Cover

Konstantin

Konstantin

 

 

 

 

Thomas Reich

Text 2011 © von Thomas Reich

 

Coverphoto © www.flickr.com/photos/halloweenstock/8117718819

 

Impressum: Thomas Reich

Bachenstr. 14

78054 Villingen-Schwenningen

Über das Buch:

 

Was es heißt, die Ewigkeit zu besitzen. Die Ewigkeit, und sie ist leer.

Der Vampir Konstantin ist müde. Er will, dass die Menschen so leiden, wie er. Mit dem Blut seiner Opfer schreibt er Botschaften, um das Interesse von Kommissar Braugstetter zu wecken. Gelingt es diesem, das falsche Spiel zu durchschauen? Oder macht er sich unwissentlich zum Handlanger der Apokalypse?

Die Worte an der Wand

„Was für eine Sauerei.“

Kommissar Braugstetter klappte seinen Regenschirm zusammen. Hier unter der Brücke war er im Trockenen. Ein nutzloses Requisit, das er nun getrost zu den Akten legen konnte. Viel mehr war von dem Opfer auch nicht übrig geblieben. Seit fünfzehn Jahren war er bei der Hamburger Polizei tätig, aber so etwas hatte er noch nie gesehen. Ein weiteres graues Haar in seinem melierten Schopf. Innerlich hatte der Polizeidienst ihn abgestumpft. Äußerlich allerdings sah man ihm die Beschwerlichkeiten an. All die Leichen, die ihm unter die Augen gekommen waren. Die Verkehrsopfer. Grün- und blau geschlagene Frauen, deren Ehemänner lachend bei einem Bier am Küchentisch saßen, während die Polizei ihnen Fragen stellte. Einer, der schon alles gesehen hatte. Draußen regnete es in Strömen. Pfützen sammelten sich auf dem roten Sandweg, der die Uferpromenade säumte. Wie der Tuschkasten eines Malers, dem die Farben davonliefen.

„Wir sind fertig.“

„Dann schnappt euch ein paar Schaufeln und sammelt die Reste von dem armen Kerl ein.“

Er hatte mit Regener gesprochen. Regener war als Erstes am Tatort gewesen. Eine verstörte Joggerin hatte die Polizei gerufen. Kommissar Braugstetter schätzte an Regener dessen Gründlichkeit. Humor besaß er nicht. Nun sah er ihn, wie er am Rande des Tatorts stand und Fotos machte. Nur sein massiver Rücken war zu sehen. Regener gehörte zu jenen Hünen, die ihre Größe auch wirklich bewohnten. Sein selbstsicheres Auftreten hatte ihm eine solide Karriere bei der Hamburger Polizei geebnet, der Mangel an Gefühlsregungen aber einen weiteren Aufstieg als seine jetzige Position verhindert. Mit Toten konnte er besser als mit Menschen.

Die phänomenale Losung des Tages lautete, dass es keine Fingerabdrücke gab. Oder vielmehr das, was dem üblicherweise entsprach. Namenlos. Linienlos. Ohne Rückschlüsse auf das Fahndungsregister. Glatt wie eine Python, die sich aus ihrer Haut geschält hatte.

Er wollte dieses Schwein schnappen. Noch vor einer Stunde hatte er den Pizzadienst auf die Wache gerufen, nun würde er mit Sicherheit keinen Bissen runterkriegen. Die Opfer einer Polizistenseele: Achtlos weggeworfene Pizzakartons, mitsamt ihrem labbrigen Inhalt. Kommissar Braugstetter teilte nicht die Ansicht des Senats, der für verirrte Seelen wie diesen Alsterpenner kein Mitleid kannte. Ein jeder war seines Glückes Schmied. Es gab Obdachlosenasyle, wo man sich des Nachts aufwärmen konnte. Eine Kraftbrühe genießen und eine heiße Dusche. Warum war dieser Idiot nicht dort hingegangen?

„Streunende Hunde könnten das getan haben.“

„Vergleicht die Bissbreite. Das stammt von einem menschlichen Kiefer, hundert Pro.“

Streifenpolizist Sandocz wurde grün im Gesicht. Dies war seine erste Leiche. Letzten Monat war er Vater geworden. Eine Polizistenseele war eine schweigsame Seele, die viel in sich hineinfraß. Das würde er noch lernen. Friss oder stirb, so einfach war es.

„Chef, meinen Sie wirklich?“

Der Obdachlose, den sie unter einem Brückenpfeiler aufgelesen hatten, wies dutzende solcher Bissspuren auf. Wer auch immer das getan hatte, hatte ihm brockenweise das Fleisch vom Körper gerissen. Den Boden mit seinem Blut getränkt, als hätte ein grausames Kind einen Silvesterböller mit einer Dose Tomatenpüree verbunden. Das Gesicht nicht mehr als eine blutige Masse, die Kommissar Braugstetter unangenehm an seine Pizza erinnerte. Sein Magen machte eine erneute Rolle, stimmte zur Übelkeits-Polka des Jahres an.

„Macht einen Abgleich mit den zahnmedizinischen Gutachten der praktizierenden Ärzte. Vielleicht finden wir das Schwein.“


*


Auf der Wache schrieb er seinen üblichen Bericht. Beamtenjargon. Aus grausam zugerichteten Mitbürgern wurden identifizierbare Leichen. Manchmal hasste er seinen Job. Dienstschluss bedeutete die Rückkehr in den Alltag. Sylvia würde sicher schon schlafen. Allein schritt er durch die graue Wohnung, die nun von den Schatten beherrscht wurde. Vorbei am Kinderzimmer, wo Thorsten bereits schlief. Wobei die Bezeichnung Kinderzimmer von der Zeit eingeholt wurde. Der Junge überragte ihn um einen halben Kopf, und war noch nicht ausgewachsen. Gerne hätte er sich in die Erziehung seines Sohns mehr eingebracht. Doch der Schichtbetrieb machte es ihm schier unmöglich. Zwischen Tür und Angel erschien er als Vaterfigur, ein jedes Mal erstaunt über die Entwicklung, die der Lütte durchmachte. Leider nicht immer die Beste. In letzter Zeit schien er ihm zunehmend zu entgleiten.

Normalerweise erzählte seine Frau ihm, was der Tag so gebracht hatte. Die Beschwernis, die Hausarbeit, die unzufriedenen Kunden an der Kasse in ihrem Teilzeitjob. In den wachen Momenten zwischen der Nachtschicht und dem Morgengrauen. Wenn er sie aus ihrem tiefen Schlaf riss. Aber war das ein Familienleben? Oder das, was er sich darunter vorgestellt hatte? In Fetzen gerissen wie einen jungen Hund?

Es würde lange dauern, bis er Schlaf fand. Dieses Mal schlief seine Frau vor ihm ein. Wortlos schmiegte er sich an ihre Seite.


*


An anderer Stelle in der Stadt ging ein anderes Wesen zu Bett. Die Nacht war zu Ende, und damit sein Tag. Einer von Vielen. Die Ewigkeit. Nur das Quartier wechselte. Seit einiger Zeit war es ein Abbruchhaus in Altona. Eingeschlagene Fenster. Bröcklige Ziegelmauern, die Seele aus dem Leib geschlagen. Rotbrauner Staub zu seinen Füßen, der an den Schuhsohlen nicht zu haften vermochte. Ihm war es egal. Er war immun gegen alles Vergängliche. An den Wänden Graffiti unbekannter Sprayer, zumeist Jugendliche. Einmal hatte er Einen von ihnen geschnappt, und ihm die Innereien nach Außen gekehrt. Er erinnerte sich, wie köstlich sein Blut geschmeckt hatte. Die erste Rebe, die erste Ernte. Ein Winzer hätte ihn verstanden. Junges Blut besaß einen spritzigen Eigengeschmack, einzigartig in der Welt. Und doch eine Vergeudung. Er war gestorben, weil Konstantin Hunger hatte; weil er sein Heim bedrohte. Wenn er in seiner Kellergruft aufwachte und an die Oberfläche ging, räumte er ihre Hinterlassenschaften weg. Leere Bierflaschen und gebrauchte Kondome. Die Jugend des Lebens feierte ihre prunkvollen Feste... während der Herbst des Lebens dem Mondlicht seinen Tribut zollte.

Der Wind heulte durch die hohlen Gänge, verwirbelte den Staub von Jahrzehnten. Konstantin spürte weder Hitze noch Kälte. Ratten krochen träge über den Schutt. Auch dieses Haus war dem Tode geweiht. Er würde es verlassen, wenn der letzte Balken nicht mehr trug. Wesen wie er brauchten weder Strom noch Licht. Die Nacht barg ihre klaren Umrisse.


*


Der Graufilter schob sich in seine Wahrnehmung. Ein harmloser Abend mit Freunden begann aus dem Ruder zu laufen. Thorsten Braugstetter hatte sich an die Spitze der Truppe gestellt, als Sturmführer. Er war ihre Eintrittskarte, weil die Aufmerksamkeit der Türsteher auf ihn gelenkt wurde. Mit seinen kurzen dunkelblonden Stoppeln und dem verlotterten Fünf-Tage-Bart ging er leicht als Achtzehnjähriger durch. Den Rest besorgte sein selbstsicheres Auftreten. Nicht immer war das Leben nach seinen Vorstellungen gelaufen. Thorsten war durch die Feuertaufe gegangen, und wie rohen Lehm hatte sie ihn ausgehärtet. Nicht mehr lange. Dann war er nicht mehr auf die Gnade der Gesellschaft angewiesen. Dann würde ihm die Volljährigkeit alle Türen öffnen. Bis dahin musste er sich durchmogeln.

Das Dreckschwein hatte ihn angerempelt. Sollte er eine solche Respektlosigkeit wirklich ungesühnt lassen? Blaufilter, das Licht über der Bar. Seine Faust, die nicht mehr zu ihm gehören wollte. Als sie nach vorne sauste, knirschte es wie Schnecken unter einem Springerstiefel. Hände packten ihn an den Schultern, zogen ihn nach hinten. Eine Faust landete in seinem Magen, förderte den ganzen Inhalt des Abends in einem weiten Schwall hervor. Bier und Longdrinks, schlecht abgemixt und kaum verdaut. Grünfilter, dem Gegner mitten ins Gesicht. Hustend, spuckend & fluchend. Der Druck in seinen Schultern ließ nach, er fiel nach hinten auf dem Boden. Er spürte, wie die Kapuze seines Sweaters einriss. Rappelte sich auf. Wo waren seine Freunde, wenn er sie brauchte? Feige verpisst, die ganze Bande. Von draußen schon die Polizeisirenen, die sein gerissenes Trommelfell malträtierten. Er hatte wohl auch gut was abbekommen. Die Sirenen. Was sein Vater wohl denken würde. Rosafilter, das Ballett der Fleischeslust. Sie hatten nicht nach seinem Ausweis gefragt, als er den Türsteher passierte. Die Titten tanzten weiter, auch wenn er jetzt am Boden lag.


*


Die Fotos vom Tatort lagen auf seinem Tisch. Was ihm entgangen war, und das Tageslicht enthüllte.


du hast den namen dass du lebst und du bist tot


Die Worte waren mit dem Blut des Opfers an die Brückenpfeiler geschrieben worden. Heute Morgen hatte ihm die Spurensicherung die Bilder gemailt. Und damit seinen Tag versaut. Bis dahin hatte er sich in der Sicherheit gewiegt, es mit einem sinnlosen Mord aus Hass zu tun zu haben. Die Stadt war voll von Verrückten, die Obdachlosen nach dem Leben trachteten. Umso sinnloser die Kriminalarbeit. Entweder stießen sie auf einen einfach gestrickten Spinner aus dem Prekariat, oder der Fall blieb ungelöst. Wahrscheinlich ein paar Jugendliche, die ihren Hass auf die Gesellschaft an einem wehrlosen Opfer abreagierten.

Kommissar Braugstetter ahnte, dass die wirkliche Arbeit erst begonnen hatte. Mörder die Botschaften hinterließen, beließen es selten bei einem Mal.


*


„Nun komm, das willst du dir doch nicht wirklich antun. Zwei Stunden sind reine AG, also freiwillig. Der Rest besteht aus ein paar sinnlosen Stunden in Englisch. Mach dich frei, Alter.“

„Was schlägst du vor?“

„Lass uns chillen, Mann.“

„Klingt cool.“

„Wir könnten bei Björn einen durchziehen und dann ins Kino.“

Thorsten Braugstetter willigte gerne ein. Schule war nur was für Luschen. Er bröselte bereits die Mische. Pfadfinder waren allzeit bereit. Björns Bude war ihm zum zweiten Wohnzimmer geworden. Wo er Stunden damit verbringen konnte, alte Rem & Stimpy Folgen zu sehen, und in den Tiefen seiner Wasserpfeife zu versinken. Oder einfach nur in Björns schier endloser Comicsammlung zu stöbern. Meistens war die Luft zum Schneiden dick, da Björn selten lüftete. Der Mief unzähliger Bongladungen war in die Raufasertapeten gezogen, genauso wie Björn Schweiß. Der mit Krümeln durchzogene Teppichboden erinnerte an zahllose Schlachten gegen Pizzaschachteln, die er allesamt verloren hatte. Björns Mutter hatte sich geweigert, diesen Saustall weiterhin sauberzumachen. Mit der Zeit waren daraus dicke Staub- und Dreckschichten gewachsen, die das Muster des blauen Teppichs kaum mehr erkennen ließen. Wenn man die Jungs fragte, erntete man nur Achselzucken. Thorsten, der sich mit dem Dreck abgefunden hatte, saß meistens auf dem kleinen Sofa oder auf der Bettkante. Björns Bürostuhl war heilig, auf dem machte er sich breit wie ein König auf seinem Thron. Björns Hofstatt war der übertaktete Linuxrechner, auf dem immer ein Musikstück im Hintergrund lief. Wenn man den neusten Porno aus dem Netz wollte, musste man nur Björn fragen. Seine Saugstube lief Tag und Nacht durch.

„Gib mal die Zeitung her, du Spast.“

„Was läuft denn überhaupt?“

„Ist das denn so wichtig?“

„Hört mal Leute, ihr mögt euch vielleicht abschießen, dass ihr nur noch brabbelnd im Dunkeln hockt, aber ich möchte noch was vom Film mitbekommen.“

„Jackass 3D, Groupies zum Frühstück, The social Network, Gainsbourg…”

„Ich wäre für Jackasss, was denkt ihr?“

„3D kommt auf Dope hammermäßig.“

„Mir klingt das zu stressig.“

„Weil du nichts verträgst. Wenn du die Augen schließt, verschwinden alle bösen Gedanken.“

„Was ist das denn für eine bescheuerte Lebensweisheit?“

„Meine Großmutter hat mir das immer vor dem Schlafengehen gesagt. Hilft angeblich gegen böse Geister und Dämonen.“

„Kinderkacke.“

„Wenn du das sagst.“

Tobi war verstimmt. Er war das ewige Nesthäkchen der Gruppe. Ihm wuchsen ja nicht einmal Barthaare. Oft wurde er auf zwölf geschätzt, dabei war er schon vierzehn Jahre alt. Strafmündig vor dem Gesetz, wie er bitter feststellte. Seine mangelnde körperliche Entwicklung versuchte er durch übergroße Klamotten zu kaschieren, was ihm die Aura eines Schwimmers verlieh, der nicht an die Oberfläche gelang. Wenn er nicht aufpasste, würde er in sich selbst ertrinken. Seine schwarzen Haare hingen ihm wie die Zotteln eines Bernhardiners ins Gesicht. Letzte Woche hatte er sich eine blaue Strähne gefärbt, sehr zum Missfallen seiner konservativen Eltern.

Sollten sie doch spotten. Ihr Gelächter würde nicht die ledernen Schwingen vertreiben, die vor seinem Fenster flatterten. Die kleine Kralle, die den Finger ausstreckte, und auf ihn zeigte. Ihn markierte wie ein Waldarbeiter einen Baum mit Kreidezeichen versieht, den er zu fällen gedenkt.


*


Malte hatte erhebliche Probleme damit, seine 3D-Brille aufzusetzen. Seine störrischen Dreadlocks rutschten ihm dazwischen wie wild gewordene Raupen. Schließlich riss ein Bügel ab und völlig entnervt schickte er Tobi ins Foyer, ihm eine neue zu holen. Im letzten halben Jahr war er wie Unkraut in die Höhe geschossen, und hatte sich noch nicht an seine neue Größe gewöhnt. Bereits unter normalen Umständen neigte er zur Tolpatschigkeit. Unter Dope wurde seine Koordination zum Glücksspiel.

Thorsten hatte einen ekelhaft trockenen Hals. Daran konnte auch die Cola nichts ändern. Ihr hoher Zuckergehalt verklebte seinen Gaumen noch mehr. Allerdings war sie auch das einzig probate Mittel, um den kratzigen Weed-Geschmack aus dem Hals zu kriegen. Die neue Sorte ballerte wie Drecksau, war aber eindeutig zu lange fermentiert. Wer weiß, wie viele Schimmelsporen sie mit verfeuert hatten. Björns neue Adresse war ein Flop. Nächstes Mal würden sie wieder bei Steven kaufen, wie sonst auch. Steven war ein Exil-Kubaner mit der schwärzesten Haut, die Thorsten je gesehen hatte. Ansonsten war er relativ unauffällig. Anders als die teils zwielichtigen Drogendealer, mit denen sie sonst zu tun hatten. Die Haare stets so kurz geschoren, dass die Kopfhaut durchschimmerte. Dazu ein Faible für weiße Hemden und unauffällige Jeans.

„Mann ich bin hier voll den Hunger am Schieben. Lass uns die nächste Dönerbude aufmischen.“

„Geht ihr schon mal vor, ich muss nach Hause.“

„Was, so früh?“

„He, ich hab grad voll Stress mit meinen Alten. Die haben mir schon gedroht, das Internet zu kappen.“

„Böse Sache, Mann.“

„Eben. Nix für ungut, aber ich mach dann mal die Biege.“


*


Ihre Wege trennten sich an der Sternschanze. Tobi nahm die Straßenbahn nach Hause. Flirrende Lichter sausten an den Fensterscheiben vorbei. Für ihn war es wie ein großes Kaleidoskop. Mann, war er breit. Das Rattern der einzelnen Waggons machte ihn dösig. Aus dem Krach formten sich Worte. Stimmen, die seinen Namen riefen.

„Wenn man die Augen schließt, gehen sie wieder weg.“

„Was ist denn mit dem Spinner los?“

Er begann aufzufallen. Gar nicht gut. Zusammenreißen. Er musste sich zusammenreißen. In der Straßenbahn war er sicher. Besser als jedes Taxi. Besser als Freunde, die einen unterhakten, wenn der Boden unter den Füßen in Aufruhr geriet. Er durfte nur die Durchsagen nicht verpassen, wenn er an der richtigen Station aussteigen wollte.

Als er die Fratze sah, die ihn mit unverhohlener Gier von der anderen Seite der Scheibe anstarrte, schrie er auf. Das fahle Gesicht war zu einem Raubtiermaul verzerrt, das ihn an den Rachen des weißen Hais denken ließ. Soviel Zähne sollten in keinem Gesicht Platz haben.

„Jungchen, alles okay bei dir?“

Ein stoppelbärtiger Russe prostete ihm mit seiner halbleeren Wodkaflasche zu. Tobi konnte nur hilflos lächeln. Die Furcht besänftigte es nicht. Als die Bahn hielt, stürzte er regelrecht auf die Straße, kaum dass die pneumatischen Druckbehälter sich öffneten. Am liebsten wäre er gerannt, aber dazu war er nicht mehr in der Lage. Das verdammte Dope hatte seine Sinne vernebelt. Er hatte ja schon einige Horror-Flashs durchgemacht, aber dies war der schlimmste seit Monaten. Das muss an der neuen Sorte liegen. Vollkommen unchillig. Mehr so halluzinogen. Er blieb stehen und zählte bis zehn. Atmete ruhig durch, bis sein Herzschlag sich wieder verlangsamte. Es war ja nicht weit. Fünf Minuten Fußweg, und er konnte endlich ins Bett fallen und die Decke über dem Kopf zuziehen. Um die Welt da draußen auszuschließen. Wie einen Leichensack.

Möwen zogen kreischend über seinen Kopf hinweg. So weit weg vom Hafen? Dachte er noch, als ihm das erste Rinnsal Blut in die Stirn lief. Scheiße, das waren keine Möwen! Flattern, ganz in seiner Nähe. Kein Schwarm, sondern ein einzelnes Tier. Glaubte er jedenfalls. Seinem bekifften Gehör vertraute er nicht voll und ganz. Außerdem hörte es sich größer an als noch vor wenigen Augenblicken. Er begann zu rennen. Die einstmals klar umrissenen Konturen verwandelten sich in Kondensstreifen aus Neon. Alles verwischte. In einer Welt ohne klare Konturen gab es nichts, woran man sich festhalten konnte. Schreie rangen aus seiner Kehle, die Atemluft brannte wie ein glühendes Messer. Niemand, der ihn hörte. Niemand, der dazwischen ging. Tobi rüttelte an verschlossenen Türen, nun zunehmend fahriger. Ein Schwall Magensäure brachte ihn zum Husten und vergällte seine Kehle. Dröhnen in den Ohren, wie schwere Maschinen unter Wasser. Der letzte Damm brach, und damit Tobis Selbstbeherrschung. Der Regen verdichtete sich zu einer Gestalt, die ihn in die Tiefe reißen würde. Er roch vermoderte Baumwolle und Algen. Die Ausdünstungen einer Wasserleiche, die die Flut an den Strand spülte. Seltsames Treibgut, die Haut weiß und aufgequollen.

Wie ein Glockenschlegel prallte etwas gegen ihn und brachte ihn rüde zu Fall. Eine Mülltonne kippte um, der Geruch von Fäulnis erfüllte die Straße. Eine Gestalt mit dunklem Mantel kam auf ihn zu, den Hut tief ins Gesicht gezogen.

„Was bist du?“

„Deine Gutenachtgeschichte.“

Das Ding vor seinem Fenster löste sein Versprechen ein.


*


Sylvia saß auf der cremefarbenen Coach im Wohnzimmer, ein halbvolles Rotweinglas in der Hand. Den Supermarktgeruch hatte sie sich aus den mausbraunen Haaren gewaschen, nun trug sie ihre Feierabenduniform: Ein ausgeleiertes T-Shirt, das auch mal bessere Zeiten gesehen hatte. Als sie jung war, musste sie eine wahre Augenweide gewesen sein. Die Jahre der Ehe hatten sie gleichgültig gemacht. Gut, sie hatte sich ein wenig gehen lassen, nicht mehr als die anderen Frauen in der Nachbarschaft. Ein paar Kilos zuviel, aber sie war nicht aufgegangen wie ein Hefekloß. Wenn sie wollte, konnte sie immer noch etwas aus sich machen. Öfters zu Lippenstift greifen. Parfüm auftragen. Aschenputtel konnte sich in die aufregende Prinzessin verwandeln, die es einst gewesen war.

Im Fernseher lief eine Reportage über die Serengeti ohne Ton. Sylvia hatte auf stumm gestellt; ihre Gedanken waren woanders. Draußen vor dem Fenstersims hatte die kalte Hamburger Nacht ihren Mann verschluckt wie Jonas, der einst im Magen des Wals endete. Wann würde sie ihn wieder ausspucken, hier, vor ihrer gemeinsamen Tür? Wer in sich selbst nicht zuhause ist, ist nirgends zuhause. Ein Sinnspruch auf dem Abrisskalender in der Küche, ein Werbegeschenk der Apotheke in der Rieslingstrasse. Sylvia fühlte sich einsam, wie so oft in den Abendstunden.

Thorsten war auf seinem Zimmer. Eine der wenigen Nächte, die er zuhause verbrachte. Sollte sie ihn dafür loben oder nicht? Oder würde er es umso mehr als Selbstverständlichkeit auffassen, ihnen weiter zu entgleiten? Nein, der Weg musste in eine andere Richtung gehen. Das Telefon klingelte, bestimmt ihr Mann. Im Kühlschrank stand der Rest des Hackbratens unter der sicheren Haube einer Cellophanhülle. Den konnte er sich aufwärmen, zusammen mit den Erbsen und der braunen Soße. In den Jahren ihrer Ehe war er zu einem Experten an der Mikrowelle geworden.

„Ja?“

Rauschen und Knacken. Polarlichter am Himmel. Und das Gefühl, beobachtet zu werden.

„Blödsinn.“

Die Unruhe war nicht gewichen, das Weinglas nun leer bis auf den Grund. Trotzig beschloss Sylvia, noch einen Schluck nachzuschenken. Danach verschwand die Flasche wieder in der Küche. Sie begann den Wein zu spüren.


*


Auf einem steinernen Brückengeländer saß ein großes Raubtier und blickte ins Wasser. Der Mond spiegelte sich auf der dunklen Oberfläche, und auch die Brücke. Nicht so das Raubtier, was auf ihr saß. Nicht einmal einen Schatten warf er. Angestrengt zog er die feinen Linien zusammen, die seine Augenbrauen ausmachten. Für Außenstehende wirkte es, als hinge er einem Gedanken nach, doch das stimmte nicht. In Wahrheit sammelte er seine verborgenen Kräfte. Der Brunnen in ihm war mit den Jahren tiefer geworden, ihr Schatz schier unendlich. Unendlich wie die Ewigkeit. Wenn er hinabstieg, so konnte er das Echo seiner Schritte an den Wänden hören, dumpf und feucht.

Flackern. Auf der Wasseroberfläche erschien ein Spiegelbild. Wenn er wollte, konnte er menschlich wirken. Wenn es nicht so schrecklich ermüdend wäre. Er leckte seine Hände und fuhr sich damit über die Wangen. Steckte die Finger wieder in den Mund, um das frische Blut von ihnen abzulenken. Strich sich wieder durchs Gesicht. Niedlich wie ein Kätzchen, das sich wäscht. Grinsend. Lächelnd. Zufrieden mit sich und der Welt. Den ganzen Abend war er den Burschen gefolgt. Besonders der Kleine war es gewesen, dessen Blut so verlockend gerochen hatte. Sie hatten ihn nicht bemerkt, wie er von Dachfirst zu Dachfirst gesprungen war. Wie er vor dem Kino ausgeharrt hatte, und die Nachtschwärmer ignorierte, die die Hamburger Straßen bevölkerten. Wenn ihm einer mit einem blöden Spruch daherkam, bleckte er die Zähne, und der Provokateur verstummte ganz schnell. Wenn Konstantin wollte, konnte er seine Eckzähne binnen Sekundenbruchteilen auf ihre doppelte Länge ausfahren.

Gewartet hatte er, wie ein Savannenlöwe geduldig die Gazelle am Wasserloch belauert. Konstantin war ein guter Jäger. Einer, der auf Abwechslung stand. Sich einfach die Beute zu krallen, besaß für ihn keinen Reiz. Das hatte er zu Beginn seines neuen Lebens gemacht. Wo nichts zählte als der Hunger, der ihn zu den Hütten der Menschen trieb. Die Ersten hatte er in blinder Gier zerfetzt, ganze Familien ausgelöscht. Oft musste er vor aufgebrachten Dorfgemeinschaften fliehen. Mit den Jahren hatte er seinen Geschmack verfeinert. War diskreter geworden. Raffinierter. Suchte sich seine Opfer bewusst aus und stellte ihnen nach, bis eine ruhige Stelle in Sicht war.

Als sie endlich das Kino verließen, eilte Konstantin in einen Hinterhof, von dem aus er ungesehen in den Nachthimmel schießen konnte. Ihrer Route folgen. Er hatte dem kleinen Bengel ein Versprechen gegeben, was er einzulösen gedachte. Wie köstlich das Fleisch doch schmeckte, wenn seine Opfer von ihm wussten. Wenn er sie in ihrer eigenen Angst gar kochte.


*


In Thorstens Abwesenheit wurde das Urteil gefällt. Er war der Verhandlung ferngeblieben, hatte es vorgezogen, den Tag mit seinen Freunden durchzurauchen und alte Folgen von Two and a half Men zu sehen. Dreißig Sozialstunden in einem Seniorenstift. Er kotzte schon ab, als er die Nachricht erhielt.

„Sei froh, dass es nicht mehr ist. Ich habe beim Richter ein gutes Wort für dich eingelegt.“

„Drauf geschissen.“

„Thorsten…!“

„Denkst du, ich hab das nötig? Das der alte Herr sich überall einmischt? Du bist kein Sozialarbeiter.“

„Nein, aber dein Vater.“

„Die ganzen Jahre warst du nicht für mich da. Von Nachtschicht zu Nachtschicht. Hast du die Erziehung mir selbst überlassen. Und jetzt erwartest du, dass ich dir für eine einzige noble Geste vergebe?“

Ohne ihm auch nur einen Seitenblick zuzuwerfen, ging er an seinem Vater vorbei zur Tür heraus. So war es sein Vater, der zur Salzsäule erstarrte, die nicht geweinten Tränen verkrustet wie einen Panzer. Der Herr Kommissar gestand sich mühsam ein, dass er diesen Fall vielleicht nicht lösen könnte.


*


Was es heißt, die Ewigkeit zu besitzen. Die Ewigkeit und sie ist leer. Wenn alles schon einmal da gewesen ist. Liebe und Verrat, Hass und Großzügigkeit, Leben und Tod. Er hatte die Pest überlebt. Unzählige Kriege, die die Landschaft verwüsteten und ihm die Nahrungssuche erschwerten. Er erinnerte sich an eine mondlose Nacht im dreißigjährigen Krieg, wo er an einem Soldatenbein genagt hatte, das noch im Stiefel steckte. Wo der Rest des Körpers lag, hatte er nie herausgefunden. Es hatte sengend heiße Sommer gegeben und bitterkalte Winter. Viel Einsamkeit, aber nie echte Verbundenheit mit den Sterblichen. Freundschaften währten kurz. Liebe war Wesen wie ihm gänzlich unbekannt. Nie würde eine Witwe sein Grab beweinen können. Nie ein Kind ihn Vater nennen. Wohl aber kannte er Werte wie Loyalität und Ehrlichkeit. Die Ewigkeit zu besitzen hieß auch Langeweile zu kennen. Wenn alle Vergnügungen schal auf der Zunge wurden. Tausendfach gesehen, tausendfach erlebt.

Kein menschliches Wesen konnte nachempfinden, was das bedeutete. Dem gewöhnlichen Pöbel, den er Nahrung nannte, blieb nur die Spanne eines Lebens, was sechzig oder achtzig Jahre umfassen mochte. Wo sie sich in die Hosen schissen. Laufen lernten. Lesen, Schreiben und einen Beruf. Kinder in die Welt setzten, um ihrer eigenen Vergänglichkeit zu entfliehen. Karriere machten. Sich den Rücken krumm buckelten, bis sie todmüde in ihr eigenes Grab fielen. Ihr erbärmliches Leben endete so, wie es begonnen hatte: Sie schissen sich die Hosen voll. Wie oft

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Texte: Thomas Reich
Cover: www.flickr.com/photos/halloweenstock/8117718819
Tag der Veröffentlichung: 28.05.2014
ISBN: 978-3-7368-1565-0

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