Lügenkarussell
Thomas Reich
Text Copyright © 2010 Thomas Reich
Cover Copyright © https://www.flickr.com/photos/fabrisalvetti/400621503/ + https://pxhere.com/de/photo/609419 mit Änderungen
Impressum: Thomas Reich
Bachenstr. 14
78054 Villingen-Schwenningen
Alle Rechte vorbehalten.
Über das Buch:
Paula versucht der Routine ihrer langweiligen Ehe zu fliehen!
Erlebnishungrig hangelt sie sich von Affäre zu Affäre. Wie ein gelehriger Hund lernt sie der Fremden neue Spiele. Beißt sich fest in muskulösen Nacken, und streichelt über eine haarige Brust. Paula schreit ihre Lust heraus, wenn zwischen ihren Beinen ein praller Kolben werkelt. Mit jedem neuen Mann rutscht ihre Schamgrenze tiefer. Erst eine ungewollte Schwangerschaft kann ihren Kreuzzug der Lust zügeln. Wie soll sie jetzt noch ihrem Mann unter die Augen treten?
„Wie können Sie so etwas behaupten? Der Roman lebt von der Wiederholung, und die Wiederholung verwandelt Begierde in Kunst. Außerdem ist jedes Mal, da man liebt, das einzige Mal, da man je geliebt hat. Die Verschiedenheit des Objekts ändert nichts am Einmaligen der Leidenschaft. Sie vertieft es nur. Wir können im Leben bestenfalls ein großes Erlebnis haben, und das Geheimnis des Lebens ist, dieses Erlebnis so oft wie möglich zu wiederholen.“
„Selbst, wenn es einen verwundet hat, Harry?“ fragte die Herzogin nach einer Pause.
„Gerade dann, wenn es einen verwundet hat“, erwiderte Lord Henry.
Oskar Wilde, das Bildnis des Dorian Gray
Frühling in München. Man konnte sich keine schönere Jahreszeit vorstellen. Im Westpark saßen die Spatzen auf den Zweigen, anstatt von den Dächern zu pfeifen. Bauten Nester für den Nach//-wuchs, in den altehrwürdigen Buchen, die das Parkgelände säumten. Weiter oben gingen sie in einen Birkenbestand über, der einen hellen und lichtdurchfluteten Waldweg markierte. Ein strahlendblauer Himmel schimmerte durch die Baumkronen. Jogger verirrten sich selten hierher, dafür aber Mütter mit ihren Kindern. Hier herrschte noch eine natürliche Ordnung. Die Junkies, die ihre gebrauchten Spritzen fallen ließen, wo sie lagen und standen, kamen nicht durch die |Bannmeile|, die rund um den Bahnhof gezogen wurde. Die Hundebesitzer im Viertel führten stets einen Plastikbeutel mit sich, in dem sie die Hinter{lassenschaften ihrer Liebsten diskret entsorgten. Auf einer der frisch gestrichenen Bänke, die den Spielplatz umsäumten, saß Paula mit ihrer besten Freundin Svetlana. Beide teil][ten sie sich einen Schokoladenkuchen, den sie vorsichtig aus einer Tupperdose servierten. Die vollgebröselten Pappteller auf der Bank.
„Ein richtiger kleiner Mann, findest du nicht?“
„Ich erinnere mich noch, wie du ihn aus dem Krankenhaus gebracht hast. Was für ein Würmchen er doch gewesen ist.“
Sie sahen Igor zu, wie er sich an den Eisen|s|t|a|n|g|e|n des Klettergerüstes empor angelte. So sicher wie ein Taucher, der aus einer unerwartet=tiefen Senke auftauchte.
„Mama, schau her!“
„Ist gut mein Liebling, ich sehe dich.“
„Mama!“
Igors Stimme hatte zu ihrer schrillen Dissonanz gefunden, die seine Stärke war. Eine Glas]schneider]stimme, die jede Unterhaltung der Erwachsenen unmöglich machte.
„Spiel mal schön.“
„Brauchst dich nicht über ihn aufregen. Er hängt halt am Rockzipfel seiner Mutter.“
Paula neidete ihrer Freundin das private Glück. Und fragte sich, ob ein Kind auch eine Antwort auf ihre unbeantworteten Fragen sein könnte. Sie und Carsten hatten bislang nie die Frage aufgebracht:; die Frage aller Fragen. Ob ihr Ehe Früchte tragen sollte, wie es die Großmütter auszudrücken pflegten. Sie fühlte nichts von der Torschluss!=panik, der die Frauenzeitschriften in schöner Regelmäßigkeit frönten. Ihre Ehe lief in akkuraten Bahnen. Wenn der Zeitpunkt gekommen war, dann sollte es so sein. Aber es wäre unklug gewesen, irgendetwas erzwingen zu wollen. Insgeheim hielt sie die Feuilletonschreiberinnen sogar für Verräterinnen an der Weiblichkeit. Flache Bäuche für eine oberflächliche Leserschaft. Und dennoch: Sie schaffte es nicht, einen Artikel über die neuste Trenddiät zu lesen, ohne sich selbst in ihre Speckfalten zu greifen. Nicht, dass sie über die Maßen an Gewicht zugenommen hätte. Aber die Zeitschriften suggerierten es ihr. Natürlich gab es Kleider in ihrem Schrank, in die sie nicht mehr passte. Aber welche Frau besaß die nicht? Hauptsächlich las sie diese Zeitschriften ja wegen der tausend Rezeptideen, wie man seinen Ehemann glücklich machen konnte. Paula war eine leidenschaftliche Köchin, von Kindesbeinen an. Von der Mutter gelernt. Neugierig über den Topfrand zu linsen, bevor es auf den Tisch getragen wurde. Dabei fiel ihr gerade ein…
„Sag mal, hast du noch das Rezept für den böhmischen Fleischtopf, den es bei dir letztens am Mittag gab?“
„Aber klar doch. Ich schreibe es dir gerne auf.“
*
Sie hatte es gerade noch rechtzeitig geschafft, alle Zutaten zu bekommen und auf den Herd zu schmeißen, bevor ihr Mann nach Hause kam. Als seine Schlüssel im Schloss [klap]=[per]=[ten], war sie gerade dabei, die Kartoffeln zu schälen.
„Was wird das denn?“
„Böhmischer Fleischtopf, hab ich von Svetlana.“
Der allabendliche Begrüßungskuss. Ein automatischer Reflex, über den sie beide nicht viel nachdachten.
„Ich geh erstmal duschen.“
„Mach das.“
Während sie das gedämpfte Brausen der Wasserstrahlen durch die geschlossene Tür hörte, warf sie die geschälten Kartoffeln in den Topf. Briet auf der zweiten Herdplatte die Wurstscheiben kross an, die sie vorher g[e[s[t[ü[c[k[e[l[t hatte. Pimmelsuppe, dachte sie gallig amüsiert. Warum nicht !alles hinterher schmeißen? Die ganze Fleischlichkeit, sich=selbst? Svetlana würde ein paar Kilometer Luftlinie entfernt das Gleiche tun. Ihren Mann bekochen, die Glückliche. Paula fiel auf, wie dreckig der Esstisch war. Seltsam, dass ihr das entgangen war. Dabei war sie doch sonst so eine Genaue. Berechnend. Immer alles vorab kalkuliert & geplant, dass sie auch ja die Kontrolle über die Situation behielt.
Zum Abendessen lief der Fernseher, wie eigentlich zu allem. Mit Schrecken erinnerte sie sich an die Netzstörung vor zwei Jahren. Wie !wenig sie sich doch zu sagen hatten, wenn die Kiste aus war. Was gab es denn auch schon groß zu berichten? Wie sie Staub gewischt hatte? Das Klo geputzt? Alles irrelevante Themen an einer abendlichen Tafel. Viel interessanter waren da die Geschichten, die ihr Mann von seinen Reisen mitbrachte.
Nach den Nachrichten gönnten sie sich einen Spielfilm auf den Privatsendern, danach ging es zu Bett. Manchmal brachte Carsten einen Actionstreifen aus der Videothek mit, dann verzog sie sich ins Internet. Das war nun wirklich nicht ihr Ding. Sie verließ den Rechner lediglich, um den Rufen ihres Mannes aus dem Wohnzimmer Folge zu leisten. Bring mir ein Bier. Kannst du eine Pizza in den Ofen schieben? Ich habe keine Zigaretten mehr, kannst du mal in meiner Jacke gucken?
Manchmal las sie im Bett noch ein Buch. Ihr Mann gehörte zur weniger intellektuell angehauchten Sorte, ihm genügte die Sport-Bild in der Mittagspause unter seinen Kollegen. Am Abend gab es nichts Schöneres für ihn, als in die Kissen zu sinken. Sang- und Klanglos. Für Paula gab es keinen Anlass, das in Frage zu stellen. Ging es ihr doch nicht viel besser. Nach einem harten Tag der Hausarbeit war sie erschöpft bis=zur Besinnungs!losigkeit. Meistens allerdings war sie es, die mitten in der Nacht die Nachttischlampe löschte. Manchmal waren da Gedanken hinter ihren müden Lidern, die sie allerdings bis zum Morgen vergessen hatte. Insgesamt war die Zeitspanne, die ihnen für persönliche Belange blieb, relativ eng gehalten. Manchmal bedauerte sie es. Manchmal war sie von tiefem Dank erfüllt. Aber sie wusste, dass es nicht gut war. Die Müdigkeit erfasste sie bereits beim Abendessen. Wie schwer es doch war, wichtige Themen in die Zeit zwischen Bratwurst und Tagesthemen zu packen. Und wieder war es das Fernsehprogramm, das sie ablenkte. Die zentralen Fragen, dachte sie sich manchmal. Aber was waren die zentralen Fragen?
*
Paulas Leben glich einer riesengroßen Fernbedienung. Die festen Serien, die mal pausierten, dann auf vielfachen Zuschauerwunsch wieder ausgestrahlt wurde. Ihr Mann besaß eine der höchsten Zuschaltquoten im heimischen Sendegebiet. Die Nachmittage ohne=ihn verbrachte sie mit dem Herumzappen] zwischen [den Kanälen; Talkshows und Produktpräsentationen, Hausfrauentausch und Zwegerts Ausblick auf gescheiterte Existenzen. Paula als Zuschauerin. Wie einfach es ihr war, sich zurückzulehnen und das Leben aus einer sicheren Warte aus zu verfolgen. Aktive Teilnahme? Selbstverständlich, denn dem Programm blieb ja nichts=Anderes !übrig, als wachen Auges nach dem Zuschauer zu schielen, wenn es Marktanteile sichern wollte. Kaum hatte die Natur ein wankelmütigeres Lebewesen hervorgebracht als den Tele-Verbraucher, der mit einem einfachen Klicken über Leben & Tod einer Sendung entschied.
Dennoch blieb etwas auf der Strecke... !nämlich das Gefühl, eine größere Selbstbestimmung als das Umschalten zu kennen. Gleichtönigkeit beherrschte ihre Tage und Nächte. Gleichgültigkeit? Ja, auch die. Irgendwann hatte sie verlernt, auf sich selbst zu achten. Ein Gewohnheitstier, welches jeden Klimawandel mit einem kläglichen Tod bezahlt hätte. Immer auf Tauchstation, in einer sicheren Unterseetiefe unterhalb der Wasseroberfläche. Beobachtete sie die bunten Schemen, die über sie hinweg zogen, wie einst Platos Vision von der Welt. Genügsam nährte sie sich von den Krumen, die, voll gesogen mit Wasser, nach unten trieben.
Und fand sich dort wie ein Fisch im Aquarium. Mit der Mehrheitsmasse, die sich auf dieser Ebene herr!schaftlich eingerichtet hatte. Mochten die Wellen dort oben toben, wie sie wollten, gar manches Boot im Rachen des Klabautermanns versenken; hier=unten kümmerte das niemanden. Man mochte sich streiten, welche Welt die reale war. Letzten Endes stellte sich nur die Frage, auf ]welcher[ Seite der Fernbedienung der Daumen saß. Manchmal fragte sich Paula, ob dies nur ihrer Sicht der Dinge entsprach oder ob es allen Menschen so ging. Sie wagte nicht, Carsten nach seiner Ansicht dazu zu fragen. Aus Angst, er könnte auf der anderen Seite der Fernbedienung leben. Trotz der Massen am Tiefseegrund konnte Paula ihre Angst nur mühsam verstecken. Dass er sie dort unten nicht sehen könne; oder gar verachten. Dass sie es nicht schaffte, aus ihrem Alltagstrott auf//zu//-tauchen. So lernte sie sehr früh, ihre Innenwelt vor Carsten zu verbergen. Wer behauptet, Eheleute würden alles miteinander teilen, der lag so=falsch wie ein Mensch nur falsch liegen konnte. Fußspuren am Strand, oder besser gesagt nur eben eine:; und am Ende des Weges die Angst der Ängste, sich umzudrehen & festzustellen, dass man diesen Weg !alleine hinter sich gebracht hatte, und es nichts gab, was man in die schöne=neue=Welt hinüberretten konnte. Lots Frau, zu Salz erstarrt. Nicht umsonst galt die Warnung, nicht zurückzuscheuen (auf sein Leben). Denn nicht jeder war bereit, den S[c[h[o[c[k zu ertragen. Wie alle Ehefrauen spürte sie das Glück der Gemeinsamkeit. Doch nie gab es einen Menschen, der wirklich in ihr Herz geschaut hatte.
Einst hatte es ein kleines Mädchen mit Pferdeschwänzen gegeben, das unschuldig in die Welt geblickt hatte; alle möglichen Wege noch unerschlossen, die das Schicksal ihm bieten mochte. Paula erinnerte sich, wie sie unter den beschützenden Zweigarmen einer Linde gesessen hatte, Apfel kauend, die Kerne in den Boden gespuckt, aus denen neues Leben erblühen würde. Schon damals war ihre Seele verdorben gewesen, von den Zeitschriften und den Zeichentrickfilmen im Vormittagsprogramm. Stand die reale Welt in Diss]-O-[nanz zu ihrer Phantasie. Und wenn einst der Tag gekommen sein mochte, wo Paula vor ihren Schöpfer trat, so musste sie zugeben, dass !das ihr Leben gewesen war. Aus dem Sitz der Zuschauerloge. Nie an einer Demonstration teilgenommen. Nie wirklich aufbegehrt. Wer war Paula Hauser in Wirklichkeit? Eine Frage der Selbstfindung, der sie stets auszuweichen wusste. Denn niemand außer ihr selbst brachte sie je aufs Tablett. Und solange sie sich einer Antwort strikt verweigerte, konnte ihr auch nichts passieren.
Wenn man so wollte, saß sie im gemachten Nest. Hatte einen Mann, den sie liebte, und der ihre Liebe erwiderte. Gesten der Gefühlsbezeugung, die sie in seinen Blicken zu lesen wusste. Denn auch er besaß eine kalkove Gefühlswelt. Ein Mann wie viele. Der in Geschenke & romantische Handlungen floh, bloß um sie nicht auszusprechen, die drei Worte, die schlimmer als jede Beleidigung wiegten: Ich liebe dich. Gefühlskalt gar, wüsste sie es nicht besser; dass er eben ein Mann war. Und Männer gehörten emotional zu den verkrüppeltsten Wesen, gleich nach der Frau. Gleich nach Paula, die die Welt durch die großen Augen einer Fernbedienung sah.
Carsten kam aus dem Bad, schob seinen Körper zwischen die Laken. Sanft wisperte der Stoff unter seinen behaarten Beinen. Er trug eines seiner ältesten T-Shirts, gerade gut genug, um die Garage zu streichen oder neben seiner Frau den Schlaf zu finden. Ausgeleiert und ohne jede Farbe. Der Alptraum einer jeden Clementine. Eine Ehefrau mit Anstand hätte ein Buch aufgeschlagen, und die Kapitel bis zur Erschöpfung durchgearbeitet. Das Licht gelöscht, in dem Moment, wo ihre Lider den Zeilen nicht mehr folgen konnten. Nicht so Paula. In ihrem Kopf manifestierte sich das Bild der universellen Fernbedienung, verselbstständigte sich. Und ehe sie es versah, hatte sie einen Kanal weitergeschaltet. Der kleine Fernseher ihres ehemaligen Jugendzimmers [flac]=[ker]=[te] gegen die Bettenstille, [flac]=[ker]=[te] gegen die herunter=|gezogenen Rollläden, [flac]=[ker]=[te] gegen Mitternacht in einer Stadt, die niemals schlafen wollte. Gerade mal drei U-Bahn-Stationen weiter brannte das Leben. Wurden in den urbanen Diskotheken die letzten Pakte abgewickelt, wer mit wem nach Hause ging. Je später die Stunde, desto brennender das Verlangen. Da wurden auch schon Kompromisse geschlossen. Das Gesetz des Dschungels achtete streng darauf, dass !niemand allein nach Hause gehen musste. Um den nächsten Morgen kümmerte es sich nicht. Wie es war, wenn der gnädige Schleier des Alkoholpegels verflog, und die grausame Wahrheit auf dem Kissen neben dir die hässlichen Augen aufschlug? Wie eigentlich alles hässlich erschien, was die Nacht überdauerte.
Paula interessierte sich nicht für derlei=Dinge. Mit Müh und Not schaffte es sie, ihre Augenlider noch aufrecht zu halten. Sie löschte das Fernsehlicht und legte sich schlafen. Von draußen schien der Vollmond ins Wohnzimmer, erlaubte den einsamen Staubflusen ein Eigenleben. In der Stadt wurden verhängnisvolle Einladungen ausgesprochen, auf einen letzten Kaffee ein Stockwerk weiter oben, von denen jeder wusste, das es nicht um den Kaffee ging:; nur darum, das Gesicht zu !wahren. Für die Frauen: Anständig zu wirken, auch wenn es um die niedersten Bedürfnisse ging. Für die Männer: Den Tanz der Lügen in die Schlussrunde zu bringen. Der Sex machte sie beide gleich, zum Schluss=wie=!Schuss.
Paula schlief durch. Nichts=ahnend von den !Abgründen, die sich in der Stadt auftaten. Das war alles nicht ihre Welt. Doch sie wälzte sich in einem unruhigen Schlaf, als wären die Geheimnisse der Nacht auch die ihren.
*
Paula und Carsten waren seit ihrem fünfzehnten Lebensjahr zusammen. Sie besuchten dieselbe Realschule, wenn auch in verschiedenen Klassen. Die gemeinsamen Momente beschränkten sich auf ein paar Minuten in den Gängen, wo ihre Wege sich kreuzten. Über eine graugrüne Linoleumlandschaft gehetzt blieb es bei verstohlenen Blicken. Paula war damals sehr schüchtern gewesen. Eine Charaktereigenschaft, die sie erst spät in ihrem Leben ablegen sollte. Vielleicht wären sie nie zusammengekommen. Menschen können sich jahrelang über den Weg laufen, ohne dass etwas passiert. Wie wohl ihrer beider Leben verlaufen wäre, hätte keiner von ihnen den ersten Schritt gewagt? Es war schlicht und einfach ein Irrglaube, das Schicksal bringe Menschen zu=einander. Kein Mensch war für einen anderen bestimmt. Genauso gut hätten sie mit anderen Partnern glücklich werden können. Schließlich war es reiner Zufall, der sie |zusammen=brachte|.
Nicht, dass er ihr nicht aufgefallen wäre. Aber bis zu Nicoles Party hatte sich kein Gespräch ergeben. Mal von den üblichen Floskeln abgesehen, die sie im Alltag miteinander austauschten. Aber Servus & Auf=Wiedersehen konnten kaum als !ernsthaftes Gespräch gelten.
*
Paula war einer Schwärmerei erlegen, seit sie Carsten zum ersten Mal in der Schule gesehen hatte. Und wie Rapunzel wartete sie im stillen Kämmerlein, dass der holde Ritter ihre Liebe doch erahnen möchte.
Sie schrieb ihren Ringhefter mit seinem Namen voll, immer & immer wieder aneinandergereiht, gefolgt von kleinen Herzchen und Blümchen. Versuchte sein Gesicht aus ihrem Gedächtnis zu holen, um es mit ein paar schnellen Bleistift/s/t/r/i/c/h/e/n aufs Papier zu bannen. Es half ihr, einen klaren Kopf zu bekommen. Außerdem brachte sie es ihm näher.
„Paula, hast du überhaupt zugehört?“
„Was?“
„Dein Kopf schwebt in den Wolken. Ich bitte in Zukunft um mehr Disziplin. Oder willst du etwa die achte Klasse wiederholen?“
„Nein, Frau Maier.“
„Dann bin ich ja beruhigt.“
Vorne an der Tafel verwandelte ihre Lehrerin einen staubigen Kreidestummel in mathematische Gleichungen. Variablen mit Unbekannten, die ihr nichts sagten. Wann in ihrem späteren Leben würde ihr dieses Wissen etwas bringen? Carsten war die Unbekannte, um die sich alles drehte:; Paula + x = Carsten. Eine Variable, die es zu ermitteln galt. Was musste sie tun, um seine Aufmerksamkeit auf sich zu lenken? Ihn einfach anzusprechen, ihm ihre Liebe zu gestehen, stand ganz hinten auf der Liste. Es schickte sich einfach nicht. Der Junge war es, der den ersten Schritt tun musste. Die Möglichkeiten eines Mädchens beschränkten sich auf den Einsatz weiblicher Reize. Mit den Haaren spielen, Hintern=[wac]=[keln], sexy Posen, sich hübsch machen. Paula fand die Natur grausam. Verlangte man etwa von ihr, dass sie sich zur=Nutte ?machte, bloß, damit ein Junge auf sie ansprang? Paula war unentschlossen. Ließ sie sich auf das alte Spiel der Natur ein, riskierte sie es, billig zu wirken. Oder sogar unbeholfen, da solche Gesten an einer grauen Maus wie ihr !völlig fehl-am-Platze wirken würden. Es fiel ihr so schwer, sich auf den Unterricht zu konzentrieren. All ihre Gedanken kreisten um=ihn, bereits morgens, wenn sie ihr kuscheliges Bett verließ. Trübten ihre Wahrnehmung ein, setzten die ganze Welt unter einen un[durchdringlichen Nebelschleier]. Warum sollte Carsten sich auch für ein Mauerblümchen wie sie interessieren?
*
Nicole Wittmeyer gehörte zu den Mädels der Oberschicht, viel kopiert doch nie erreicht. Außerdem war Nicole zwei Jahre älter als der Rest. Was auch daran lag, dass sie das eine oder andere Schuljahr wiederholt hatte. Paula versuchte gar nicht erst, ihr nach[zu!eifern. Legendär waren schließlich ihre Partys, die in ihrem schmucken Elternhaus in der Münchner Suburbia stattfanden. Wenn die Alten aus dem Haus waren, Tanzten die Mäuse auf dem Tisch. So auch in jener Nacht, in der sie Carsten näher kam.
*
„Was ist denn das für ein Getöse?“
„Klingst wie ein kaputter Auspuff.“
„Der Proletenparkplatz ist aber außerhalb.“
Hämisches Lachen der Grazien auf dem Balkon. Die Spitzen der besseren Gesellschaft waren versammelt. Alle=samt Abkömmlinge von Arbeiterfamilien. Entscheidend war allerdings der gesellschaftliche [Hintergrund. Mit den richtigen Beziehungen konnte aus einem einfachen Kretin die zweite Hand des Chefs in einer bedeutenden Firma werden. Für Paula hingegen war eine spätere Ausbildung ein lästiges Übel. Von Kindesbeinen an hatte man ihr eingebläut, den richtigen Ehemann zu finden. Die Paula von damals konnte allerdings mit diesen von ihren Eltern fest=ge!zurrten Zukunftsplänen nichts anfangen. Vor ihrem inneren Auge entstand das Bild eines Geschenkpakets, geheimnisvoll schillernd in buntem Papier, reichlich mit Schleifen verziert. Goldene Bänder, die so tief einschnürten, dass das Paket schier zu reißen drohte. Oben gekräuselt, als hätte eine Urgewalt sie in F[e[t[z[e[n gerissen, die nun müde im Wind flatterten. Sie wollte dieses Geschenk nicht annehmen. Paula war frei wie der Wind und wollte es auch bleiben.
„Ich geh dann mal runter.“
„Es ist reichlich Bowle da, wenn du magst.“
Eine dichte Rauchwolke hing unter der Wohnzimmerdecke. In mindestens einer Ecke des Raumes konnte sie den süßlichen Geruch von Haschisch ausmachen, den ihre Erinnerung später jedes=!Mal abrufen würde, wenn sie an Party dachte. Nicht, dass sie selbst je an einer Tüte mitgeraucht hätte. Paula war ein anständiges Mädchen. Sie verachtete sie nicht für ihr Tun. Der Whiskeydunst, der von der bernsteinfarbigen Bowle aufstieg, raubte ihr den Atem. Zum Glück standen daneben auch einige Flaschen Cola & Fanta. Paula zog einen der durchsichtigen Becher aus dem ineinander{gesteckten Türmchen und schenkte sich ein. Sie war mit Freunden hierher gekommen. Hauptsächlich Mädels aus ihrer Klasse. Außerhalb der Schule wurden die wenigsten Freundschaften geschlossen. Dabei war München ja Weißgott eine Großstadt. Aber die Schnitt|punkte, an denen die Wege sich kreuzten, waren so kalkulierbar wie die Schachzüge eines Primaten.
„He Paula, magst du mitspielen?“
Toralf, Rosi und Carsten saßen im Schneidersitz um eine leere Weinflasche herum. Gerne nahm Paula die Einladung zum Flaschendrehen an.
„Wer ist dran?“
„Lasst unseren Neuzugang mal machen.“
Und so setzte Paula sich zu ihnen, nahm den langen Flaschenhals fast zärtlich in die Hand, was ihr einige bewundernde Blicke der Jungs einbrachte, auch wenn sie deren Intention nicht ganz verstand.
„Okay, Rosi. Wahrheit oder Pflicht.“
„Wahrheit.“
„Na schön, du hast es so gewollt. Welche Mädchen der Volleyballmannschaft stopfen ihre BHs aus?“
Haltloses Gekicher. Schwer zu sagen, ob sie damit nur Angst & Unsicherheit überdecken wollten. Die eigene Brustgröße, die sie stets anzweifelten, egal wie=oft sie sich vor dem Spiegel drehten und wendeten, am T-Shirt zupften & rupften, ob da nicht !mehr wuchs. Die duldsamen Mahnungen der Teeniezeitschriften, man müsste nur abwarten. Schon am Morgen die Ungeduld, sich im silbernen Rund zu betrachten, ob die Nacht nicht einen weiteren Zentimeter Umfang an ihre heranwachsenden Körper gezaubert hatte. Hackordnung auf dem Hühnerhof: Dann lieber über die Geschlechtsgenossinnen lästern, bevor es an die=!eigene Haut ging.
„Hm. Lass mich mal überlegen. Birgit, Jutta, Helen und Silke.“
„Silke auch? Ich fasse es ja nicht.“
„Die am meisten. Sie polstert drei-/-/-/lagig aus.“
„Okay, dann dreh ich mal. Das Schicksalsrad dreht sich… wer wird sein fröhlicher Gewinner sein?“
Ungläubig starrte Carsten auf den Flaschenhals, der in seine Richtung wies.
„Och Menno, ich blieb bisher verschont!“
„Keine Schonfrist für Hosenscheißer. Pflicht oder Wahrheit?“
Rosi kicherte.
„Pflicht.“
„Du musst Paula küssen.“
„Das mach ich doch mit links.“
Er stand auf, um ihr einen sanften Kuss auf die Wange zu geben. Unschuldig wie ein Austausch von Zärtlichkeiten unter Geschwistern, doch für Paula genug, um zu erröten.
„Nicht so. Richtig auf den Mund, mit Zunge!“
Nun war es an Carsten, verlegen zu Boden zu gucken. Toralf wusste, dass er kein großer Weiberheld war, und ihn diese Aktion in arge Bedrängnis bringen würde. Für Paula hingegen blühten tausend Orchideen auf, eine heiße Woge spülte über ihr Rückenmark hin//-weg und explo!dierte in ihrem Bauch. Scheu wand sie sich aus seiner Um{klammerung}, und weg war sie, hinaus auf die Terrasse. Carsten folgte ihr.
„Tut mir echt Leid. Alles in Ordnung mit dir?“
„Das ist es nicht.“
„Was dann?“
„Ich wollte diesen Kuss. Mehr als alles=Andere. Aber nicht !so.“
„Wie denn dann?“
„Ich weiß nicht. Intimer. Ohne eine Horde schaulustiger Affen.“
Sie drehte ihm den [Rücken zu, und blickte in die warme Sommernacht hinaus, in das Lichtermeer der großen Stadt. Sie musste es ihm sagen, auch wenn ihre Atmung dabei verkrampfte wie ein Fisch auf dem Trockenen.
„Ich liebe dich.“
Schwer fielen die Worte in den Raum. Noch viel schwerer wiegte die Stille, die darauf folgte. Als er seine Arme um sie schmiegte, entwich ihr ein Seufzer der Erleichterung.
„Und ich dich auch. Ich bin froh, dass du es zuerst ausgesprochen hast.“
Sanft küsste er sie in den Nacken.
*
Im Laufe der Zeit hatte Carsten einige wenige Freundschaften geschlossen, doch seine Pausen verbrachte er meist in einer kleinen Clique, mit kaum wechselnden Gesichtern. Wie sehr sie sich nach diesem Augenblick gesehnt hatte. Wie hätte Paula denn !ahnen können, dass sie diejenige sein würde, die sie in den sicheren Hafen einer festen Beziehung führen würde? Schon damals war sie im Besitz der großen Fernbedienung, die sich mehr & mehr ihres Lebens bemächtigte, an den Fäden der Marionette zog, die sie nun geworden war. Immer noch glaubte sie, damit alles unter Kontrolle zu haben. Ein Trugschluss, wenn auch nicht ihr erster. In jenen Jahren beschränkte sich ihr Tele-Schatz auf Reich und Schön, Gute Zeiten – Schlechte Zeiten, Nur die Liebe zählt und andere Lehrstücke der Gefühlsakrobatik. Feinfühlige Kraken, die Herz und Hirn umgarnten wie eine Boa Constrictor ihr klägliches Opfer. Wie die Adern eines riesigen Lebewesens verwuchsen sie mit ihr. Wurden zu einem organischen Bestandteil ihrer Persönlichkeit. Das war die !Lektion, die Paula über Gefühle gelernt hatte. Ab{gekupfert von Tele-Helden, deren kleine Zwiste zu opulenten Dramen aufgeblasen wurden, und Liebebekundungen in das goldene Licht Shakespeare’ scher Sonette tauchten. Und so wie pubertierende Jungen, die zu früh mit Pornografie konfrontiert wurden, ein falsches Sexualbild entwickelten, erging es Paulas Vorstellung von der Liebe. Denn die Liebe, das war ja gerade ein Zerrbild. Gefühle so echt wie rosafarbenes Bonbonpapier:; wickelte man es aus, kam der wahre Kern zum Vorsprung, chemisch wie ein WC-Stein.
Wie in den meisten Familien so beschränkte sich die Erziehung im Hause Hauser auf die Vermittlung eher praktischer Werte und Rollenverständnisses. Um den Gefühlshaushalt sorgte sich niemand, wohl auch aus Angst. Denn bedeutete eine aufkeimende Teenagertochter nicht, sich mit dem eigenen Älterwerden, und ja; auch mit dem eigenen Tod auseinanderzusetzen? So geriet Paula in die Konkurrenz][spiele ihrer Eltern, wurde über den Tisch geschachert wie schlechte Hehlerware, der schwarze Peter, den kein Mensch freiwillig ziehen wollte. Da keine sichtbaren Schäden an ihr festzustellen waren, überließ man ihre emotionale Reifung ihr=selbst. Schließlich glänzte Paula stets durch vorbildliches Verhalten. Kein Tag, an dem die Eltern mit ihr Kummer gehabt hätten. Nach [Außen hin erschien ihre=Seele so makellos und unbefleckt wie die einer Heiligen. Ganz anders als die anderen Kinder auf der Schule, die ihren Eltern nur Probleme bereiteten. Nicht so Paula.
Nach der Party begannen die zaghaften Schritte, ein Erstes Kennenlernen. An den Nachmittagen machten sie zusammen ihre
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Texte: Thomas Reich
Cover: https://www.flickr.com/photos/fabrisalvetti/400621503/ + https://pxhere.com/de/photo/609419 mit Änderungen
Tag der Veröffentlichung: 28.05.2014
ISBN: 978-3-7368-1574-2
Alle Rechte vorbehalten