«

»Ja?«

Nervös zupfte ich an meinen Fingern und kaute vor lauter Verlegenheit an meiner Lippe. »Wenn ich jetzt mit Ihnen rede, unterliegt das, was ich Ihnen sage, der ärztlichen Schweigepflicht?«

Doktor Singer nickte knapp, wobei er leicht die Augen verengte. Der Mann war Mitte dreißig und wirkte so, als könne man ihm alles anvertrauen. Und selbst wenn nicht – welche Wahl hatte ich? Stockend fing ich an und wurde dann immer hastiger.

Er hörte geduldig zu und als ich fertig war, seufzte er. »Missliche Lage. Und was erwarten Sie jetzt von mir?«

»Sie sagen mir, was Sie tun würden, wenn das Ihr ... Ihr Bruder wäre. Und ich werde dann allem zustimmen«, mein Blick schweifte wieder unruhig durch das Zimmer und ich war froh, dass ich vor lauter Apparaturen und Instrumentenwagen den Mann im Bett kaum sehen konnte. Das machte es weniger persönlich.

Doktor Singer gab sich die größte Mühe, mir verständlich zu erklären, was passiert war und was er vorhatte. Aber für mich, eine Schulabbrecherin mit minimalen Bio-Kenntnissen war es trotzdem nicht leicht, seinen Ausführungen zu folgen.

»Gibt es aus Ihrer Sicht eine Alternative?« Wieder biss ich auf meine Lippe. Langsam tat es weh.

»Nein, gibt es nicht. Wir müssen operieren. Und wir brauchen Ihre Einwilligung, damit wir mehr machen können als die dringend erforderlichen Notfallmaßnahmen. Mit einem Gips und einer Transfusion ist ihm nicht geholfen.«

»Gut, dann zeigen Sie mir, wo ich unterschreiben soll.«

Er zögerte fast unmerklich. Ich hatte den Eindruck, dass er noch etwas sagen wollte, doch dann drehte er sich um und lief zurück zu seinem Büro. Ich folgte ihm wie ein Dackel. Dabei schwirrte mir die ganze Zeit im Kopf herum, dass ich ebenso gut dort liegen könnte. Allein, mit einem Notfallkontakt, der keinen Bezug zu mir hatte und willfährig alles unterschrieb, was der Arzt ihm vorlegte. Umgekehrt gab es niemanden, für den ich hilfreicher sein könnte. Selbst meine Mom und ich hatten uns so weit voneinander entfernt, dass ich nicht hätte sagen können, was sie sich in einem Notfall wünschte. Ich fröstelte, während ich nach dem Stift griff und überall da, wo Doktor Singer Kreuzchen gemacht hatte, unterzeichnete.

Danach ließ ich mich auf dem Gang auf eine Bank fallen und wählte die Nummer vom Café. Es hatte kaum geläutet, als auch schon abgehoben wurde. »Susi, ich brauche hier länger. Kannst du heute auch noch die Nachmittagsschicht übernehmen? Und dann ...« Ja was? Ich hatte keine Ahnung, wie lange das hier dauern würde. »Vielleicht wäre es auch gut, wenn du morgen eine längere Schicht einplanst.«

Kurz war es still. Ich sah förmlich vor mir, wie sie ihr Stupsnäschen krauste und angestrengt überlegte, was passiert sein könnte. Normalerweise schätzte ich diese Anteilnahme. Doch diese Sache war so schäbig, dass ich es nicht über mich brachte, sie zu erzählen. Zum Glück fragte sie nicht weiter.

»Klar kann ich das machen. Wir könnten aber auch Kim fragen, ob sie Zeit hat.«

»Ausgezeichnete Idee«, beeilte ich mich zu sagen. Kim hatte bei größeren Catering-Bestellungen schon öfter als Aushilfe für mich gearbeitet. Aber wir hatten sie noch nie so kurzfristig engagiert. »Wenn sie es zeitlich einrichten kann, buch sie für die ganze Woche. Dann kann ich auch alles erledigen, was liegengeblieben ist.« Ich verabschiedete mich von Susi und legte auf.

Über den langen Flur, in dem überall Spender für sterile Lösungen und Hygiene-Hinweise angebracht waren, ging ich zurück in das Zimmer von Lucien Lefèvre.

Das Bett war weg. Bestimmt lag er längst auf dem OP-Tisch. Ich merkte, wie mein Magen bei dem Gedanken, er könne das nicht überleben, rebellierte. Hoher Blutverlust klang zumindest wenig mutmachend. Dabei kannte ich den Mann nicht. Ja, ich war ihm noch nie begegnet. Trotzdem fühlte ich irgendwo tief in mir eine Unruhe, die mich davon abhielt, nach Hause zu fahren.

Ächzend ließ ich mich in einen Lehnstuhl am Fenster sinken, streifte die Schuhe ab und zog die Füße an, bevor ich das Gesicht in den Händen barg. Es war Irrsinn, hier zu sitzen und auf einen völlig Fremden zu warten. Und doch fühlte ich mich verpflichtet, da zu sein, wenn er zurückgebracht wurde und aufwachte. Niemand sollte so etwas allein durchstehen müssen. Und wenn ich es recht bedachte, war ich ihm etwas schuldig. Ohne ihn wäre mein Neuanfang in Miami nicht so reibungslos über die Bühne gegangen.

Ich schloss die Augen und dachte zurück an das Telefonat, das ich vor fünf Jahren aus dem schäbigen Motel in Des Moines geführt hatte. Obwohl es Monate her gewesen war, dass er mir seine Karte gegeben hatte, schien der Mann am anderen Ende der Leitung förmlich auf meinen Anruf gewartet zu haben.

Dann war es recht schnell gegangen. Noch bevor ich am Morgen mein Motelzimmer geräumt hatte, war ein Bote mit den Papieren gekommen. Alles wasserdicht. Amtsstempel, Unterschriften. Nur meine hatte noch gefehlt.

»Misses Lefèvre?«, eine Frau in einem Krankenhaus-Kittel stand in der Tür. Ihre warmen braunen Augen ruhten mitfühlend auf mir. »Das Mittagessen wird gerade gebracht und wir haben einen Salat übrig. Wenn Sie möchten?« Sie hob fragend die Brauen.

Ich schüttelte den Kopf. »Danke, aber ich glaube nicht, dass ich etwas herunterbringe.«

»Verstehe, die Nervosität. Doch vielleicht überlegen Sie es sich noch einmal. Sie werden Ihre Kraft noch brauchen.« Wie viele Menschen, die in echter Sorge um ihre Angehörigen waren, mochten dieser Frau schon über den Weg gelaufen sein? Sie schien mich für eine davon zu halten. Das sagte ihr verständnisvolles Lächeln. Aber da lag sie falsch. Ich hatte schlicht keinen Hunger.

Susi und ich brachten vor dem Morgengeschäft nie etwas herunter. Erst wenn die Stoßzeit vorbei war, setzten wir uns zu einem verspäteten Frühstück zusammen. Davon war ich noch immer pappsatt. Doch das würde ich der mitfühlenden Schwester nicht auf die Nase binden. »Ich nehme ihn. Vielleicht bekomme ich ja später noch Hunger«, gab ich tonlos zurück und sah dann wieder zum Fenster hinaus. Es fehlte gerade noch, dass sie über Lucien Lefèvre reden wollte. Was hätte ich auch sagen sollen?

 

Als das Krankenbett Stunden später mit einem Scheppern hereingefahren wurde, schreckte ich so panisch aus dem Schlaf, dass ich beinahe vom Stuhl gefallen wäre. Es wunderte mich kaum, dass Schwester Rabiata mich mit einem vernichtenden Blick bedachte. »Falls es sie interessiert: Während Sie Ihren Schönheitsschlaf gehalten haben, war es für Ihren Mann ganz schön knapp.«

»Knapp?« Echote ich mechanisch und wollte den Kittel abstreifen, den man mir beim Betreten der Station gegeben hatte.

»Ja«, sie bedachte mich mit einem weiteren vernichtenden Blick, »sehr knapp!«

Eine andere Schwester, die gerade eine Infusion angehängt und an den Geräten herumgedreht hatte, sah die biestige Zicke kopfschüttelnd an. Das konnte doch alles nicht wahr sein. Zumal mir die beiden simplen Worte »Ihr Mann« einfach nicht in den Kopf wollten. Sie rumorten wie eine Flipperkugel durch mein Hirn und ergaben einfach keinen Sinn. Trotzdem sprach ich sie laut aus, nachdem die beiden Schwestern gegangen waren und die Schleusentür sich geschlossen hatte: »Mein Mann.«

Fast stimmte es mich traurig, dass ich dabei rein gar nichts empfand. Dabei war es genau das, was ich mir als junges Mädchen immer gewünscht hatte. Nähe, Zärtlichkeit, jemand, der für mich da war. Schade, dass mein Männergeschmack so beklagenswert schlecht war. Irgendwie griff ich immer daneben.

Vor Danny hatte es Michael gegeben. Soweit ich wusste, saß er noch immer in einem Knast in Kansas ein, weil er auf Bestellung Luxus-Wagen geklaut hatte. Davor war ich mit Peter zusammen gewesen. Der Mistkerl hatte immer dienstags und donnerstags Zeit für mich gehabt und war ansonsten mit seinem Leistungssport so ausgelastet gewesen, dass wir höchstens hatten telefonieren können. Bis ich dahintergekommen war, dass es eine Mittwochsfrau gab und eine, mit der er sich montags und freitags traf, bevor er am Wochenende in sein Auto gestiegen und heim zu Frau und Kindern gefahren war. Ich war die schlechteste Menschenkennerin der Welt – insbesondere bei Männern versagten all meine Sensoren. Weswegen ich mir zu Susis regem Liebesleben jeden Kommentar verkniff.

Ein leises Piepsen riss mich aus meinen Gedanken. Doch kaum hatte ich das Gerät entdeckt, von dem das Geräusch ausging, war es schon wieder verklungen. Dennoch erhob ich mich, um nach meinem Mann zu sehen. Zögerlich setzte ich einen Fuß vor den anderen und ließ den Anblick auf mich wirken.

Der wuschelige, dunkle Haarschopf war das erste, was ich wahrnahm. Auf dem hellen Kopfkissen wirkten die wirren Strähnen wie ein Fremdkörper. Mein Blick glitt über sein schönes, markantes Gesicht. Dann fielen mir seine breiten Schultern auf. Überhaupt schien er mir groß und trainiert. Zumindest, soweit ich es unter der Decke ausmachen konnte. Gott, es war so seltsam, neben einem völlig Fremden zu stehen und nicht zu wissen, was man tun sollte. War es diesem Mann überhaupt recht, wenn ich mich in seinem Zimmer aufhielt?

Tja, Liv, was würdest du wollen? Dass jemand da ist, dem es nicht egal ist, ob ich sterbe, schoss es mir durch den Kopf.

Ich zögerte, doch dann nahm ich den gepolsterten Lehnstuhl, in dem ich geschlafen hatte, zog ihn zum Bett und griff behutsam nach seiner gebräunten Hand. Sie war eisig kalt und riesig. Meine Hand versank fast darin. Trotzdem suchte ich mir eine Position, in der ich ihn festhalten konnte, ohne dass ich Gefahr lief, die Kanüle aus seinem Handrücken zu ziehen. Ich hätte die andere genommen, aber die war in eine Schiene gebettet und mit Verbänden umwickelt.

Ob er das wohl spürte? Ob er überhaupt irgendetwas von dem, was um ihn herum vor sich ging, mitbekam? Einerseits wünschte ich mir, dass zumindest ein kleiner Funken meiner Kraft auf ihn

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Tag der Veröffentlichung: 17.02.2019
ISBN: 978-3-7438-9699-4

Alle Rechte vorbehalten

Nächste Seite
Seite 1 /