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ANNE STEVENS
Copyright © 2018 Anne Stevens
Alle Rechte vorbehalten!
Nachdruck, auch in Auszügen, nur nach vorheriger schriftlicher Genehmigung der Autorin. Gleiches gilt für die Einspeicherung in elektronischen Medien.
Alle Personen und Handlungen dieses Romans sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden Personen sind rein zufällig und keinesfalls beabsichtigt.
ISBN: 9781718149441
Inhaltsverzeichnis
Für Gisela!
Heute ist also der große Tag?« Susi hatte mich nicht vergessen. Was vielleicht auch daran lag, dass ich aufgedonnert wie ein Pfingstochse durchs Foyer stöckelte.
Zum Bleistiftrock meiner Mitbewohnerin Trisha, der sich nicht ganz schließen ließ, trug ich die Lieblingspumps meiner Nachbarin Marla. Und eine der Blusen, die Dad mir zum Start ins Berufsleben geschenkt hatte. Sie war blassrosa, tailliert geschnitten, hatte kleine runde Perlmuttknöpfe und Rüschen an den Säumen. Damit war sie alles, was ich selber nie kaufen würde. Zum Glück kaschierte Trishas Blazer die schlimmsten Auswüchse des Pastell-Albtraums.
Ich trat an Susis Schreibtisch und lächelte. Sie wusste, worum es heute ging. Seit ich bei Banks Incorporated angefangen hatte, war die Frau hinter dem Empfangstresen zu einer guten Freundin geworden. Und natürlich hatte ich ihr von meinem Dilemma erzählt.
Vor eineinhalb Jahren, nach einem nicht gerade berauschenden Uni-Abschluss, hatte ich bei Banks Incorporated ein Praktikum ergattert und Luftsprünge gemacht. Banks baute Hochhäuser an der Küste, Shopping-Center im ganzen Land und Einfamilienhäuser, die so groß waren, dass man den Superbowl darin austragen konnte.
Mich hatte man dem großen Oberboss Randolph Banks als persönliche Assistentin zugeteilt – ein Status, der sich nie geändert hatte. Ich schuftete zehn bis zwölf Stunden am Tag für die gleiche miese Praktikanten-Vergütung wie am Anfang, und steckte in dem gleichen ätzenden Befristungs-Verhältnis. »Du kannst von Glück sagen, dass du einen festen Vertrag hast und dich nicht von einer Verlängerung zur nächsten hangeln musst«, gab ich seufzend zurück.
»Du hättest auch längst so einen Vertrag, wenn du dich nicht immer vor unangenehmen Gesprächen drücken würdest. Setz dem Alten die Pistole auf die Brust. Wenn er jetzt noch nicht weiß, was er an dir hat, wird er es nie kapieren. Also schaffst du besser gleich klare Verhältnisse«, sagte Susi mitleidlos.
Da war was dran. Mit der Alte meinte sie Randolph Banks. Der Mann war steinalt, stank förmlich nach Geld und war dermaßen knauserig, dass ich mich schämte, auch nur einen Tisch in einem Restaurant für ihn zu reservieren. Randolph war der Meinung, dass es eine Auszeichnung für einen Gastwirt war, wenn er bei ihm speiste – und wenn er schon eine Auszeichnung verlieh, wieso dann noch für das Essen zahlen?
Was Randolph sagen würde, wenn ich ihm erklärte, dass ich mit dem mickrigen Praktikantengehalt nicht auskam und auf einen festen Vertrag drängte, malte ich mir seit einem Jahr aus, denn da hätte besagtes Praktikum enden und in eine Festanstellung übergehen sollen.
In meiner Phantasie hatte ich auf Knien gebettelt oder alternativ auf den Tisch gehauen und ihn aus Leibeskräften angebrüllt. Heute würde ich mich für eine Strategie entscheiden und sehen, was Randolph davon hielt.
»Statt mir mal wieder die Leviten zu lesen ... wie wäre es, wenn du mir einfach die Daumen drückst?«, fragte ich.
»Herzchen, die sind seit dem Aufstehen gedrückt. Ich bin vor lauter Mitfiebern kaum zum Zähneputzen gekommen.« Susi zwinkerte mir zu und reckte einen Daumen in die Luft. Dann beugte sie sich vor und sagte in vertraulichem Ton. »Der Mann müsste schön blöd sein, wenn er dich gehen ließe. Du holst seine Hemden aus der Reinigung, führst den schrecklichen Kläffer seiner Frau Gassi, buchst seine Heli-Flüge und jonglierst dabei mit zwei Handys und seinem Terminkalender. Klar findet er sofort jemanden, der dich ersetzt, aber ob der dich auch gut ersetzt ...« Susi zuckte die Schultern und machte dazu ein Gesicht, das deutlich zeigte, für wie ausgeschlossen sie das hielt.
»Na jaaaa, es geht um Geld. Du ahnst ja nicht, wie knickerig er ...«
»Ha, und ob ich das weiß«, fuhr sie mir über den Mund. »Der Alte hat mich mal gebeten, dem Taxifahrer ein Trinkgeld zu geben, weil er angeblich kein Kleingeld bei sich hatte. Der Mann hat ihn vom Flughafen herkutschiert. Gut eine halbe Stunde Fahrt. Also habe ich dem Kerl fünf Dollar gegeben. Erstattet hat mir seine Hoheit Randolph Banks nur einen Dollar, denn er meinte, dass er nicht dafür zuständig sei, dass ich nicht mit Geld umgehen könne.«
Ich nickte und ersparte es Susi, aufzuzählen, wie viele Kleckerbeträge ich auf meiner Offene Posten-Liste stehen hatte. In den letzten Jahren waren mehr als dreihundert Dollar zusammengekommen, die Randolph mir nie zurückzahlen würde. Innerlich stöhnte ich auf. Ich wollte nicht da reingehen und ihn um mehr Geld bitten. Ich will nicht, ich will nicht. Auf gar keinen Fall!
Verdammt, ich hing an diesem Job. Er war nicht das, was ich mir während des Studiums erträumt hatte, aber ich hatte mich so daran gewöhnt, Ansprechpartner für alle und jeden zu sein und dafür zu sorgen, dass alle Rädchen in Banks riesigem Getriebe rund liefen. Er war mehr als ein Job, er war eine Aufgabe.
»Sag mir eine Gelegenheit, bei der er großzügig war. Nur eine!«, bettelte ich und hörte selber, wie jämmerlich es klang.
Susi schien in ihrem Gedächtnis zu kramen. Es dauerte lange. Zu lange. »Als Randolph auf dem Bürgersteig ausgerutscht ist, hat er Josh Briant vom Facility Service nicht gefeuert.«
Hallo? In meinen Ohren ergab das keinen Sinn. Aber ich fand es rührend, dass Susi irgendeine Erklärung an den Haaren herbeizog – auch wenn Josh die Kündigung vermutlich nicht verdient gehabt hätte. Andererseits war Randolph Banks mit solch drastischen Maßnahmen großzügig, es gab Tage, da klang er wie das perfekte Double unseres depperten Präsidenten und ließ gleich drei Köpfe rollen: »Your’re fired.«
Ich entschied, nicht nachzuhaken. »Das klingt doch gut. Er kann also wirklich großzügig sein«, sagte ich und rang mir ein optimistisches Lächeln ab.
Susi klappte den Mund auf, um etwas zu sagen, besann sich und nickte stattdessen.
Normalerweise hätte ich nach ihrem kranken Enkel gefragt, und ob es in ihrer Wachschutztruppe mittlerweile einen neuen Schichtführer gab, aber ich war einfach zu nervös, um länger hier zu stehen. »Ich komme später noch mal, dann können wir in Ruhe reden«, sagte ich und stellte fest, dass meine Finger, die die Henkel der Laptoptasche umkrampften, schweißnass waren.
Susi, die gute Seele, sah es mir an der Nasenspitze an. »Du hast keinen Grund dich verrückt zu machen. Außerdem, falls ich das sagen darf, Schätzchen, du siehst heute heiß aus. Wie in einem Sekretärinnen-Porno. Fehlt nur die schwarze Brille. Also steig einfach in den Fahrstuhl und mach dem alten Geizhals klar, wie unbequem sein Leben sein wird, wenn du ihm nicht mehr den Hintern nachträgst.«
Eine bissige Erwiderung zu meinem Porno-Tippsen-Look verkniff ich mir, legte die Hand an die Stirn und salutierte. Wie erbärmlich das bei mir aussah, wurde mir klar, als Susi die Hand zackig an die Mütze ihrer Wachschutz-Uniform hob. Militärischer Drill war wirklich nicht mein Ding.
Im Gegensatz zu den geliebten Ballerinas, die ich sonst trug, trommelten die geliehenen High Heels auf dem Weg zum Aufzug ein lautes Stakkato auf die Marmorfliesen. Tick-Tack-Tick. Als würden die Sekunden zu meinem letzten Stündlein schlagen. Na, waren wir heute ein wenig melodramatisch gestimmt? Im Geiste gab ich meiner inneren Stimme recht, stieg in die Kabine und drückte den Knopf für das siebenundzwanzigste Stockwerk.
Die Türen glitten fast lautlos zu. Während die Lifte für die normalen Angestellten ewig brauchten und ruppig abbremsten und anfuhren, war die technische Ausstattung, die die Vorstands-Mitglieder hinauf in die Penthouse-Etage fuhr, von bester Qualität. Lautlos, schnell, diskret. Komisch, dass Randolph an so etwas nicht sparte. Der alte Aufzug hatte es schließlich noch getan.
Zaghaft trat ich aus dem Lift und hörte den Gedankenstrom in meinem Kopf mahlen. Ich werde ein anständiges Gehalt rausschlagen. Ich werde einen festen Vertrag verlangen. Ich werde meinem hundsdummen Banker sagen, dass mein Konto im nächsten Monat ausgeglichen ist, damit er endlich aufhört, mir diese Drohbriefe zu schicken. Ich werde cool bleiben. Shit, ich hatte ein Mantra. Mein eigenes Mutmach- und Job-Mantra.
Ich ließ den Vorstandsbereich zu meiner linken liegen und wandte mich nach rechts. Ein weiterer Punkt, der mich langsam nervte. Ursprünglich hatte man mir den improvisierten Schreibtisch im Großraumbüro der Personalabteilung als Übergangslösung während des Praktikums verkauft. Leider hatte sich danach niemand die Mühe gemacht, mich woanders unterzubringen. Als ich nun zu dem überladenen Tisch ging, fiel mein Lächeln gequält aus.
»Du bist blass. Alles in Ordnung, Kate?« Noch vor einem Jahr hätte ich Patricias Frage als Fürsorge eingestuft. Mittlerweile wusste ich es besser. Das Biest war die persönliche Assistentin unseres Personalchefs Martin Bishop. Sie entlockte einem jeden privaten Gedanken und ging anschließend damit hausieren. Vor allem ihren Boss versorgte sie regelmäßig mit Klatsch und Tratsch. Hyäne!
Mein verkniffenes Lächeln wurde breiter. Vermutlich sah ich aus wie eine manische Irre. »In bester Ordnung. Es geht mir blendend!«, säuselte ich. Tja, wenn ich von Patricia eins gelernt hatte, dann wie man log, ohne rot zu werden.
»Ich finde sie nicht blass«, schaltete Ben sich ein, der wie üblich seine Runden mit dem Hauspostwagen drehte. Er wandte sich mir zu. »Hi, Kate. Ich habe ein paar Päckchen für dich. Könntest du später runterkommen und sie dir holen?«
»Sicher«, antwortete ich und spürte, wie sich mein falsches Klapperschlangen-Lächeln in ein ehrliches verwandelte. »Ich schaue nach der Mittagspause kurz vorbei.« Falls Randolph mich dann nicht schon wegen Geldgier und Impertinenz gefeuert hat!
»Passt.« Ben legte die Hände an seinen Wagen und schob ab in Richtung Tür. »Wenn du heute Mittag wieder in den Kaffee-Traum gehst, würde ich mich übrigens über ein Brioche freuen.«
Hinter mir gab Patricia ein seltsames Grunzen von sich. Was hatte jetzt wieder ihre Missbilligung provoziert? Ich überlegte, ob ich es wirklich wissen wollte, und kam zu einem klaren Nein.
Sie geizte trotzdem nicht mit ihrer Meinung. »Ist dir aufgefallen, dass der Typ immer impertinenter wird? Seit wann holen wir die Päckchen selbst aus der Poststelle? Das ist seine Aufgabe. Außerdem bist du doch wohl nicht seine Mami, die ihn mit Essen versorgt. Demnächst verlangt er, dass du ihm morgens selbstgeschmierte Sandwiches mitbringst.«
Das konnte nicht ihr Ernst sein. »Du weißt schon, dass bei den Boten eine Stelle gestrichen wurde? Die beiden, die übrig sind, müssen jetzt für drei arbeiten. Wenn Ben sein neues Pensum schaffen will, hat er gar keine Zeit, eine Pause einzulegen. Außerdem war sein Wagen voll. Wo soll er da die Päckchen lassen?«
»Na und«, Patricia zog die Achseln so hoch, dass ihr Hals völlig verschwand. Beeindruckend. Leider ließ sie es dabei nicht bewenden und giftete weiter. »Wenn der Typ etwas gelernt hätte, müsste er nicht mit diesem albernen Wägelchen durch die Gänge ziehen. Sein Pech. Wie man sich bettet, so liegt man. Wobei mir einfällt: Wieso hast du dich so rausgeputzt?« Sie trat einen Schritt zurück und musterte mich aus zusammengekniffenen Augen.
Das war so typisch. Weil sie selbst alles mit irgendwelchen Hintergedanken verband, musste auch jeder andere so denken. Ergo konnte ich nicht einfach Lust gehabt haben, mich schick zu machen. Zu meinem Leidwesen lag sie damit ausgerechnet heute richtig.
Die Tür flog auf. Marc aus der Konstruktionsabteilung erschien auf der Bildfläche. Das ersparte mir zumindest Patricias inquisitorisches Verhör. »Kate, wieso kommst du jetzt erst? Ich brauche die Blaupausen. Wolltest du die auf dem Weg nach oben nicht einsammeln und mitbringen?« Sein suchender Blick wanderte über meinen Schreibtisch.
Ich konnte nicht sagen, an welchem Punkt ich von Randolphs Assistentin zu jedermanns Assistentin geworden war. Es musste ein schleichender Prozess gewesen sein, der sich nicht mehr umkehren ließ.
»Vergiss die Blaupausen!«, dröhnte Johan und baute sich neben Marc auf. Anscheinend hatte ich beim Hereinkommen das »Tag der offenen Tür«-Schild übersehen. »Ich brauche sofort die Akten für die Gespräche mit den Subunternehmern. Der erste kommt um neun und ich bin nicht vorbereitet.«
»Jetzt macht euch nicht so wichtig«, plusterte Patricia sich auf. »Ich muss die Bonus-Schecks verteilen. Die Leute wollen in den Urlaub und sind ganz gierig auf das Geld. Wo hast du die Umschläge, Kate? Du wolltest sie doch vorbereiten!« Mit verschränkten Armen schob sie sich vor die beiden. Entweder hatte sie ihre Augen noch nicht wieder entspannt oder sie kniff sie schon wieder zusammen. Gott, sie wirkte wie eine Scharfschützin, die auf mich zielen wollte.
Ich rollte mit den Augen und sah Marc an. »Die Blaupausen sind in Arbeit. Der Plotter ist kaputt, aber die Techniker waren gestern zuversichtlich, dass sie das nötige Ersatzteil heute bekommen.« Dann drehte ich mich zu Johan um. »Die Mappen mit den Unterlagen liegen auf deinem Schreibtisch.« Und über die Schulter sagte ich zu Kate: »Die Bonus-Schecks sind bereits verteilt. Da gestern schon Leute in Urlaub gegangen sind und sie mitnehmen wollten ...« Ich brach ab.
Patricia blies die Backen auf. »Reg dich ab. Ich habe Randolph gefragt und er hat es abgesegnet.«
Seufzend drehte ich mich weg und legte die Laptop-Tasche auf meinen Schreibtisch. Als ich mich wieder umdrehte, standen die drei immer noch da und hatten so eine Art Mimik-Trio gegründet. Ich sah drei verkniffene Augenpaare und ebenso viele gerunzelte Stirnen vor mir. »Was? Ist euch eingefallen, dass ihr mir einen guten Morgen wünschen wolltet?«
»Du siehst ...« Johan machte eine Pause und suchte nach einer Vokabel, die er im Zusammenhang mit mir offensichtlich nicht abgespeichert hatte. »Gut ... ja, gut siehst du aus. Hast du was mit deinen Haaren gemacht?«
»Mit meinen Haaren?«, fragte ich ungläubig. Die Frage hatte ihm doch jemand in den Mund gelegt. Sowas sagten sonst nur Barbie-Mütter.
»Und du hast andere Klamotten an als sonst.« Patricia klang beinahe triumphierend. Nicht nur, dass wir wieder beim Thema waren. Plötzlich hatte sie auch zwei Verbündete.
»Was ist denn der Anlass? Spekuliert da etwa jemand auf eine Beförderung?« Marc klang unglaublich gehässig. So hatte ich ihn noch nie erlebt. Seltsam, bei Patricia war ich daran gewöhnt, beim stets gutgelaunten, freundlichen Marc, dem Sonnenschein der Planungsabteilung, machte es mir etwas aus.
»Falls du dich bei Randolph anbiedern willst und hoffst, du schaffst das mit ein wenig Make-up ...« Patricia sah auf ihre Fingernägel, als gäbe es dort etwas Spannendes zu entdecken. »Vergiss es, der Mann ist jenseits von Gut und Böse. Außerdem ist es ein wenig spät für einen Imagewandel. Nachdem du fast zwei Jahre wie ein Hippie-Mädchen herumgerannt bist, kauft dir das niemand ab.« Wieder hob sie die Schultern und ließ ihren Hals verschwinden.
Es war gut möglich, dass ich aussah wie beim Fliegenfangen, jedenfalls hatte ich die drei schon einen ewig langen Moment angestarrt, als mir bewusst wurde, dass mein Mund sperrangelweit offenstand. Geräuschvoll klappte ich ihn zu. Da stand dieses schlecht verkleidete Business-Trio vor mir und war dermaßen gemein, dass sich ein dicker Kloß in meinem Hals bildete.
»Ich werfe mich niemandem an den Hals.« Meine Stimme klang blechern. »Und ich bin bestimmt kein Hippie-Mädchen«, ergänzte ich, so würdevoll es ging. Wenn mir schon nichts Schlagfertiges einfiel, wollte ich mich wenigstens nicht nach getretener Katze anhören.
»Bitte? Du spazierst hier normalerweise in ausgelatschten Ballerinas und Jeans herein, die Haare zu einem zotteligen Knoten zusammengenommen, kein Make Up, kein Business-Schick. Entschuldige, wenn wir uns ein wenig wundern, dass du heute mal aussiehst wie ein Mensch, der hierher gehört.« Hübsch zusammengefasst von Patricia.
Immerhin hatten Marc und Johan den Anstand, betreten zu Boden zu schauen. Doch das reichte mir nicht. Am liebsten hätte ich jedem einzelnen an den Kopf geworfen, wie beschissen ich diese ganze Szene fand und dass sie sich wer weiß wohin scheren sollten. Reichte es denn nicht, dass mir das Wasser finanziell bis zum Hals stand und ich gezwungen war, ein Gespräch mit Randolph zu führen, auch wenn es mich vermutlich den Job kosten würde, den ich liebte?
Meine Verzweiflung wandelte sich in Ärger. Urplötzlich fühlte ich Wut wie einen Strom heißer Energie durch meine Venen rauschen. »Tja, gewöhn dich besser daran, Patricia. Ab heute werde ich mir nämlich alle Mühe geben, deinen hohen ästhetischen Ansprüchen zu genügen. Wir können um die Wette durch die Halle stöckeln, uns gegenseitig die Haare machen und zusammen Lippenstift und Nagellack aussuchen. Na, wie wäre das?« Kaum war es heraus, da spürte ich, wie der halb offenstehende Reißverschluss in meinem Rücken sich verselbstständigte. Zum Glück trug ich immer noch Trishas Blazer darüber.
Es folgte ein weiterer Endlos-Moment. Diesmal hielt ich den Mund geschlossen und beschränkte mich darauf, Patricias bösen Blick zu erwidern. Erst als ich wegsah, fiel mir auf, dass Marc und Johan sich stillschweigend verdrückt hatten. Diese Feiglinge. Miese, kleine, missgünstige Wichte.
Ich trat einen Schritt zur Seite, um an Patricia vorbei zur Tür zu gelangen. Sie griff nach meinem Oberarm. »Glaub nicht, dass ich nicht merke, was du versuchst, Herzchen«, zischte sie in mein Ohr, wobei sie das letzte Wort genüsslich auf der Zunge verrieb und mit viel Spucke anreicherte. Igitt! »Ich weiß, dass du es darauf anlegst, dich bei Randolph einzuschleimen. Überraschung«, rief sie überdreht und quetschte meinen Oberarm noch fester, »ich bin länger hier als du, und wenn einer ein fester Vertrag zusteht, dann bin ich das.«
Moment mal, Patricia war eineinhalb Jahre vor mir gekommen. Sollte das etwa heißen, dass die Firma sie auch seit Ewigkeiten zappeln ließ? Ich wollte es nicht, aber ein Funke Mitleid keimte in mir auf. Ich wusste, wie es sich anfühlte, wenn man dem Ende des befristeten Vertrages Tag für Tag ein bisschen näher kam und sich schlaflos hin und her wälzte vor lauter Sorge, man könne demnächst auf der Straße sitzen. Ein kurzes Aufatmen, wenn die Verlängerung für zwei weitere Monate kam – und dann hieß es wieder bangen, ob die Befristung der Befristung der Befristung verlängert wurde. Quälend. Und sie machte das seit drei Jahren mit? Drei!
Das unbestimmte Ziepen in meinem Magen wuchs sich zu einem fiesen Grummeln aus. Ich schaute zu der großen Bahnhofsuhr, die über der Tür des Großraumbüros hing. Noch zehn Minuten bis zu meinem Termin mit Randolph. Gleich würde es hier im Großraum voll werden.
Unwirsch machte ich mich los. Ich wusste, das Patricia mein Mitleid nicht wollte, darum sagte ich nichts und trat stumm auf den Gang hinaus. Was sie hinter mir her zischte, verstand ich nicht. Es ging in dem lauten Knall unter, mit dem die Tür hinter mir ins Schloss fiel.
Herrlich, wenn ich an diesem Morgen etwas gebraucht hatte, waren es hässliche Kommentare. Plötzlich fühlte ich mich auf den hohen Hacken unsicher und marschierte dennoch erhobenen Hauptes den Gang entlang zum Allerheiligsten, dem Bereich, in dem die Vorstände von Banks Incorporated saßen. Hier gab es keinen Marmor auf dem Boden, dafür aber einen dicken Teppichboden, der jedes Geräusch schluckte. Wuchtige Ölschinken säumten die holzgetäfelten Wände. Überall gab es Sitzgruppen aus teuren Ledersesseln und gläsernen Tischchen, auf denen Hochglanzprospekte von Banks Bauprojekten auslagen.
Drei Jahre. Ich bekam es nicht aus dem Kopf. Ich konnte mir unmöglich leisten, noch einmal eineinhalb Jahre so weiterzumachen. Am Ende wäre ich eine verbitterte Kuh wie Patricia. Abgesehen davon war mein Konto dermaßen tief im Minus, dass ich kurz vor einer Sperre stand.
Ich schüttelte den Kopf, als würde sich die Sorge auf diese Weise in Luft auflösen. Gerade rechtzeitig, bevor ich Mimmas Büro betrat, hörte ich mit dem blöden Kopfgewackel auf.
»Hi, Kate. Sie stehen heute in seinem Kalender?« Mimma Rose Aplleby gehörte zu den Urgesteinen von Banks Incorporated. Sie ging ebenso stramm auf den Ruhestand zu, wie Randolph versuchte, ihr selbigen zu untersagen. Wenn es nach ihm ging, würden sie irgendwann Seite an Seite im Büro sterben. Randolph auf seiner Seite der Tür. Mimma im Sekretariat.
»Hm. Ich hatte vor, endlich Klartext mit ihm zu reden. Nun weiß ich nicht mehr, ob das gut ist«, gab ich kleinlaut zurück.
Mimma beugte sich vor, reckte ihre pummelige Hand über den Schreibtisch und tätschelte meinen Arm. »Es geht um den Vertrag?«
Ich nickte. »Ja auch, aber vor allen Dingen geht es mir um das Gehalt. Ich kann nicht bis in alle Ewigkeit für eine mickrige Praktikantenvergütung arbeiten. Es wäre ja wohl ein Witz, wenn ich mir einen Zweitjob suche müsste, um es mir leisten zu können, hier zu arbeiten.«
Zur Antwort bekam ich ein verständnisvolles Nicken. »Klug, es auf dem direkten Weg zu lösen. Ihr Vorgänger hatte seinen Schreibtisch ebenfalls in der Personalabteilung. Er war das Warten irgendwann leid, hat sich die Passwörter besorgt, stillschweigend im Computer-System herumgepfuscht und sich eine Erhöhung genehmigt.«
Das war nicht meine Art, wir wussten es beide. Trotzdem hatte sie meine Neugier geweckt. »Was ist schiefgelaufen?«
»Oh, gar nichts«, Mimma schenkte mir ein verschmitztes Lächeln. »Es lief sogar so gut, dass er übermütig geworden ist und nach der ersten Erhöhung eine zweite hat folgen lassen und dann auch noch eine dritte. Irgendwann hat Martin Bishop sich gewundert, warum ein einfacher Assistent mehr als 15.000 Dollar im Monat verdient, da ist der Schwindel aufgeflogen. Nun gibt es ein Sicherungssystem. Eine Gehaltserhöhung muss schriftlich vorliegen. Eine Personalsachbearbeiterin gibt sie ein, die Teamleiterin bestätigt es. Ansonsten gibt der Computer Alarm.«
Was vermutlich den Personalvorstand Martin Bishop auf den Plan rufen würde. Ich fröstelte. Der Mann war fies. Ein Kotzbrocken, der dermaßen viel Macht hatte, dass er noch nicht einmal so tun musste, als wäre er nett.
Das machte mich echt wütend. »Gibt es eigentlich irgendjemanden in der Firma, der einen unbefristeten Vertrag hat und anständig verdient? Wenn man von den Vorständen einmal absieht, meine ich?« Ich war laut geworden. Zu spät merkte ich, dass Mimmas plötzlich weit aufgerissene Augen nicht meinem Ausbruch geschuldet waren. »Er steht in der Tür, richtig?«, flüsterte ich und schickte ein stummes Blitzgebet in Richtung Zimmerdecke. Es verpuffte ungehört, wie sollte es auch anders sein? Jedenfalls nickte Mimma.
»Kate«, Randolphs tiefer Bariton, der in den letzten Monaten zu einem düsteren Krächzen geworden war, bohrte sich wie ein Stachel in mein Gehör.
»Boss?« Ich wirbelte herum und vergaß glatt die blöden Absätze. Im letzten Moment fing ich mich. Sonst wäre ich zu den Füßen seiner Heiligkeit Randolph Banks gelandet.
»So, so, Miss Fisher.« Er schnalzte mit der Zunge.
Vermutlich weil er längst kapiert hatte, wie sehr ich das hasste. Sein resigniertes »tztztz« gab mir stets das Gefühl, ich wäre wieder sechs, in der Grundschule und müsste meinen Lehrern dabei zuhören, wie sie über meine hoffnungslose Blödheit debattierten. Unscheinbare Laute, und doch waren sie entwürdigend.
Randolph lächelte humorlos. »Wollen Sie noch länger über die Personalpolitik der Firma tratschen oder nehmen Sie den Termin wahr, den Sie klammheimlich in meinen Kalender geschrieben haben?«
»Ich habe nicht ... nicht klammheimlich, meine ich. Sie sagen doch immer: ›Diskutieren Sie nicht, tragen Sie jeden Termin ein. Wen ich nicht sehen will ... den ... den ekle ich schon raus.‹ Also habe ich ...« Randolph hob die Hand, was mich verstummen ließ. Ich war ihm beinahe dankbar. Sonst stotterte ich mich um Kopf und Kragen.
»Sie wollten einen Termin.« Randolphs Miene bekam etwas Verschlagenes. Er ließ mich zappeln. »Sie haben ihn!« Er machte eine drollige Bewegung, die einem angedeuteten Diener verdammt nahekam.
Wieso musste er mich verhöhnen und tun, als hätte ich um ein Vorsprechen beim Höllenfürsten persönlich gebeten? Aber was zerbrach ich mir darüber den Kopf? Es führte kein Weg mehr zurück.
Randolph schleppte sich durch sein Büro und ließ sich hinter dem mit Schnitzereien überladenen Schreibtisch ächzend in einen Sessel sinken. Der Raum war groß wie ein Tenniscourt. An zwei Wänden gab es mehr Tropenhölzer als auf einem Quadratkilometer Regenwald. Die beiden anderen Seiten waren mit bodentiefen Fenstern verglast. Dazwischen türmten sich Nippes, Trophäen und alberne Tischchen mit üppigen Blumenarrangements. Wenn der Innenarchitekt zum Ausdruck bringen wollte, dass, wer auch immer hier residierte, einen Arsch voll Geld hatte, war ihm das vortrefflich gelungen.
Zögernd ging ich auf den Schreibtisch zu. Erst da bemerkte ich, dass in der Louis XIV-Besucherecke jemand saß. »Misses Banks!«, rief ich überrascht.
Sie nickte huldvoll. »Kate.« Ihr frostiger Blick scannte mich. Ich hielt ihm stand, lief aber rot an. Diese Frau war perfekt. Jedes Haar ihrer Föhnfrisur lag ordentlich onduliert da. Chanel-Kostüm, Perlenkette, Lackpumps.
Ich witterte Morgenluft. »Wenn ich ungelegen komme, kann ich auch später noch mal ...« Unwillkürlich trat ich einen Schritt zurück.
Hinter seinem Schreibtisch schnalzte Randolph mit der Zunge sein abfälliges Ttztztz. »Machen Sie sich nicht lächerlich. Setzen Sie sich, damit wir anfangen können.«
Da endlich dämmerte es mir. Lavinia Banks war nicht zufällig hier. Randolph wollte etwas. Sie wollte etwas. Mit wackeligen Knien schaffte ich es bis zu der Sitzgruppe. Als ich mich setzte, hob Lavinia Banks die Brauen. Bisher hatte ich zweimal das zweifelhafte Vergnügen gehabt, sie zu treffen. Beide Male hatte sie mich kaum beachtet und das war mir sehr recht gewesen.
Randolph spielte hier vielleicht den Oberboss, aber er hatte lediglich in die Banks-Familie eingeheiratet. Das große Geld besaß seine Gattin, die nun glattgebotoxt und schlankgehungert vor mir saß. Wie Randolph musste sie auf die siebzig zugehen, doch sie schien irgendwo in den Fünfzigern stehengeblieben zu sein. Alterslos, humorlos, herzlos, das waren die drei Begriffe, die mir bei ihrem Anblick einfielen. Ein bunter Strauß guter Eigenschaften – ich setzte mich, so weit es ging, von ihr weg.
»Das ist sie also!« Jedes Wort, das über ihre dezent aufgespritzten Lippen floss, war begleitet von Arroganz und Geringschätzung.
»Ich fürchte, ja.« Diesmal verzichtete Randolph aufs Schnalzen und sah mich an. »Also Kate, was wollen Sie? Was ist so wichtig, dass Sie dafür fünfzehn Minuten in meinem Kalender blockiert haben?«
»Nun ja ...«, wo waren die verdammten einstudierten Reden, wenn man sie mal brauchte? »Ich wollte über meinen Vertrag ...« Ich besann mich darauf, dass ich keine Schildkröte war, die sich bei Gefahr verkroch, hob den Kopf und streckte den Rücken durch. »Ich hätte gern einen festen Vertrag.«
Randolph starrte mich mit gemeißelter Miene an. Er wartete. Verdammt, worauf denn nur?
Ach jaaa. »Und mehr Geld«, fügte ich fast schüchtern hinzu. Mein Auftritt war so jämmerlich, dass ich mich am liebsten selbst geschüttelt hätte.
Als er endlich den Mund aufklappte, rechnete ich mit löwenartigem Gebrüll und einem glatten Rauswurf. Doch seine krächzende Stimme klang wie gewohnt. »Sie haben lange durchgehalten, Kate.«
»Äh ... wie jetzt?«
»Du lieber Himmel, Randolph, sie kann sich ja nicht mal richtig ausdrücken.« Lavinia klang, als wäre sie persönlich beleidigt über meine mangelnde Wortgewalt.
Randolph lächelte unbeholfen, kein Wunder, er war aus der Übung. »Gib ihr eine Chance, sie ist nervös. Sie kann auch anders.« Er sah zu mir herüber. »Das stimmt doch, Kate?«
Heilige Scheiße, erwartete der Mann jetzt von mir, dass ich damit prahlte, wie aufsässig ich sein konnte? Mir sträubten sich die Nackenhaare, aber ich nickte.
»Gut, wollen wir erst Ihr Thema behandeln? «
Moment mal, wenn es ein Erst gab, gab es auch ein Danach. Das hieß doch, dass er mich nicht ... »Sie wollen mich nicht feuern?« Das panische Flattern in meinem Bauch ließ ein wenig nach.
»Wozu? Weil Sie rund um die Uhr im Einsatz sind und dabei auch noch gute und zuverlässige Arbeit abliefern? Das wäre reichlich dumm von mir, finden Sie nicht?«
Das Wörtchen dumm ließ meinen inneren Alarm schrillen. Ich war nicht sicher, ob es klug war, ihm in diesem Punkt zuzustimmen. Weswegen mein Nicken zaghaft ausfiel.
»Kate, Kate, Kate«, ebenso gut hätte er tztztz sagen können. »Habe ich Ihnen Anlass gegeben zu denken, dass ich mit Ihnen unzufrieden bin?« Er beantwortete die Frage selbst. »Wohl kaum! Es gibt ein paar Angewohnheiten, mit denen Sie mich gelegentlich auf die Palme bringen, aber das bleibt nicht aus, wenn man so eng zusammenarbeitet. Wenn Sie wissen wollen, warum ich Ihnen nicht längst einen unterschriftsreifen Vertrag unter die Nase gehalten habe: Sie haben nicht gefragt! Es gab hundert und eine Gelegenheit und sie haben die Zähne aufeinander gebissen und weitergemacht. Das ist allerdings nicht die Eigenschaft, nach der ich hier suche. Bei den Leuten vom Parkdienst, da erwarte ich, dass sie eine einfache Anweisung befolgen können und ansonsten Ja und Amen sagen. Aber Sie arbeiten für mich, gelegentlich auch für den Rest des Vorstandes, glauben Sie wirklich, da sind Duckmäusertum und Katzbuckelei gefragt?«
»Nein, Sir!« Oh mein Gott, ich hatte ihn Sir genannt. Könnte mich bitte jemand erschießen, bevor ich mich weiter zur Idiotin machte?
»Kate«, Randolph beugte sich vor, »wenn Sie nicht von sich und Ihren Qualitäten überzeugt sind, wer soll es dann sein? Wenn Sie nicht das einfordern, was Sie wert sind, wer soll das für Sie übernehmen?«
Okay, Randolph konnte ein fieser Geizhals sein, aber da war viel Wahres dran. »Ich ... ich weiß es nicht.« Das zaghafte Lächeln wirkte so verloren in seinem Gesicht, dass ich zurück lächelte.
Vielleicht verstand er es so, wie es gemeint war, als ein Zeichen, dass es mir gefiel, wenn er mal nicht den knallharten Geldsack raushängen ließ. »Verhandeln wir also über Ihr Gehalt und das rückwirkend ab dem ersten Tag nach ihrem Praktikum.«
»Aber ... aber das war vor einem Jahr zu Ende.«
»Glauben Sie, das weiß ich nicht?« Er sah seine Frau mit einem Blick an, der förmlich rief: Mutter, gib mir Kraft.
Ich nannte ihm die Summe, die ich für fair hielt.
Er nickte bedächtig. »Mein Angebot liegt darüber, wie Sie sehen werden.« Randolph zog die obere Schublade seines scheußlichen Mahagoni-Schreibtischs auf, nahm ein Bündel Papier heraus und hielt es mir hin.
Hastig stand ich auf und durchmaß mit ungelenkem Staksen den Raum. Es war ein Vertrag. Ein Arbeitsvertrag. Datiert auf einen Tag nach meinem Praktikum. Das hieß, ich hätte nur fragen müssen. Ein Stoßseufzer floss über meine Lippen. »Danke!«
Randolph sah mich fast bedauernd an, keine Spur mehr von dem netten, lächelnden Chef. »Danken Sie mir noch nicht, Kate, denn der Vertrag ist nicht unterschrieben.«
Zu gern hätte ich zur letzten Seite geblättert, um es zu kontrollieren. Ich hielt mich zurück. Ich wusste auch so, dass es stimmte. Das hier war zu einfach gewesen. Randolph warf kein Geld hinaus, wenn es sich vermeiden ließ. Innerlich wappnete ich mich für das, was jetzt kommen mochte. Immerhin musste ich keine fiesen, machomäßigen Anspielungen erwarten. Dafür war er nicht der Typ. Außerdem saß Lavinia mit sittsam nebeneinander aufgestellten Beinen hinter uns. Ich hob den Blick und sah ihn unverwandt an. »Was soll ich tun?«
»Ich sehe, wir verstehen uns«, sagte Randolph hörbar zufrieden und nahm ein weiteres Blatt Papier aus der Schublade. Er reichte es mir. Es war datiert auf den heutigen Tag. »Sie sehen, Kate, wenn Sie nicht zu mir gekommen wären, hätte ich Sie in mein Büro zitiert.«
»Ihre Frau ist nicht zufällig anwesend«, fasste ich das Offensichtliche in Worte und drehte mich zu Lavinia um. Die beiden hatten zwar über mich gesprochen, als wäre ich gar nicht da, trotzdem konnte ich höflich bleiben und sie einbeziehen. Ich hätte es besser gelassen.
Lavinias Brauen schnellten hochmütig nach oben. »Natürlich nicht!«
»Nein, natürlich nicht«, echote ich. «Kann ich das kurz lesen?«, fragte ich an Randolph gewandt. Es waren ohnehin nur ein paar wenige Zeilen.
»Selbstverständlich. Sie sollen es sogar lesen, um sich des Ernstes der Lage bewusst zu werden.« Sein hinterhältiges Grinsen wurde abgelöst von einem markerschütternden Hustenanfall.
Reflexhaft stürzte ich los, goss Wasser aus einer Kristallkaraffe in ein Glas und reichte es ihm. Diese Hustenanfälle hatte er in letzter Zeit oft. Zu oft.
Kaum hatte Randolph sich beruhigt, sah er mich streng an. »Sie sollen die Erklärung lesen und unterzeichnen.«
Ich las – und legte das Blatt zurück auf seinen Schreibtisch. »Eine Verschwiegenheitserklärung?«
»Ist das ein Problem?« Lavinia wirkte mit einem Mal seltsam angespannt.
»Nein ... nicht, soweit es mich betrifft. Nur habe ich ... laut dieser Vereinbarung müsste ich lebenslänglich jeden Penny an Banks Inc. abführen, um die horrende Schadenersatzsumme zu leisten, die mir droht, wenn ich mich verplappere. Wer garantiert mir dafür, dass es nicht andere Menschen gibt, die plaudern, und ich stehe hinterher schlecht da?«
»Gar nicht so dumm, meine Liebe«, tztztz’te Randolph. »Manchmal vergesse ich, dass Sie nicht das naive Landei sind, das Sie vorgeben zu sein. Nun zu Ihren Bedenken: Sagen wir, sie können in diesem Punkt unbesorgt sein, weil es exakt vier Menschen gibt, die über die Sache Bescheid wissen. Meine Frau, meine behandelnden Ärzte und ich. Zwei bindet die Schweigepflicht und meine Frau und ich haben kein Interesse daran, dass etwas durchsickert. Eine ziemlich sichere Bank bisher. Nun kommen Sie. Nicht, dass ich Ihnen misstrauen würde. Sie haben einen ziemlich weitreichenden Einblick in mein Privatleben, und soweit ich weiß, haben Sie noch nie darüber getratscht. Hier geht es allerdings um eine Sache, die weitreichende Folgen haben kann. Darum muss ich darauf bestehen, dass Sie unterzeichnen, bevor ich Sie ins Vertrauen ziehe. Und falls Sie weitere Ausflüchte suchen: Nein, die übliche Erklärung über die Geheimhaltung von Firmeninterna greift hier nicht, da es sich um eine private Angelegenheit handelt.«
Am liebsten wäre ich rausgerannt, hätte mich daheim mit Trisha und einer Flasche Tequila an den Küchentisch gesetzt und diesen ganzen verworrenen Tag entheddert. Ich hatte keine Ahnung, in was ich hier hineingestolpert war. Das hatte ein Gespräch über mein Gehalt werden sollen, verdammt. Kein launiges Geplänkel über Randolphs Geheimnisse unter Höchststrafe-Androhung. »Ich verspreche, dass ich ...«
»Nett, Kate. Sehr nett, doch ich würde vorziehen, es schriftlich zu haben.« Randolph schob das Blatt bis vor an die Tischkante und legte seinen Kugelschreiber dazu.
Also gut. Ich griff den schweren Mont Blanc und setzte schwungvoll meine Unterschrift unter das Blatt Papier. »Und? Wie geht es jetzt weiter?« Ich klang ein wenig feindselig.
»Setzen und zuhören!« Lavinia Banks sagte das so, dass klar war, welche Zumutung es für sie darstellte, ihre Zeit ausgerechnet mit mir zu verplempern.
Kleinlaut trollte ich mich zurück zu der geschmacklosen Louis XIV-Sitzgruppe und setzte mich ebenso sittsam wie sie. Es gab ein leises Ratschen, weil der Reißverschluss vom Rock sich noch mehr verselbstständigte. Wenn das so weiter ging, würde ich aufstehen und in fleischfarbener Shapewear dastehen. Bei der Aussicht knirschte ich mit den Zähnen.
Randolph räusperte sich. Das Geräusch erinnerte an Steine, die aufeinander mahlten.
Es war klar, worauf es hinauslief. Die krächzende Stimme, sein Dauerhusten, zwei Ärzte als Mitwisser. Ich musste kein Orakel sein, um zu wissen, dass er krank war. Ernsthaft krank. Ich sah es seit Monaten mit an, ohne ihn darauf anzusprechen. Das ließ unser distanziertes Verhältnis nicht zu.
Was ich hingegen nicht wusste, war, wie ich mich jetzt verhalten sollte. So vernünftig wie heute war er selten. Er hatte mich herumkommandiert, gedemütigt und am ausgestreckten Arm verhungern lassen. Wäre ich fähig, das alles zu vergessen und ihm aufrichtiges Mitgefühl entgegenzubringen? Andererseits, was würde es über mich sagen, wenn mich so ein Geständnis kalt ließ?
Eine halbe Stunde später stand fest, dass es dazu keinen Grund gab. Auf eine verdreht distanzierte Weise fühlte ich nämlich wirklich mit ihm. Wäre seine Frau nicht hier gewesen, ich hätte meine Bestürzung offen gezeigt. So zwang ich mich zu einer neutralen Miene. Wenn seine Frau, der Mensch, der ihm am nächsten stand, Randolphs Erzählung mit stoischer Gelassenheit hinnahm, wer war ich dann, rührselig zu werden?
»Das tut mir aufrichtig leid«, war alles, was ich herausbrachte.
»Es ist nett, dass Sie das sagen, aber darauf will ich nicht hinaus. Es ist lediglich die Einleitung zu einem Thema, das wir mit Ihnen ...« Randolph brach wieder in haltloses Husten aus. Diesmal war es Lavinia, die aufsprang, ihm etwas zu trinken reichte und leise auf ihn einredete, bis sich sein keuchender Atem beruhigt hatte. Die eiserne Lady zeigte mehr Wärme, als ich ihr zugetraut hätte. Aber was hatte ich erwartet? Sie waren fast siebzig, waren seit mehr als vierzig Jahren verheiratet und bald würde sie allein zurückbleiben. Es schnürte mir die Kehle zu. Ich überlegte, hinauszugehen, damit die beiden ungestört waren, doch schneller als erwartet kehrten Randolph und seine Frau zu ihren vertrauten Rollen zurück. Steif und tadellos.
Lavinia setzte sich, ihr Räuspern bedeutete mir, dass es an der Zeit war, mich auf sie zu konzentrieren. »Wie mein Mann soeben angedeutet hat, setzen wir gewisse ...« Ihre Mundwinkel kräuselten sich. Offenbar widerstrebte es ihr, das Unvermeidbare auszusprechen. »Wir setzen Hoffnungen in Sie, Miss Fisher.«
Na, vielen Dank, wenn sie dieser Satz solche Überwindung gekostet hatte, konnte es mit ihrer Hoffnung nicht weit her sein. Ich lächelte. Ausdruckslos und unverbindlich, ganz so wie Lavinia.
»Die Ärzte geben meinem Mann noch drei, maximal vier Monate. Was wir brauchen, was ich brauche, ist ein Nachfolger, der die Firma führt. Es wird schwierig sein, in der Kürze der Zeit alle laufenden Geschäfte zu übergeben und den Kandidaten auf die Familien-Philosophie einzuschwören.« Sie hielt inne und sah mich fragend an.
Ich nickte, es war nicht schwer, das zu kapieren.
Als sie weitersprach, bebte ihre Stimme. »Keiner der Kandidaten ist mir sonderlich sympathisch. Keiner von Ihnen wird meinen Mann und die Persönlichkeit, mit der er die Firma geprägt hat, ersetzen können ... Trotzdem bleibt uns nichts anderes übrig, als einen der Vorstände zum CEO von Banks Incorporated zu berufen. Drei bis vier Monate sind einfach zu wenig, um einen Nachfolger von außerhalb zu finden und ihn bei Banks Inc. einzuführen.«
Mein Unterkiefer sauste herab. Im Vorstand saßen vier Männer, die Randolph an seinen gnädigen Tagen als Idioten bezeichnete und allenfalls für fähig hielt, seinen Wagen zu waschen. Sonderlich viel hatte ich mit keinem von ihnen zu tun, doch ich teilte Lavinias Einschätzung. Wenig sympathische Piranhas, denen ich nicht über den Weg traute.
»Ihrer Fassungslosigkeit entnehme ich, dass wir uns in diesem Punkt einig sind?«
»Ich ... kenne sie nicht gut, aber mein erster Eindruck ist nicht sooo ...« Ich wedelte mit den Händen um mich davor zu drücken, über das Quartett zu lästern.
Lavinia verstand mich trotzdem. »Der erste Eindruck ist meist der richtige, sagt der Volksmund. Seit der Wahl von Trump glaube ich zwar nicht mehr an die Schwarmintelligenz, doch da gebe ich der breiten Masse recht. Vertrauen Sie auf Ihre Intuition, Miss Fisher. Nun zu dem, was wir verlangen, bevor wir diesen Vertrag unterschreiben ...« Sie zupfte eine unsichtbare Fluse von ihrem Rock und schien nachzudenken. »Eins noch: wenn mein Mann ... nicht mehr hier sein wird, werde ich täglich in der Firma sein, um meiner Aufsichtspflicht nachzukommen. In diesem Fall betrachte ich Sie als meine Assistentin, damit würde sich an ihrer Festanstellung nichts ändern.«
Ja, ja, wedel nur weiter mit der dicken Wurst vor meiner Nase herum. Missmutig sah ich zu, wie Lavinia in eine Tasche griff, die groß wie ein Einkaufswagen war. Ich erkannte sie auf den ersten Blick, denn ich hatte sie in Randolphs Auftrag zu Lavinias letzten Geburtstag besorgt und dafür 19.000 Dollar auf den Ladentisch von Hermès geblättert. Nun zog sie einen dicken Umschlag heraus, förderte daraus mehrere kleinere Kuverts hervor, die mit einem palmengesäumten Strand und dem Logo von American Airlines bedruckt waren. Reiseunterlagen?
»Im Prinzip«, schaltete Randolph sich ein, »verdanken wir Ihnen diese Idee, Kate. Erinnern Sie sich daran, dass wir für die leitenden Architekten etwas organisieren wollten, damit aus diesem Haufen von Einzelkämpfern ein Team wird?«
»Klar, es ist noch keine zwei Monate her, dass ich die Mappe zusammengestellt habe.« Es war ein Desaster gewesen. Sieben Männer, die sich inniglich hassten und mit ihren infantilen Aktionen die Abteilung lahmgelegt hatten. Mir war die Aufgabe zuteilgeworden, irgendeine Aktivität zu finden, bei der die sieben ihre Qualitäten zu schätzen lernten. Das Ganze schimpfte sich »Team-Building‹-Maßnahme«.
Randolph lächelte. »Dann erinnern Sie sich sicher auch noch an den Trip in den Yellowstone Nationalpark?«
Und wie ich das tat. Ich hatte wild gekichert beim Gedanken daran, die Architekten zum Rafting und Klettern zu schicken, sie Hütten bauen und ein Plumpsklo ausheben zu lassen und ... In meinem Kopf machte es endlich klick. »Das ist nicht Ihr Ernst? Sie wollen die Vorstände zu einem Adventure-Urlaub einladen?«
»Die Vorstände und Sie!«, sagte Lavinia Banks. In ihrer eisigen Stimme schwang Nervosität mit. »Sie werden die vier in den Park begleiten. Sie bekommen eine kleine Kamera, mit der sie unauffällig die Prüfungen filmen können. Außerdem haben die Scouts ein Telefon, das auch im Park funktioniert. Ein ... ein ...«
»Satellitentelefon«, half Randolph ihr.
»Genau. Sie erstatten mir und meinem Mann täglich Bericht. Was wird da über die Firma geredet? Wer ist loyal? Wer verliert in Extremsituationen den Kopf, wer bringt Führungsqualitäten mit, wer hält das Team auf? Angst, Mut, Willensstärke. Protokollieren Sie alles! Extreme Situationen erfordern gebührende Maßnahmen. Die Scouts sind eingeweiht und werden alles, was Sie dazu brauchen, sicher verwahren. Die Mini-Kamera, ein Diktiergerät, Notizblock, das Satellitentelefon.«
»Aber den vieren wird klar sein, dass ich da bin, um zu spionieren. Jeder hier weiß, dass ich Randolphs Assistentin bin«, versuchte ich, den beiden ihren dämlichen Plan auszureden.
»Ja«, sagte Lavinia ungerührt, »davon ist auszugehen. Darum nehmen die Scouts auch alles, was wichtig ist, an sich. Wir rechnen damit, dass die vier Ihre Sachen durchsuchen werden. Schließlich sind sie nicht blöd. Menschlicher Abschaum vielleicht - aber fachlich ohne Tadel. So herausragend, dass wir nicht auf sie verzichten können. Natürlich ist den Herren nicht verborgen geblieben, wie es meinem Mann geht. Jeder der vier hat schon vorgesprochen, um zu signalisieren, dass er als Nachfolger zur Verfügung steht. Schleimer allesamt. Glauben Sie mir, wenn Sie mit von der Partie sind, wissen die vier, dass Sie bei der Entscheidungsfindung das Zünglein an der Waage sind, Kate.« Ohne meine Antwort abzuwarten reichte sie mir den Stapel mit den Reiseunterlagen. Ein Kuvert hielt sie zurück. »Verteilen Sie die. Fünf Tage Wildnis. Die sechs Plätze sind fest gebucht. Die Scouts erwarten Sie am Flughafen.«
»Sechs Plätze?« Die Vorstände und ich, das waren fünf.
»Es wird noch jemand mitfliegen, das muss Sie aber jetzt nicht kümmern, Kate. Haben Sie noch Fragen?«
»Nein!« Fast wäre mir ein ehrfürchtiges Ma’am rausgerutscht. Die Frau war aber auch ein Kaliber.
»Gut, dann werde ich mir erlauben, auf die rückwirkende Lohnerhöhung vorab einen Betrag von 5.000 Dollar auf Ihr Konto zu überweisen. Vorausgesetzt, Sie stimmen zu.« Lavinia verhakte die Finger ineinander und sah mich zuversichtlich an. Sie ging tatsächlich davon aus, dass sie mich eingefangen hatte.
Drückende Stille legte sich auf das Zimmer. Es war nichts zu hören außer Randolphs mühsamen Atemzügen. »Ehrlich gesagt, weiß ich es nicht. Ich bin mir nicht sicher, ob ich das kann. Leute ausspionieren, lügen, petzen ...« So war ich nicht.
»Petzen?« Lavinias Brauen hoben sich zum höhnischen Klang ihrer Stimme. »Das Wort habe ich zuletzt in einem Pfadfinder-Camp gehört«
Es gab nichts, was ich dazu sagen konnte, ohne die Frau vom Chef zu beleidigen. Wie benommen stand ich auf und fühlte meinen Rock rutschen. Ich stemmte eine Hand in die Taille, hielt das Bündchen fest und sah zu Randolph hinüber.
Sein versteinerter Blick ruhte auf mir. Verzweifelt suchte ich nach einem Zeichen von Zuneigung, irgendetwas, das zeigte, dass er an meiner Meinung interessiert war und ich ein paar Fragen stellen durfte. Doch Randolph gestatte sich nicht einmal ein Blinzeln.
»Ich möchte Ihre Entscheidung bis morgen früh«, sagte Lavinia. Sie schien noch immer kein bisschen daran zu zweifeln, dass ich einwilligen würde. »Einstweilen verteilen Sie die Reiseunterlagen an die Vorstände. Die Herren wissen, dass unsere alljährliche Klausur-Tagung ansteht. Nur gehen sie vermutlich davon aus, dass sie wieder in einem Fünf-Sterne-Hotel auf Barbados nächtigen. Die werden sich wundern. Die werden sich so sehr wundern.« Lavinias Lachen hallte freudlos durch den Raum. Es war noch nicht verklungen, als ich ins Vorzimmer trat und die Tür hinter mir ins Schloss zog.
Kate, du siehst scheiße a...« Das letzte Wort ging im wütenden Zischen von Mathéos dampfender Kaffeemaschine unter.
Ich knirschte mit den Zähnen und ließ die Tür hinter mir ins Schloss fallen. Nach dieser Begrüßung hätte ich seinen Kaffee-Traum gern für eine Woche boykottiert. Nur konnte ich nirgendwo anders hin.
Kaum war ich ins Großraumbüro zurückgekehrt, hatte Patricia mich umkreist wie ein hungriger Tiger. Zum Glück waren mittlerweile alle Schreibtische besetzt gewesen, sodass sie sich darauf hatte beschränken müssen, spitze Bemerkungen wie falsche Schlange und Biest in meine Richtung zu zischen. Bevor sie eine Gelegenheit gefunden hatte, mich doch noch mit Fragen zu löchern, hatte ich meine Tasche vom Schreibtisch geschnappt und war geflohen. Jetzt war es elf. Zu früh für die Mittagspause, aber genau richtig, um ein paar Überstunden abzubummeln.
Ich schürzte die Lippen, zog einen Barhocker heran und setzte mich an einen der beiden Stehtische im winzigen Gastraum. »Was gibt es an meiner Aufmachung auszusetzen?«, fragte ich finster.
»Da weiß ich nicht, wo ich anfangen soll. Diese Hochsteckfrisur passt nicht zu dir, der Rock ist zu eng. Perlmuttknöpfe, rosa Rüschen, und auf den Schuhen läufst du, als wären sie geborgt.« Mathéo würzte seine freche Bemerkung mit jungenhaftem Grinsen.
Ich hätte gern geschmollt, aber ich war zu neugierig. »Wie läuft man denn auf geborgten Schuhen?«, wollte ich wissen.
»Na, du stakst herum wie ein Storch im Salat.«
»Das ist ein dämlicher Spruch«, beschied ich.
»Und es sieht erst recht dämlich aus. Okay, ich will’s wissen: Wieso hast du dich so verkleidet? Du hast doch nicht etwa entschieden, dich in die lange Schlange der Business-Heinis einzureihen, die hier morgens freudlos für ihre Koffein-Dosis anstehen, bevor sie ins Büro rennen, artig stempeln und einen Diener vor ihrem Boss machen?«
»Wir wissen beide, dass du von diesen Heinis lebst«, erwiderte ich spitz. »Ein bisschen mehr Respekt also. Und nein, den Gedanken an die ganz große Karriere habe ich aufgegeben ... falls ich ihn je hatte.« Ich stützte die Ellbogen auf und barg das Kinn in den Händen. »Himmel, ich weiß es doch selbst nicht. Ich wollte um eine Gehaltserhöhung bitten und dachte, es sei eine gute Idee, wenn ich mich ein bisschen schick mache. Damit Randolph ganz klar sieht, dass er mich nicht abfertigen kann wie sonst immer. Hochoffiziell eben. Ein Gespräch auf Augenhöhe.«
»Ma chère, dieser Unmensch sieht dich jeden Tag. Du kannst ihm mit so einer läppischen Rüschen-Garnitur nichts vormachen.«
»Das weiß ich selber. Es ist ... ich wollte einfach alles richtig machen, weil es ausnahmsweise einmal um mich ging.«
Mathéo ließ die Kaffeemaschine wieder zischen. »Extra viel Milchschaum, ganz wie du es magst«, meinte er lächelnd, kam um die Theke herum und stellte den dampfenden Becher vor mir ab. »Und jetzt sagst du mir, ob du erfolgreich warst und demnächst zu den Großverdienern zählst.« Er beugte sich vor, legte die Ellbogen ab und stützte sein Kinn ebenfalls auf.
»Wieso willst du das wissen? Planst du eine Preiserhöhung?«
»Wie wäre es, wenn ich mich mit dir freue?« Er grinste schief und ich dachte, was für ein gutaussehender Kerl er doch war. Gebräunte Haut, eine wuschelige blonde Surfermähne und dieser Akzent, der in jedem seiner Worte einen Hauch von Paris und Melancholie mitschwingen ließ. Wäre er mein Typ, hätte er mich mit meinen biederen Vorstellungen von Monogamie und Verlässlichkeit in den Wahnsinn getrieben. Jede Zweite, die hier hereinkam, schmachtete ihn an. Nicht wenigen schenkte Mathéo seine Gunst - wenn auch nur für eine Nacht.
Seufzend zuckte ich eine Schulter. »Ich schätze, mit der Freude musst du dir noch ein wenig Zeit lassen.«
»Du bist abgeblitzt?« Seine Stimme klang warm und mitfühlend, hätte ich ihn nicht schon gemocht, jetzt hätte ich es.
Ich stieß den Löffel in den Schaum, als wäre der Milchkaffee ein Gegner. Heimlichkeiten waren mir immer ein Gräuel. Ich wollte die Geheimnisse anderer Menschen nicht. Wenn man sie kannte, musste man auf der Hut sein, sich nicht zu verquatschen. Das machte alles so verkrampft. Es verkrampfte mich. »Jein!«, gab ich ausweichend zurück. Das war hübsch. Es verriet nichts über Randolphs Gesundheitszustand und diesen strunzdämlichen Plan.
Nur leider war Mathéo mit der Antwort sichtlich unzufrieden.
Ein wenig lahm hängte ich an: »Es ist ... kompliziert.«
»Kompliziert im Sinne von: Nein, es gibt nicht mehr Geld?«
»Mathéo«, ich streckte mich, so dass ich aufrecht saß und auf Augenhöhe war, »das Wörtchen jein setzt sich aus ja und nein zusammen. Damit ist es kein Totalausfall. Es ist ... an Bedingungen geknüpft, über die ich nicht reden darf.« Ich hätte zu gern von mir abgelenkt. Sieh mal, da will jemand zahlen! Ach, schau doch, die langbeinige Blondine da vorn am Tresen. Leider war der Laden winzig und außer uns niemand in Sicht. Es gab zwei Stehtische mit Barhockern davor, die Theke, ihn und mich und ein dickes Geheimnis.
»Was für Bedingungen? Wieso spuckst du es nicht einfach aus?« Plötzlich sah er aus, als sei ihm das sprichwörtliche Lichtlein aufgegangen. Sein Lächeln erstarb. In Windeseile verwandelte sich Mathéo vom charmanten Interviewer in einen misstrauischen Sheriff der knallharten Sorte. »Du sollst doch wohl nichts Illegales tun? Kate?« Er klang echt wütend. Ach, dieses französische Temperament hatte schon Charme.
»Nein, illegal ist es nicht. Es passt mir nur nicht.« Besser noch, es passte nicht zu mir. Menschen ausspionieren, sie anschwärzen, Täuschung und Betrug. Wäre Randolph nicht krank gewesen, ich hätte sofort Nein gesagt. Erhöhung hin oder her. Ich konnte doch kein Geld annehmen für eine Sache, derer ich mich schämen musste.
»Ganz sicher?«
Ich kreuzte die Finger, denn jetzt, wo Mathéo darauf beharrte, ging mir auf, dass es tatsächlich illegal sein konnte. Musste man Menschen nicht informieren, bevor man sie filmte und ihre Stimme aufnahm?
Mir brach der Schweiß aus. Ich hatte daheim in Montana vier Brüder. Drei von ihnen arbeiteten auf Dads Ranch. Nur Gavin, der Jüngste im Bunde, geriet regelmäßig in Schwierigkeiten. Nicht dass er Banken überfallen oder Omis die Ersparnisse geklaut hätte. Dumme Jungenstreiche, für die er mit siebenundzwanzig eindeutig zu alt war. Wenn nachts das Telefon klingelte, überschlugen sich meine Brüder, um ranzugehen, bevor Dad aufwachte. Ein paarmal war es gelungen, Gavin stillschweigend aus dem Gewahrsam des Sheriffs zu holen. Etwa als die Touristen-Saison angefangen hatte und Gavin in einer Nacht-und-Nebelaktion über alle Ortsschilder zu unserem Kaff einen falschen Namen geklebt hatte. Die Dümmsten waren stundenlang um den Ort gekurvt, bis sie es endlich kapiert hatten. Auf jeden Fall hatte Dad seit der Pubertät einen Haufen Bußgelder für Gavin hingeblättert.
Wenn ich jetzt ebenfalls aus der Reihe tanzte und verhaftet wurde, würde ihn das umbringen. In mich setzten alle große Hoffnungen. Ich war die, die das Stipendium ergattert hatte, das Mädchen, das in jedem Sommer mit aufgeschlagenen Knien und Kletten im Haar durch den Ort marschiert war und nun Karriere machte. Sie erzählten es jedem, der nicht schnell genug wegrannte. Ich hatte es einfach nicht übers Herz gebracht, ihnen diesen Stolz zu nehmen und von meinem miesen Job mit der schlechten Bezahlung zu erzählen. Ich würde nicht riskieren, etwas Illegales zu tun, für das ich verhaftet werden konnte, denn das hieße, Dad und meine Brüder dem Spott der Schandmäuler in unserem Kaff auszusetzen.
Mathéo öffnete den Mund, um weiter zu bohren, als glücklicherweise jemand die Ladentür aufstieß. Ich hüpfte vom Hocker und verschwand hinter der Theke in Richtung Toilette. Vorn wurde ein Coffee to go bestellt.
Es war Zeit, meine Porno-Tipsen-Aufmachung zu entschärfen. Keine Ahnung, ob ich den Reißverschluss noch zubekam, wenn ich den fleischfarbenen Stretch von meinen Hüften geschält hatte, aber ich hielt es nicht eine Minute länger in dieser Wurtstpelle aus.
Die Qual begann in der Toilette. Kaum war die Pelle unten, kribbelten meine Schenkel wie irre. Klar, den ganzen Morgen waren sie von jeder Durchblutung abgeklemmt worden. Noch schlimmer war es an den Füßen. Ich wollte nicht wieder in diese fingerhutgroßen Schühchen steigen. Zähneknirschend nahm ich die Schuhe in die Hand, knüllte die Stretchhose in meiner Faust zusammen und verließ Mathéos Toilette.
In der Küche war ein Spiegel über dem Waschbecken montiert. Ich blieb stehen und streckte meinem Spiegelbild die Zunge heraus. Ich hatte es satt, wie eine Karnevals-Kuh herumzulaufen. Langsam zog ich die Nadeln aus den Haaren und löste den strengen Dutt. Eine Flut blonder Wellen ergoss sich über meine Schultern. So wirkte mein Gesicht gleich viel weicher und weniger ernst. Außerdem gefielen mir der Mascara und der Hauch von Lidschatten, zu denen mich Trisha überredet hatte. Meine blauen Augen strahlten förmlich.
Nur, was hatte mir diese Verkleidung letztlich gebracht? Nichts. Wenn man von Wahrheiten absah, die mir schwer im Magen lagen. Ich fühlte irritierendes Mitleid für Randolph, einen Menschen, zu dem ich seit eineinhalb Jahren keine wirkliche Verbindung fand. Bestenfalls war er höflich distanziert, viel öfter benahm er sich wie ein Rammbock vor dem Burgtor. Trotzdem musste ich jetzt die Tränen wegblinzeln. Wenn jemand starb, wenn seine Tage gezählt waren, verzieh man ihm so manches.
Hätte ich nur diesen dämlichen Wisch nicht unterschrieben. Ich verstand es ja, sobald bekannt wurde, dass Randolph krank und kein Nachfolger für Banks Inc. gefunden war, würde der Aktienkurs ins Trudeln geraten. Dennoch war mir dringend danach, dieses ganze Kuddelmuddel vor jemandem auszubreiten und es so lange zu diskutieren, bis ich wusste, was ich tun sollte.
Mir graute vor der Reise. Ein Survival-Urlaub? Ich? Ausgerechnet. Ich war auf einer Ranch groß geworden, nicht in einem Schlauchboot, das durch eine Schlucht trieb, die dazu taugte, zum Mekka potenzieller Selbstmörder gekürt zu werden. Rafting, Klettern, Höhlentouren – das alles brauchte doch kein Mensch. Und erst recht nicht, wenn ihm vier schwer überbezahlte männliche Diven im Nacken saßen.
»Kate, bist du vom Klo gefallen? Gleich wird der Laden voll und ich müsste mal ins Lager.« Mathéos Klopfen ließ die klapprige Küchentür erzittern. Da die Toilettentür nicht abschließbar war, hatte ich eben diese verriegelt.
»Ich komm ja schon«, rief ich, raffte die Überreste meines Büro-Tussi-Stylings zusammen und öffnete. »Wann suchst du dir endlich ein Ladenlokal, in das mehr als drei Gäste passen und in dem nicht alle Zimmer wie Perlen an einer Kordel angeordnet sind?« Das Problem war, dass irgendwer es lustig gefunden haben musste, alle Räume einschließlich der Toilette als Durchgangszimmer zu konzipieren. Durch die Küche und das Bad gelangte man ins Lager, von dort ins Büro und weiter in den Hausflur und auf den Hof.
Mathéo verdrehte die Augen. »Wenn es dir hier nicht passt, Prinzessin, geh doch in deinem schicken Büro-Palast zur Toilette. Da habt ihr bestimmt flauschige Frottee-Handtücher und mit Nerzhaar veredeltes Klopapier.« Seine Stimme troff vor Ironie. «Und auf dem Rückweg ziehst du dir einen von diesen köstlichen Automatenkaffees.«
Ich rümpfte die Nase. »Alles, nur das nicht. Wenn du mich weiter mit der letzten legalen Droge von Baecon Hill versorgst, darfst du mich ausquetschen und beschimpfen, so viel du willst.«
»Brav! Ich mag meine Koffein-Süchtigen. Ihr macht mich reich.« Mathéo zwinkerte mir zu, griff nach meinen Schultern und schob mich beiseite.
Ich huschte nach vorn und trat just in dem Moment hinter die Theke, in dem die Ladentür aufsprang und einen Mann hereinspuckte. Groß, breitschultrig, eine Augenweide.
»Hallo!« Gott, dieses Lächeln. »Ich hätte gern einen Kaffee. Schwarz. Und ein Stück von der Quiche Lorraine.«
Ich sah ihn an wie eine frisch erwachte Schlafwandlerin. »Es gibt Quiche?« Diskret ließ ich die Speck-weg-Pelle zu Boden segeln und kickte sie unter die Kühleinheit.
Er hob die Brauen, ein Lächeln spielte um seine vollen Lippen. »Na, zumindest steht das draußen auf der Tafel.«
»Was gibt es?« Von der Schlafwandlerin zum hypnotisierten Kalb in nur zwei Sekunden. Das war ein neuer Rekord.
»Na, Quiche.« Mittlerweile klang er merklich amüsiert.
Ich musste verdammt nochmal aufhören, ihn anzustarren. Unbeholfen mit den Schuhen wedelnd bedeutete ich ihm, den Durchgang freizumachen. Wortlos klappte unsere Kommunikation besser, er parierte. Ich schlüpfte durch die Lücke und stand im nächsten Moment so dicht bei ihm, dass ich den Kopf leicht nach hinten legen musste, um ihm in die Augen sehen zu können. Sie waren grün mit glänzend goldbraunen Tupfen.
»Tut mir leid«, sagte ich, nachdem ich mich umständlich geräuspert hatte. »Ich bin selber nur Gast und weiß nicht, ob das Schild da draußen noch aktuell ist. Was Mathéo auf die Karte setzt, entscheidet er morgens auf dem Großmarkt spontan.« Auskunftsfreudig wie eine Messehostess. Ich rümpfte die Nase über mich.
Er verstand die Geste prompt falsch. »Was ist? Sind seine kulinarischen Kreationen ein Reinfall?«
»Sind sie nicht!« Mathéos Stimme klang absolut humorlos aus der Küche herüber. »Und natürlich ist das Schild aktuell.«
Ich sah zur Decke. Könnten wir bitte noch mal alle Darsteller auf die Ausgangsposition schicken, damit ich von vorn anfangen und mir etwas charmant Schlagfertiges ausdenken kann? Niemand erhörte mich, der Film lief stur weiter und Mathéo kam nach vorn, was mir Gelegenheit gab, den Neuzugang verstohlen von der Seite zu mustern.
Männer wie ihn traf man in Montana in jeder Bar. Schmale Hüften, breite Schultern, eine Statur, die von harter Arbeit zeugte, weil niemand Zeit darauf verschwendete, in einem Studio mit Hanteln herumzuwedeln. Nur rochen die Männer dort nach Pferd, Diesel, Schweiß und Sonne. Jeans, Karohemd, Boots, Stetson. Mehr brauchte man für die Arbeit auf einer Ranch nicht. Hier lagen die Dinge anders. Der Anzug, den dieses Exemplar trug, war Marke Oberliga. Dunkelblau, figurnah geschnitten, und wenn mich nicht alles täuschte, eine Maßanfertigung, die sich wie eine zweite Haut um seinen athletischen Körper schmiegte.
»Kate?«
Ich schüttelte mich wie ein nasser Hund und gewahrte Mathéos fragenden Blick. »Hab ich was verpasst?«
»Wie man’s nimmt. Wahrscheinlich ist es dort, wo du gerade warst, erheblich netter als hier. Ich habe lediglich gefragt, ob ich dir auch ein Stück Quiche warm machen soll.«
Oh, du böser, böser Mann! Du musst gar nicht tun, als hättest du mein lächerliches Schmachten nicht bemerkt. Ich sehe es in deinen Augen. »Danke, nein«, gab ich zurück und erwiderte Mathéos freches Grinsen mit giftigem Blick.
Bevor ich mich noch lächerlicher machte, lief ich die zwei Schritte zum Tisch, stülpte die winzigen Pumps über meine Füße und hüpfte auf den Hocker. Wieder ging die Tür. Ich sah zur Uhr. Gleich würde es im Kaffee-Traum voller sein als in einer Sardinenbüche, denn der erste Schub Mittagsgäste trudelte ein. Wenn ich sitzen bleiben wollte, musste ich etwas bestellen. Ich hob die Hand und tat, als würde ich eine Gabel zum Mund führen.
Mathéo hatte mich verstanden und nickte. Ich strahlte ihn dankbar an. Wenn schon eine Idiotin, dann wenigstens eine nette.
Ich hatte mich gerade so hingesetzt, dass das Kneifen des Rockes erträglich war, als der Anzug sich direkt neben mir aufbaute. »Darf ich?«
Nein! Bitte nicht! Ich bin durcheinander genug und seit einem Jahr dermaßen einsam, dass ich es für eine gute Idee halten könnte, mich dir an den Hals zu werfen. Ich legte mir eine freundliche Absage zurecht, als ich das Kuvert sah, das aus seiner Tasche lugte. Auf dem oberen Ende das Zeichen von American Airlines, ein Streifen in Blau und Rot, getrennt durch einen stilisierten Adlerkopf, der vor eine Palmenkulisse gedruckt war. Das war doch kein Zufall. Vier Umschläge wie diesen hatte ich vor einer halben Stunde in den Vorstandssekretariaten verteilt. Falls das das sechste Kuvert war, das Lavinia und Randolph hatten übergeben wollen, wollte ich wissen, warum ausgerechnet dieser Kerl es bekommen hatte.
»Ja, gern. Der Platz ist noch frei«, hörte ich mich sagen. Ganz die kleine Spionin, die in der Wildnis mit Diktiergerät und Satellitenhandy die Vorstands-Riege von Banks Inc. hinters Licht führen würde.
Mit einer geschmeidigen Bewegung zog er den freien Barhocker heran und nahm mir gegenüber Platz. »Ich dachte schon, Sie lassen mich abblitzen.« Seine Stimme war angenehm, tief und männlich, ohne dabei zu knarzen, als würde er täglich eine halbe Tabakplantage verqualmen.
»Das wollte ich auch, aber mir ist auf die Schnelle keine nette Ausrede eingefallen.«
Seine Mundwinkel hoben sich. »Hat Ihnen schon mal jemand gesagt, dass Ehrlichkeit nicht immer charmant ist?«
Ich zuckte die Achseln. »Charme wird überbewertet, wenn Sie mich fragen. Nehmen wir die Frau da draußen.« Ich nickte mit dem Kinn in Richtung Tür. Er folgte meinem Wink. »Während sie mit ihrem Begleiter spricht, hat sie den Mann, der jetzt hereinkommt, und zwei, die eben vorbeigelaufen sind, von Kopf bis Fuß gescannt. Trotzdem lächelt sie, klimpert mit den Wimpern und hält ihren Begleiter bei der Stange. Sie mögen es Charme nennen, ich finde es unaufrichtig. Wieso geht sie nicht allein los, wenn sie Ausschau nach Männern halten will? Warum muss sie so einen armen Kerl mit ihrem Charme umgarnen, ihn schmachten und sich zum Trottel machen lassen?«
Der Anzug verhakte seinen Blick in meinem und lachte. Warm, nicht zu laut, einnehmend. »Was, wenn er weiß, dass er schlechte Karten hat, und trotzdem nicht aufgibt? Das Jäger-und-Sammler-Phänomen. Er will keinen leichten Sieg. Sind nicht schon ganze Kontinente über der Frage verzweifelt, warum Männer das, was ihnen freimütig gegeben wird, nicht annehmen, und lieber hinter der unerreichbaren Beute herstolpern?«
»Hm.« Ich rührte in meiner Tasse. Der Milchschaum war längst in sich zusammengefallen, die trübe Brühe nicht mal mehr lauwarm. »Hat nicht längst jemand herausgefunden, dass es dabei gar nicht um die Beute, sondern vielmehr um das Ego des Jägers geht?«
Er beugte sich über den Tisch, sein forschender Blick tastete über mein Gesicht. Fast fühlte ich ein sanftes Streicheln auf meiner Haut.
Einsamkeit. Das ist nur diese posttraumatische, dämliche Einsamkeit. Er will fette Beute, während ich mich über jede dahingelächelte Brotkrume freue! Zum Glück konnte er meine Gedanken nicht lesen.
Eine muskulöse, leicht gebräunte Hand schob sich über den Tisch. Manschettenknöpfe, das zeugte von Stil und war mir vorher nicht aufgefallen. »Jack.«
»Wie bitte?«
»Na, wenn wir schon so eine Art Grundkurs in Philosophie absolvieren, sollten wir uns wenigstens beim Namen kennen. Ich heiße Jack.«
»Kate!« Es war wie in diesen vertrackten Situationen auf Partys. Man sagte viel zu lauten, viel zu aufdringlichen Leuten seinen Namen und plötzlich wollten sie Brüderschaft trinken und den Irrsinn zur Krönung mit einem Kuss besiegeln. Wer nicht als verklemmt gelten wollte, hatte keine Wahl. So wie ich nun nicht darum herumkam, die ausgestreckte Hand zu schütteln. Zögernd schob ich meine Finger in seine. Er drückte zu. Fest, aber nicht zu fest. Ich erwiderte den Druck und spürte leichte elektrische Impulse, die sich durch meine Haut kribbelten. Als Jack losließ, hallte die Berührung in mir nach. Hastig hob ich die Ellbogen auf den Tisch und stützte mein Kinn in die verschränkten Hände, um ihn nicht sehen zu lassen, dass meine Finger leicht zitterten.
Er legte den Kopf schief. »Das Ego des Jägers also«, nahm er den Faden wieder auf. »Damit hast du zweifellos recht. Nur dass es bei dir so negativ klingt. Beginnt nicht immer alles mit dem Ego? Wie passt jemand zu mir? Wie passt er in mein Leben? Denn um ein Gefühl für den anderen und sein Wollen zu bekommen, muss der Jäger die Beute ja erst mal fangen und kennenlernen.«
»Hübsche Vorstellung. Ich meine, dass er die Beute nicht gleich erlegt, sondern ein bisschen mit ihr spielt, bevor er sie über kleiner Flamme röstet«, erwiderte ich, um anschließend gebannt zuzusehen, wie Jack sich eine dunkle, lockige Strähne aus der Stirn strich. Wenn es so weiterging, würde ich aus dem Stand eine Rolle im nächsten Cola light-Werbespot ergattern, wo ich nichts zu tun hätte, als einen schwitzenden Fensterputzer anzuschmachten. Reiß dich zusammen, Kate! Dass er dich duzt und dir seinen Vornamen gesagt hat, heißt gar nichts.
Jack ließ die Hand sinken, mein Blick ruhte noch immer auf seinem Haar. Es war dicht und relativ kurz geschnitten, aber noch lang genug, um die Finger darin zu vergraben.
»Fangen, reden, rösten? Das ist mir zu viel Schwarz-Weiß-Malerei. Was, wenn der Jäger die Beute kennenlernt, feststellt, dass sie nur charmante Floskeln absondert, um zu kaschieren, dass sie eine hohle Nuss ist? Er könnte sie gehen lassen.«
»Er fängt sie, um sie zu verstehen? Und dann lässt er sie gehen? Hm, wenn wir voraussetzen, dass der Jäger ein Freudianer und Anhänger der Psychoanalyse ist, klingt das durchaus logisch«, gab ich mit einem Anflug von Sarkasmus zurück. »Schnappen, analysieren, inhaftieren oder gehen lassen. Nur leider wird der Jäger davon nicht satt. Schon mal darüber nachgedacht, Freud?«
Langsam gewöhnte ich mich an das warme Lachen. Nicht an die Augen, die dabei so spitzbübisch aufleuchteten. Die goldenen Einsprengsel ließen das moosige Grün seiner Iriden leuchten wie einen Waldsee in der Sonne. Ähm, hatte ich das jetzt tatsächlich gedacht? Echt jetzt?
»Wäre der Jäger ein Steinzeitmann, lägest du damit sicher richtig. Nur lebt er nicht mehr in einer Höhle und kann sich das Essen vom Fahrradkurier liefern lassen. Also fängt er zum Spaß ...«
»Oder um sich fleißig zu vermehren«, fiel ich Jack ins Wort.
»Oder so«, bestätigte er. »Da die Spezies Mensch aber zweifellos nicht ausstirbt, wenn ausgerechnet er sich nicht vermehrt, ist der Druck der Arterhaltung gering. Ergo geht es um Vergnügen, um die Freude, eine Seele gefunden zu haben, die seinen Intellekt stimuliert. Womit wir wieder beim Ego wären. Suchen wir uns eine schöne Trophäe, haben Spaß mit ihr und schauen, ob sie auch für den Rest in Frage kommt und so interessant ist, dass wir uns mit ihrem Ego auseinandersetzen wollen. Wenn nicht, müssen wir weitersuchen.«
»Es kommt also zuerst allein auf die Optik an. Du würdest einer stimulierenden Seele keine Chance geben, wenn sie ... wenn sie hässlich ist?«, fragte ich fassungslos. Normalerweise posaunten Männer doch ständig herum, wie wichtig ihnen die inneren Werte waren. Klar, jede Frau jenseits der fünfundzwanzig wusste, was sie davon zu halten hatte. Trotzdem hoffte man ja doch, dass es einen geben könnte, dem es damit ernst war.
»Nicht allein die Optik, wie gesagt. Nur nimmt man starke Reize wie einen roten Lippenstift und einen kurzen Rock eben stärker wahr als ein sackartiges Kleid, das alles verhüllt.«
»Bist du sicher, dass du nicht da rausgehen und dein Glück bei dieser wandelnden Charme-Offensive versuchen willst?«
»Ah«, seine Iriden leuchteten triumphierend auf, »du denkst also, dass sie diesen Deppen für mich stehenlässt? Weil du mich für die bessere Wahl hältst!«
»Du«, ich hob mein Kinn, löste die Hände und stupste mit dem Zeigefinger provozierend gegen Jacks Schulter, »hältst dich für die bessere Wahl.« Gott, dieses Lächeln. Unter seinem säuberlich getrimmten Dreitagebart offenbarte sich ein Grübchen.
»Ich weiß gar nicht, ob es ein Kompliment ist, die bessere Wahl zu sein. Wenn ich es recht betrachte, würde ich es doch vorziehen, der bessere Jäger zu sein. Dieser Titel verleiht einem so etwas Archaisches.«
»Archaisch?« Mathéo war unbemerkt mit zwei Tellern in der Hand neben uns aufgetaucht. »Ich weiß nicht, wen oder was Sie jagen wollen, aber hier ...«, er stellte die Quiche vor uns ab, »... kommt das Essen auf den Tisch, ohne dass irgendjemand seinen Faustkeil schwingt.«
»Gut zu wissen, vielleicht verirre ich mich jetzt öfter hierher. In Läden, in denen man die Beute noch ausweiden und häuten muss, kommt man mit einer halben Stunde Mittagspause oft nicht hin«, erwiderte Jack gutgelaunt und griff zum Besteck.
Schweigend begannen wir zu
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Tag der Veröffentlichung: 17.02.2019
ISBN: 978-3-7438-9698-7
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