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Angriff der Killerfotzen


Angriff der Killerfotzen

 

 

 

 

Thomas Reich

 

Text 2014 © von Thomas Reich

Coverphoto © http://maxpixel.freegreatpicture.com/Cactus-Night-Landscape-Stars-Desert-Sky-Milky-Way-923738 + https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Lamprey_mouth.jpg

Quellen: Flugblatt Nr. I der weißen Rose, in abgewandelter Form

 

Impressum: Thomas Reich

Bachenstr. 14

78054 Villingen-Schwenningen

Über das Buch:

 

Die Bedrohung aus dem All ist feucht und haarig! Unbarmherzig verschlingt sie alles, was sich ihr in den Weg stellt. Sie will die Weltherrschaft! Oder zumindest die idyllische Kleinstadt Bride Falls unter ihren Schlund bringen. Nur eine Schülerin und ihr kauziger Physiklehrer stellen sich ihr mutig entgegen.

Im Sternbild des Bären

Seit die ersten Autos in Detroit vom Fließband rollten, war das Indianerwäldchen über der Stadt ein beliebtes Ausflugsziel für Liebespaare gewesen. Teenager aus strengem Elternhaus fuhren heimlich den schmalen Schotterweg hinauf, der einst eine asphaltierte Straße gewesen war. Dicht an dicht raubten hohe Eschen einander das zum Leben notwendige Licht. Nur in ihren sanft schaukelnden Kronen wisperte das Laub. In manchen Nächten klang es hungrig, ein anderes Mal nur leidenschaftlich. Wer den beschwerlichen Aufstieg schaffte, wurde mit einer phänomenalen Aussicht belohnt. Der grüne Vorhang teilte die Landschaft zu einem natürlichen Plateau. Wissenschaftler hatten herausgefunden, dass Bride Falls seine Entstehung einem Meteoriteneinschlag zu verdanken hatte. Groß genug, um ein Loch in die Erdkruste zu schlagen, in dessen fruchtbarer Talsenke die Stadt gewachsen war. Aber zu klein, um das Leben auf Erden für immer auszulöschen. Als die Siedler mit ihren Planwagen ankamen, war dies das Land der Fische und Bären gewesen. Für ein paar bunte Glasperlen hatten die Pioniere es den Indianern abgeluchst, und die Pflöcke für ihre Holzhütten auf dem heutigen Gelände der Exxon Mobile Tankstelle in der Cardinal Street eingeschlagen. Über den Connecticut River unterhielten die Siedler einen angeregten Handel mit anderen Kolonien. Tauschten tote Bärenfälle gegen lebende Huren mit spitzenen Unterröcken. In den zwanziger Jahren des letzten Jahrhunderts lagerte der Rotlichtbezirk seine verrauchten Lasterhöhlen in das Industriegebiet am Flughafen aus. Die Blockhütten existierten längst nicht mehr, waren verfault und abgerissen worden. Beton hieß das neue Holz, welches man leicht reproduzieren und in beliebige Formen gießen konnte.

Der Aussichtshügel thronte über dieser natürlichen Bruchkante wie ein König in Seide und Hermelin. An seinen Rändern rieselte die Krume in schwindelerregende Tiefen. Die Stadtväter wetterten erfolglos gegen das unsittliche Treiben. Jeden Menschen juckte es einmal zwischen den Beinen. Inmitten der Eschen gab es ein probates Heilmittel gegen den unerträglichen Juckreiz. Manchmal brannte es hinterher mehr als vorher. Alles eine Frage von Körperhygiene und Verhütungsmethoden. Oder von Umfang und Durchmesser. Ausgehungerte Möchtegern-Models und maisgenährte Monsterprügel passten einfach nicht zusammen. Egal, das Runde musste ins Eckige. Kondome hingen in allen Farben in den Büschen, wie gehäutete Schlangen. Reptilien konnten bei Gefahr ihre Schwänze abwerfen, Menschen nur bei Lepra.

John Rockway spielte an der Thomas Jefferson Highschool in der Footballmannschaft. Mit seinen breiten Schultern hatte er gute Chancen auf ein Stipendium, welches das Ticket aus der Stadt bedeutete. Und darauf, die Schenkel jedes Mädchens der Unterprima zu spreizen. Bye-Bye Kleinstadt, willkommen süße Träume. Sportlern lag die Welt zu Füssen, feucht und haarig. Wenn er an den Schließfächern vorbeikam, tuschelten und kicherten sie. Wangen liefen rot an, wenn er ihnen ein Lächeln seiner Gunst schenkte. Jede hätte sich glücklich geschätzt, an seiner Seite zu sein. Oder unter ihm zu liegen, und seinen Namen in den Himmel zu tschilpen wie ein Vogel. Seine aktuelle Freundin hieß Sue Klein, und war die Tochter deutscher Einwanderer. John liebte ihre langen blonden Haare, die ihr wie Honig um die Brüste flossen. Wochenlang lief er mit Eiern durch die Schule, dicker als das alte Schweinsleder auf der Hundert-Yard-Linie. Doch mehr als seine Zunge in ihrem Hals hatte er nicht versenkt. Die Jungs in der Umkleide rissen schon Witze über ihn. Ob er Manns genug sei, sie flachzulegen. Erschwerend kam hinzu, dass Sue eigentlich als Luder galt. Ob die Jungs übertrieben hatten? Den Gerüchten in Männerumkleiden war genau so viel Wahrheit beizumessen wie dem Geplapper der Mädchen in der Cafeteria. Letztes Wochenende im Lichtspielhaus, da war seine Hand immerhin unter ihrem Shirt gewesen. Ihre Warzenvorhöfe waren knackig und klein wie die eines Knaben. Aber sie hingen an Eutern, mit denen eine Kuh eine ganze Armee an Kälbern hätte stillen können. Viel zu lange hatte Sue ihn zappeln lassen. Von Dad hatte John den Pickup für einen Ausflug zu den Sternen geliehen. Als er ihm die Schlüssel aushändigte, hatte er schelmisch gezwinkert. Vater und Sohn verstanden sich prima. Rockway senior war vor seiner Heirat mit der Ballkönigin auch ein schlimmer Finger gewesen. Wegen einer Rückenverletzung hatte er den Sport aufgegeben. Wenn das Kaminfeuer unter den Nikolaussocken knisterte, schwelgte er in Erinnerungen. Bevor seine Karriere als Basketballstar den Bach hinunterging. Und er anfing Versicherungen zu verkaufen. Sein Sohn würde die Tradition der Rockways weiterführen. Heute würde John ihren Honigtopf ausschlecken!

„Es ist schön hier oben, nicht wahr?“

Unter ihnen lagen die Neonlichter von Bride Falls. Die Hauptstraße mit den kleinen Geschäften, Schnapsläden und Arbeiterkneipen. Das Einkaufszentrum am Stadtrand hatte rund um die Uhr geöffnet. Nacht saßen Aushilfen an der Kasse, die keinen besseren Job finden konnten. John kaufte nur tagsüber ein, und konnte den Ausgestoßenen dabei nicht in die Augen sehen. Von einer Idylle konnte keine Rede sein. Die Menschen hier galten als hartherzig, und ihre müden Hände waren voller Schwielen, wenn sie abends in die Kiste fielen. Oder morgens, nach dem Ende einer langen Nachtschicht.

„Ich komme oft wegen der Sonnenuntergänge, und wegen der Aussicht. Man kann die ganze Stadt sehen.“

„Sogar die beschissene Schule.“

Schweigen. In dem Zigarettenspitzen tanzten wie orangerote Glühwürmchen.

„Was machst du nächstes Jahr, wenn du deinen Abschluss hast?“

„Keine Ahnung. Denke mal, ich gehe aufs College. Dad kümmert sich darum.“

„Und was wird dann aus mir?“

„Kommt darauf an, wie du dich anstellst.“

Seine Hand glitt unter ihre leichte Sommerstrickjacke. Doch dieses Mal blieb sie nicht bei den Brüsten stehen. Sondern glitt tiefer, in ihre Hose. John spürte krauses Haar, und etwas Weiches. Sue kicherte.

„Das kitzelt!“

„Ich kann dich noch viel mehr kitzeln, wenn du willst.“

Bride Falls schimmerte in der Abenddämmerung wie ein Longdrink. Unten die blinkenden Neonreklamen im Schlagschatten. Darüber leuchtete das intensive Rot der scheidenden Sonne. Als Topping hatte der Barkeeper heute Abend einen schwarzen Himmel aus dem Shaker gezaubert, in dem die Sterne wie grober Rohrzucker funkelten. Es würde eine klare Nacht werden, heilsame Kühlung für die erhitzten Körper des Tages. Zeit für süße Träume und bittere Erinnerungen an frühere Leben auf anderen Planeten. Wie klein der Mensch doch war, angesichts der Unendlichkeit des Universums. Nur ein Staubkorn in der Ewigkeit! Aus dem Firmament löste sich ein Stern, der heller leuchtete als alle anderen. Ob er für die Ankunft eines neuen Messias stand? Oder den Absturz eines Fernsehsatelliten? Über John und Sue zog eine Sternschnuppe hinweg.

„Wünsch dir etwas, das bringt Glück.“

Heiß wie der Atem eines Drachen brannte die Luft, als der Feuerball krachend in die Bäume schlug. John verlor dabei eine Augenbraue. Zischend schmurgelten die Haare kraus. So stank es, wenn man selbst brannte. Wie ein Scheiterhaufen im mittelalterlichen Europa. Zum Glück hatte seine Frisur nichts abbekommen, sonst wäre er wirklich ausgetickt. Aber Augenbrauen wuchsen nach.

„Heilige Scheiße, was war das denn?“

Ein Waldbrand würde ihnen den Rückweg ins Tal abschneiden. Und sie an die Klippe drängen, wo der sichere Tod auf den Felsen lauerte. Sue schlug das Herz bis zum Hals. Der Feuerball hatte ein kreisrundes Loch in die Natur geschnitten wie ein Laserschwert. Äste waren verschmolzen oder abgetrennt, und fielen als Brennholz zu Boden. Es erinnerte sie an die Terminatorfilme, die als Wiederholung im Abendprogramm liefen. Aus den Zeiten, wo Arnold ein Actionheld gewesen war. Und nicht der Gouverneur von Kalifornien.

„Lass uns verschwinden, das ist mir nicht geheuer.“

„Ich gehe mal nachsehen.“

Entgegen dem Gerede hinter ihrem Rücken war sie wirklich noch Jungfrau. John hätte das vielleicht geändert. Jegliches Prickeln in ihrem Schoss war verschwunden. Nun hatte sie nur noch Angst.

„Bitte bleib hier!“

„Bist du verrückt? Wir waren die ersten, die es gesehen haben. Damit können wir morgen in der Schule angeben.“

Mit einem Ruck war er von der Ladefläche des Pickup verschwunden. Sue hörte, wie sich seine Schuhsohlen in den feuchten Boden bohrten. Es war ein regnerischer Sommer gewesen, erst seit Sonntag hatten die Wolken sich verzogen. Die Dunkelheit verschluckte die Stadt und ihre Menschen. Umso deutlicher traten die Sterne hervor. Wenn die Welt unterging, würden sie ihre einzige Lichtquelle sein. Hier oben brannten keine Straßenlaternen, nur ihre angstvoll bibbernden Herzen. Sue dachte an ihre Mutter im Trailerpark, die sich bestimmt Sorgen machen würde. Ob der Ritter in goldener Rüstung nicht aus Katzengold gemacht war. Und ob John der Richtige für sie war. Nein Mutter, ich werde meine Träume nicht für den erstbesten Kerl an den Nagel hängen. Und mich schwängern lassen wie du. In ihrer Handtasche steckte neben ihrem Lippenstift eine Packung Kondome. Männer liebten rote Lippen. Sie waren ein Zeichen für Paarungswilligkeit. Wie bei den Primaten.


*


Als Quarterback der Jefferson High hätte er nie Schwäche zeigen können. Vater würde im Arbeitszimmer über seinen Papieren sitzen, und eine Zigarette nach der anderen an den Nachtwind verfeuern. Grandpa war an Lungenkrebs gestorben, als John ein kleiner Junge gewesen war. Noch Jahre später konnte er sich an das Aroma seines Pfeifentabaks erinnern. Irgendeine holländische Marke, die er im Einkaufszentrum bekam. John wurde bewusst, wie weit er von seiner Familie entfernt war. Auf dem harmlosen Aussichtshügel im Norden der Stadt. Er hatte das Klein-Mädchen vögeln wollen. Seinen Kumpels darüber berichten wie ihre Fotze aussah, und die Striemen auf seinem Rücken wie ehrenvolle Kriegsverletzungen in der Umkleide umherzeigen. Wo sie ihre Fingernägel hineingerammt hatte, als er seinen Samen in sie pumpte. Gegen die Gummihaut eines Kondoms prallte. Ihr nicht näher kam, als die Begierden seiner Hosentasche. Von Liebe hatte er gefaselt, um ihr Interesse zu wecken. Von einer unvergesslichen Nacht der Romantik, als sie in sein Auto eingestiegen war. Alles Lüge, um die Büchse der Pandora zu öffnen. Das unvergleichliche Aroma nach Fleisch aufzusaugen, und die schützende Jungfernhaut abzuziehen. Auf der Ladefläche des Pickup lag eine Wolldecke. Sie würde all ihre Körperflüssigkeiten aufsaugen, ohne ein Wort darüber zu verlieren. Verschwiegen wie die Aushilfe der örtlichen Bibliothek. Die er auch schon gefickt hatte, mal so ganz nebenbei. Auf einem Stapel zurückgegebener Bücher.

Kühl schmiegte sich die Baumwolle seines offenen Arbeiterhemdes an seine Haut. Eben hatte sein Finger noch in ihrem warmen Fötzchen gesteckt. Aus dem Paradies vertrieben wie Adam, der sich seiner Scham bewusst an ein Feigenblatt klammerte. John hatte das nicht nötig. Er war tapfer, verdammt! Die Weiber machten gleich so ein Gedöns wegen eines harmlosen Himmelskörpers. Bestimmt war ein Satellit runtergekommen. Hoffentlich ein amerikanischer, und nicht so ein Überwachungssputnik der Russen! Dampf stieg aus dem Wald, oder Rauch. Er atmete in sein Hemd, es stank fürchterlich. Nicht nach einer verunglückten Maschine, sondern nach Fisch in süßsaurer Sauce. Wie Nummer 17 auf der Speisekarte im Tricky Thai, wo er manchmal nach der Schule hinfuhr, wenn seine Mum Brokkoli kochte. Den konnte er nämlich ums Verrecken nicht leiden.

„Du verdammtes Biest...“

John zog sein Handy aus der Tasche. Er würde Fotos von der Absturzstelle machen, und sie gleich bei Facebook posten. Um bei seinen Freunden Eindruck zu schinden. Wie konnte etwas was hell war wie tausend Sonnen keinen Waldbrand auslösen? Nun, wegen seiner Physiknote würde er nicht ans College kommen. Mit Mühe und Not konnte er sein “D“ halten. Aber beim alten Collins fiel es schwer, nicht einzuschlafen. Das musste auch sein Vater einsehen. Der den Bewerbungsschreiben an die Colleges stets einen großzügigen Spendenscheck beifügte.

Mit jedem seiner Schritte wurde der Fischgeruch intensiver. John begann zu schwitzen. Der Wald war heiß wie eine Dampfsauna und roch wie eine brandige Wunde. Bunte Schmetterlinge flatterten durch die Luft, die er nie zuvor gesehen hatte. Außer vielleicht in einer Reportage über den Amazonas. Weiter vorne raschelte das Gestrüpp. Bestimmt ein Murmeltier. John schob das dichte Geäst beiseite, und blieb wie angewurzelt stehen. Sein Smartphone glitt ihm aus den Händen. Wenn er dieses Ding zu Lebzeiten gepostet hätte, wären seine Freunde auf Facebook bestimmt aus dem Häuschen gewesen. Doch Johns Zeit war abgelaufen.

„Jesus Christus, es ist eine Fotze!“


*


Sue hatte geduldig gewartet, bis sie John schreien hörte. Beim Football-Training hatte sie oft auf der Tribüne gesessen, und den Jungs bei ihren Sprints zugesehen. Wie sie schwitzten und gleich wilden Tieren schrien. Ihr war heiß dabei geworden, und in Gedanken hatte sie sich nach John verzehrt. Doch dieser Schrei hatte nichts von einem Angriff. So klang eine gepeinigte Kreatur in Todesnot. Dann verstummte er urplötzlich. Etwas rutschte schnell wie eine Rohrpost, gefolgt von einem schrecklichen Schmatzen. Fassungslos suchte Sue in der Dunkelheit nach Antworten. Was um alles in der Welt war ihm zugestoßen? Ein bedrohliches Zischen aus dem Wald rüttelte sie wach. Was auch immer John geschnappt hatte, wollte einen Nachtisch mit blonden Haaren. Panisch schielte sie nach den Schlüsseln am Armaturenbrett. Flacher Stahl mit einem Haufen Elektronik im Transponder. Sie konnte nur beten, dass die Batterie geladen war. Und sie mit dem Leben davonkam. Doch der Schlüssel steckte fest. So sehr sie auch rüttelte und schimpfte, er ließ sich nicht drehen. Sues Angst schmeckte metallisch und kalt, während feine Härchen auf ihren Armen sich aufrichteten.

„Spring an, verflucht!“

Zuerst hielt sie es für eine überdimensionierte Nacktschnecke ohne Häuschen. Dann bemerkte sie die Haare, die oben darauf wuchsen. Was aus dem Wald kam, war eine zwei Meter große Fotze. Wie eine Schnecke glitt sie auf ihrer eigenen Schleimschicht, Zähne säumten ihre inneren Schamlippen. Sue wollte verdammt sein, wenn ihr das Miststück nicht höhnisch zulächelte. Endlich sprang der Pickup an, und mit quietschenden Reifen fuhr sie davon. Geriet ins Schlingern, als die Reifen in der Schleimspur die Bodenhaftung verloren. Fing sich wieder und brauste in die Stadt, den Schrecken im Nacken. Aber sie lebte!


*


Unter ihr polterten Baumwurzeln, die den Asphalt hochdrückten. Die Straße zum Aussichtshügel taugte nicht zum rasen, hatte es noch nie getan. Seit der Teer in dicken Brocken aus den Rändern bröselte. In der letzten Kurve überfuhr sie ein Tier, oder ein kleines Kind. Sue machte sich nicht die Mühe, das zu überprüfen. Wo sollte sie hin? Was sollte aus dem Wagen werden, der Johns Vater gehörte? Und was würde sie ihm sagen? Im Licht der ersten Laterne parkte sie am Straßenrand, und brach heulend zusammen. All die entsetzlichen Bilder übermannten sie. Sie musste sich eingestehen, nicht reif genug zu sein um die Situation zu lösen. Widerwillig steuerte sie die Polizeistation an. Sie musste sich einem Erwachsenen anvertrauen. Aber wer sollte ihr glauben? Niemals in ihrem Leben hatte sie sich so einsam gefühlt, wie in diesem Augenblick. In der hell erleuchteten Panzerglastür sah sie ihre verheulten Augen, dick und aufgequollen. Sie gab ein niederschmetterndes Bild ab. Dabei war sie eine sichere Anwärterin auf den Thron der Ballkönigin gewesen. Die das Gewicht der Blechkrone mit den Rheinkieseln schon spüren konnte. Mit zitternden Knien trat sie in die Wache ein. Der diensthabende Officer sah von seinem Mitternachtssnack auf, bestehend aus einem Bagel und einer Tasse schwarzen Automatenkaffees. Irgendwo hatte sie sein Gesicht schon einmal gesehen, konnte es aber nicht auf Anhieb zuordnen. Was kein Kunststück war, in einer Kleinstadt kannte jeder jeden. Er trug einen militärisch kurzen Bürstenhaarschnitt, der geradezu nach einer verspiegelten Pilotenbrille schrie. Er würde sie an sonnigen Tagen tragen, wenn er auf Streife ging. Sein blonder Schnurrbart wuchs so schnurgerade, als ob er ihn mit dem Lineal auf Linie trimmte. Er erinnerte sie an einen berühmten Pornodarsteller aus den siebziger Jahren, dessen blonder Schnurrbart sein Markenzeichen gewesen war. Dem Internet verdankte Sue eine Aufklärung, mit der der Sexualkunde-Unterricht nicht mithalten konnte. Ausführlich und in brillanter HD-Auflösung. Mutter kümmerte sich nicht darum, was ihre Tochter im Internet ansah. Weil sie selbst in einer Hotpants-Bar arbeitete, bis die Cellulitis ihr den Rest gab. Bier servierte zwischen Pailletten und Westernfransen. Das Nashville Inn war eine Country- und Westernkneipe im Süden der Stadt, wo Trucker Rast machten. Den Staub der Straße mit einem Bier runterspülten, oder auch zwei. Und üppige T-Bone-Steaks orderten, die das weiße Porzellan des Tellers komplett verdeckten. War die Generation Porno versauter als Generationen vor ihr? Sue hätte diese Frage klar verneint. Trotz aller Versuchungen war sie Jungfrau geblieben. Sie wäre bereit gewesen, ihr Häutchen dem Richtigen zu schenken. John wäre der Richtige gewesen, dachte sie grimmig. Der vom Erdboden verschluckt worden war. Oder von einer riesigen Fotze. Sie wünschte, es wäre ihre gewesen.

Auf dem Namensschild des diensthabenden Officers stand Steam. Wo hatte sie den Namen schon einmal gehört? Vielleicht in der Highschool. Er mochte der Vater eines Mitschülers sein.

„Ja?“

„Kann ich mit jemandem sprechen?“

„Worum geht es denn?“

„Es ist schwierig zu erklären.“

Sue strich eine Haarsträhne zurück, die ihr ins Gesicht fiel. Ihre Stimme brach, und sie musste sich am Tresen festhalten, als graue Schatten ihr Sichtfeld überlagerten. Sie biss sich auf die Unterlippe. Ein Schmerz so klar und rein, dass er eine Ohnmacht verhinderte. Salziges Blut floss ihre Kehle hinab.

„Dann komm mal nach hinten.“

In Bride Falls gab es Verhörzimmer für Verbrecher und Verdächtige. Und diskrete Räume, in denen Vergewaltigungsopfer oder verprügelte Ehefrauen Anzeige erstatteten.

„Was kann ich für dich tun?“

„Ich glaube John ist tot.“

„Wer ist John?“

„John Rockway.“

Die schmalen Augenbrauen von Officer Steam gingen hoch. Ungewollt wurde die Angelegenheit persönlich.

„Mein Sohn geht in dieselbe Klasse. Was ist mit John passiert?“

„Wir waren mit dem Wagen seines Vaters zum Aussichtshügel gefahren. Dort ging ein Feuerball vom Himmel nieder, und krachte in den Wald. Er wollte nachsehen, und dann habe ich ihn schreien gehört.“

Ihre Brust hob und senkte sich, während sie die Kontrolle über ihre Tränen verlor. Officer Steam nahm ihre Hand, und streichelte sie beruhigend.

„Da war ein Ding im Wald, das hat ihn gefressen!“

„Wir hatten schon oft Probleme mit wilden Bären. Meist sind es Touristen, die sie provozieren.“

Sue Klein schüttelte den Kopf.

„Das war kein Tier. Jedenfalls nicht im herkömmlichen Sinn.“

„Was dann?“

„Eine riesige Fotze hat ihn verschluckt.“

Peinlich berührt spielte Officer Steam mit seinem Kugelschreiber. Er hatte nicht erwartet, solch schmutzige Worte aus dem Mund eines Mädchen zu hören. Dabei wirkte sie mit der goldenen Haarspange aus billigem Stanzblech in ihren honigblonden Haaren wie eine brave Musterschülerin. Ein Mädchen aus einfachen Verhältnissen, ohne Frage.

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Texte: Thomas Reich
Cover: http://maxpixel.freegreatpicture.com/Cactus-Night-Landscape-Stars-Desert-Sky-Milky-Way-923738 + https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Lamprey_mouth.jpg
Tag der Veröffentlichung: 24.10.2014
ISBN: 978-3-7368-5030-9

Alle Rechte vorbehalten

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