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Meat Me

Meat Me

 

 

 

Thomas Reich

Text Copyright © 2005 Thomas Reich

Alle Rechte vorbehalten.

 

Cover Copyright © https://www.flickr.com/photos/97748365@N02/13147017303

 

Impressum: Thomas Reich

Bachenstr. 14

78054 Villingen-Schwenningen

 

Über das Buch:

 

Claudio kennt die schönen Lügen der feinen Gesellschaft, denn er ist selbst eine von ihnen. Er arbeitet für einen Begleitservice, der keine Wünsche offen lässt. Als immer mehr seiner Kundinnen tot aufgefunden werden, offenbart sich das Herz eines Automaten. Seine Existenz ist bedroht. Wer steckt hinter den Morden? Ist es seine Chefin Marla, die mehr für ihn empfindet, als sie zugeben will? Ist es Sarah, deren wahre Herkunft ein dunkles Geheimnis umrankt? Ist es Inspektor Neuss, dessen Ermittlungen von persönlichen Rachegelüsten geprägt sind? Oder jemand außerhalb dieses Personenkreises? Ein guter Rat unter Freunden: Vertraue niemandem in diesem Spiel.

 

Prolog

 

Die Jacht

Im zwanzigsten Jahrhundert wurden die meisten Meilensteine der sexuellen Revolution gelegt. In den sechziger Jahren kämpften die Hippies für die freie Liebe. In Wahrheit galt diese Freiheit nur für die Männer, die Frauen spreizten ihre Schenkel um nicht als spießig zu gelten. Weiterhin wurden sie ausgenutzt. Der kommunistische Gedanke der Sexualität wurde in den achtziger Jahren vom Egoismus abgelöst. Die Promiskuitätsrate stieg ins Unermessliche, gleichzeitig wurde der Gedanke der Selbstverwirklichung der Hippies ad absurdum getrieben. Die Jungen interpretieren die Werte ihrer Alten, formen etwas Neues daraus. Nicht immer mit gutem Ergebnis. Das Aufkommen von Aids konnte diese Entwicklung nicht aufhalten, nur verlangsamen. Wie einst die Entwicklung der Antibabypille, boten Kondome ungeahnte sexuelle Freiheiten. Kurz gesagt- es wurde weitergevögelt auf Teufel komm raus. Niemand hatte etwas dazugelernt. In den neunziger Jahren konnte der Leistungsdruck der modernen Gesellschaft endlich auch sexuell greifen. Gnadenlos wurden die Menschen durch die Medien aufgestachelt, was nackt = Tatsache, ansonsten Zweifel der Glaubwürdigkeit oder gar der Seriosität (!). Werbung ist Fleischbeschau wie am Metzgertresen, klar die Botschaft: Sex sells- mit Sex kommt man weiter! Überall! Wie verprostituieren uns, indem wir sexuell überzeugen wollen. Tiefer Ausschnitt statt Kompetenz.

Ganze Wirtschaftszweige leben davon! Zweideutigkeit = die letzte Hoffnung, da sie immerhin eine andere, nicht sexuelle Deutung beinhaltet. Eine neue Bewegung kam auf: die Swingerclubs. Kommt ihnen daran etwas bekannt vor? Nein? Dann denken sie an das Leben in den Kommunen, wo der Körper Allgemeingut war. Wie gesagt, Fehler sind dazu da, um wieder gemacht zu werden. In den zwanziger Jahren des neuen Jahrtausends lief sich diese Bewegung allerdings tot.

Prostitution gibt es seit der ersten Erektion. Nein, später: seit die Steinzeitmenschen mit dem Tauschhandel anfingen, und es möglich wurde, ein Ziegen- gegen ein Bärenfell zu tauschen. Schon die alten Römer kauften sich Freudenmädchen und Lustknaben, um sich ihr Leben für wenige Stunden versüßen zu lassen. Traditionell war die käufliche Liebe jedoch auf die männlichen Interessen ausgerichtet. Dieses sollte sich jedoch ändern.

Dem Streben der Frau nach Gleichberechtigung folgten die ersten Callboys. Ein Hoch auf die freie Marktwirtschaft, das Angebot regelte die Nachfrage. Die ersten Männerbordelle mussten wegen mangelnder Nachfrage schließen. Heute lächeln wir darüber, ist es doch längst allgegenwärtige Realität geworden. Neben jedem traditionellen Puff steht ein Männerbordell. Wir leben in der Konsumgesellschaft. Das gilt für uns alle. Auf der Strecke bleiben die Menschen, die nichts zu verkaufen haben als ihren Körper. Wegwerfprodukte. Wie Einmalfeuerzeuge und Rasierer. Fühlst du dich emotional leer, kannst du dir ein paar Träume kaufen.

 

*

 

Verlassen wir das Terrain der Philosophie. Folgen sie mir Richtung Caracas. Unter uns sirren die Lichter der Metropole vorbei, Gegensätze zwischen Arm und Reich. Vorbei am stinkenden Hafenbecken, wo Equad Plastics ihre Abwässer abführt. Die See ist ruhig, über uns nur der südamerikanische Nachthimmel. Die ersten Buglichter sind sichtbar. Der Größe nach dürfte es wohl die Geschäftsjacht des Modedesigners ELO sein, die da vor Anker liegt. Haben sie die Möwenschreie gehört? Wir befinden uns unweit der Küste. Auf dem Promenadendeck ist ein Laufsteg aufgebaut. Die Models, die darauf marschieren, führen die Wintermode 2043 vor. Sie schwitzen in den langen Mänteln, salzige Perlen verklumpen das hautfarbene Puder. Was von der Fassade bröckelt, wird unter ihren Schuhspitzen zertreten. Der Laufsteg wird mehr und mehr zu einer hellbraunen Schmierspur. Eleganz hinterlässt ihre Spuren. Die Damen der feinen Gesellschaft in den ersten Rängen, erkennbar an ihren beigefarbenen Hüten mit ausufernder Krempe, fächelten sich frische Luft zu. Trotz der leichten Seebrise war es verhältnismäßig schwül. Ein erlesenes Buffet säumte die Treppe, Stewards reichten silberne Platten mit Häppchen herum. Greifen sie ruhig zu, es ist Thunfisch-Rukola auf Frischkäse-Brot.

Der Champagner hatte die eine oder andere Zunge gelockert.

„Seine neue Kollektion zeigt fast nur Naturmaterialien.“

„Bestimmt aus Kostengründen. Rohöl als Grundlage für Synthetik ist vollkommen überteuert. Die Rückgewinnungsverfahren aus Kunststoff sind noch lange nicht massentauglich.“

„Die Zeit wird kommen, die Wissenschaftler arbeiten daran. Noch ein, zwei Jahre und der rückgewonnene Rohstoff ist billiger als das Öl aus den Bohrinseln.“

„Bis dahin werden wir ewig dieses langweilige Leinen tragen. Wie kann man nur Fasern mögen, die nicht künstlich hergestellt wurden? Gerade die Technik hat die Fehler ausgemerzt, die uns in der freien Natur blühen!“

„Meine Liebe, wie recht Sie doch haben.“

 

*

 

Claudio lehnte mit dem Rücken gegen das kühle Metall der Schiffswand. Er macht sich keine Sorgen, dass der Rücken seines weißen Smokings verschmutzen würde. Er war aus exklusivem Nylon gefertigt. Ein Geschenk des Gastgebers, des werten Senhor Elo, der sich gerne hinter den Großbuchstaben seines Unternehmens versteckte.

Er strahlte richtig in seinen neuen Anziehsachen, die perfekte Dekoration für dieses Event, was Senhor Elo die letzten Wochen soviel Schweiß und Anstrengung gekostet hatte (nicht zu reden von dem Schweiß und der Arbeit seiner Sekretärinnen). Dennoch zierte ein melancholischer Zug Claudios Stirn. Er blickte zu den Sternen, die wie Scheinwerfer wirkten, nur sehr weit weg. Zum Glück schlug kein Musiker auf dem Boot in die Klaviertasten. Magenflüssigkeit, stechend und bitter, stieg ihm die Kehle hoch. Daran war nur dieser gottverdammte Champagner schuld! Elo sonnte sich großspurig im Kreise seiner Gönnerschaft und Zaungäste. Claudio würde ihn später in seine Suite unter Deck begleiten. Das war Bestandteil seines Vertrages. Kein Mensch durfte von den Neigungen Elos erfahren. Schon gar nicht die Presseleute. Der Katholizismus war in diesen Breiten auf dem Vormarsch. Diskretion gehörte zu seinem Berufsethos. Elo winkte ihm zu, er löste sich von der Wand. Die Arbeit rief.

 

*

 

„Was für einen schönen Körper du hast. So glatt und makellos. Komm rüber zu mir.“

Elo klopfte mit der rechten Hand auf die Matratze des runden Bettes. Claudio sah zur Decke hoch, wo ein riesengroßer Spiegel eine weitere Version des nackten alten Mannes zeigte. Aus diesem Blickwinkel wirkte sein Bauch riesig, walfischartig. Claudios Geist floh in den Spiegel, während seiner Hände über die faltige Haut wanderten. Er massierte ihn, bis alle Muskeln gelockert waren. Der Mann unter ihm stieß ein wohliges Grunzen aus. Dann weiter hinab, bis sich dessen Glied aufrichtete. Claudio dachte an Brüste und Mösen, alles was ihm half, sein Arbeitsgerät auf Position zu bringen. Als es ihm gelungen war, stülpte er sich ein Kondom über, welches er nach kurzem Stöbern in seiner Hosentasche gefunden hatte. Er drückte einen Klecks Gleitcreme auf seine Schwanzspitze und schob sich in Elo.

 

*

 

Den nächsten Tag hatte Claudio frei. Er duschte ausgiebig, um den widerlichen Geschmack der letzten Nacht von seinem Körper zu spülen. Im Visionmaster lief irgendeine spanische Soap, er sah nicht fern, brachte es aber nicht fertig, die Kiste einfach auszulassen. Ein ausgeschalteter Visionmaster hieß den Kontakt mit der Welt abzubrechen. Nach seiner Fasson gab es mehrere Welten zu bestehen, die Rolle des Luxusobjektes, welches Begehren hervorrief und stillte. Die Rolle des Casanovas, wie ihn die meisten Menschen sahen. Der charismatische Lebemann, der immer den richtigen Wein auswählte und einer Frau in jeder ihm noch so unbekannten Stadt die schönsten Plätze zu zeigen vermochte. Dann gab es da noch die Privatperson, einen Teil seiner Seele, den er nur wenigen Auserwählten offenbarte. Die wahre Kunst lag darin, den Spagat dazwischen zu wagen.

Im Taxi Richtung New Palenque Strada gab er nach außen hin den erfahrenen Lebemann, freute sich aber wie ein kleiner Junge darauf, am Strand Muscheln zu sammeln. Wie es einst mit seinen Eltern, die Sonntagsausflüge an die Ufer der Elbe. Die Muscheln, die er dort aufsammelte, waren bedeutungslos im Vergleich zu den Exemplaren, die er im Laufe der Jahre an Stränden in Spanien, Südafrika oder Griechenland gefunden hatte. Zu New Palenque hatte er keine geistige Nähe fühlen können, er war zum ersten Mal hier und würde noch an diesem Abend wieder abfliegen. Wolkenmassen zogen über den Horizont, er würde vor dem Regen in der venezuelischen Metropole davonfliegen (um zuhause vom Hamburger Pisswetter begrüßt zu werden).

Der Sand war trocken, fast mehlig. Die Spitzen und Seiten seiner Mokassins verfärbten sich. Also zog er Schuhe und Socken aus. Er wusste ja, Socken und Mokassins gehörten nicht zusammen, aber was sollte er gegen seine kulturelle Prägung tun? Er bemühte sich nach Kräften, cosmopolit zu wirken, konnte allerdings den Deutschen nicht ganz verbergen. Ein Gentleman sollte keine nackten Füße zeigen. Zudem war es schlichthin praktisch. Er füllte eine Plastiktasche mit der Aufschrift der Hotelboutique mit Fächerformen, Spatenformen und rundlichen, gedrehten Gebilden, bis er voll von Glückseligkeit war.

In einem Straßenimbiss genehmigte er sich ein landestypisches Reisgericht. Den Namen konnte er nicht aussprechen, aber es schmeckte köstlich. Er hatte Lust auf einen Tee, war sich aber unsicher bezüglich der hygienischen Verhältnisse. Sein Schweiß lief schneller, als er ihn durch Icetea ersetzen konnte. Noch vier Stunden bis zu seinem Flieger. Die Sonne brannte heiß auf die Bürgersteige, Straßenköter schnüffelten mit ihren Schnauzen, immer auf der Suche nach etwas Essbarem. Ganze Heerscharen der abgemagerten Tiere lungerten um die Mülltonnen des Imbiss herum. Claudio sah sie, nebenan in der Seitenstraße. Der Appetit war ihm grundsätzlich vergangen, er zahlte und ließ eine nur halb aufgegessene Portion zurück. Zwei Blocks weiter kaufte er sich in einem kleinen Laden ein neues Paar rahmengenähter Schuhe. In Europa wären sie nicht bezahlbar gewesen. Hier kosteten sie nur einen Bruchteil. Das nächste Taxi brachte ihn zum Hotel zurück, wo er seinen Koffer packte. Eine Limousine brachte ihn zum Airport. Marlas Limousine. Dieses Miststück hatte Verbindungen in allen Herren Länder.

Im Flieger konnte er abschalten. Er lehnte die Bordverpflegung ab, sprach nur auf Martini an. Über dem Atlantik war er beschwipst. Bis Paris schändlich besoffen. In Hamburg würde eine weitere Limousine warten, die ihn zu seinem Appartement bringen würde.

 

Kapitel 1

 

Der Sturz

Du warst unser Idol, du warst unser Gott. Das leere Seufzen von Michelle in den Weiden. Doch jetzt bist du in Gefahr. Wir haben sie gesehen, die ihre Krallen nach dir ausfahren. Die von uns, die dich immer noch mögen, haben sie abgewehrt. Aber wir können nicht immer da sein. Das nächste Mal…Michelles Stimme klang traurig. Sie kam aus dem Nichts und doch war sie für Claudio so real, als hätte sie neben ihm gestanden. Die Geister der Vergangenheit. Seit Jahren hatte er sie nicht gesehen. Umso mehr irritierte es ihn, dass gerade sie die Warnung ausgesprochen hatte. Was hatte sie mit der Sache zu tun und welche Form trug die Gefahr? Wer wollte ihm Übles und warum?

Schweißgebadet wachte er auf. Die Bettdecke lag zusammengeknüllt in der Ecke des geräumigen Bettes. Grelles Sonnenlicht hatte sich eingeschlichen während er schlief. Aber deswegen waren seine Laken nicht nass. Nicht die Hitze, nein… die Kälte, die er im Traum gespürt hatte. Was er roch war seine eigene Angst. Ein sehr unmännlicher Geruch, der nicht zu ihm passte. Manchmal, in südamerikanischen Städten, lag die Meeresbrandung wie salziger Nebel über der Nacht. Die alten Fischer sagten, es seien die Tränen der Einsamen, die sich in den Schlaf weinten. Als er sich aufsetzte und durch die Haare strich, pochten seine Schläfen augenblicklich. Na Klasse, das konnte vielleicht ein Tag werden.

Während er in der Küche stand und sich ein Glas Eiswasser genehmigt, klingelte das Telefon. Im Display eingehender Anrufe blinkte in grünen Lettern der Schriftzug der Agentur. Der Videomonitor strahlte ein monotones Rauschen aus. Normalerweise hätte er das Bild der anrufenden Person übertragen sollen. Er würde dem Störungsdienst Bescheid geben müssen. Trotzdem wusste er, wer ihn anrief.

„Hi Marla.“

„Morgen Großer. Gut geschlafen?“

„Geht so. Sag was anliegt, meine Zeit ist teuer.“

„Oh. Sind wir heute ein Morgenmuffel?“

Sie kicherte.

„Eine Geschäftsfrau um halb sieben. Zieh dir einen Anzug an und hol sie ab. Essen im New China in der City. Ich glaube ihr beide hattet schon einmal das Vergnügen. Eine Elisabeth Bassige, wirf mal einen Blick in deinen Organizer. Falls ich mich irre, kannst du mir kurz eine Email schicken und ich suche dir ihre Adresse raus.“

„Nein Danke, die müsste ich haben.“

Ohne ihre Antwort abzuwarten legte er auf. Es war nie gut, sich länger als nötig mit Marla zu unterhalten. Sie war ein hinterfotziges Biest. Ob Mann oder Frau, das Geschlecht spielte bei Menschen ihres Schlages keine Rolle. Sie war ein Zuhälter und er eines ihrer besten Pferde im Stall.

Er war gut und international bekannt. Unter all den Nobelcallboys erzielte er den höchsten Preis, und das wusste er. Er konnte die Preise diktieren und nicht umgekehrt. Er könnte frei sein. Wie oft hatte er daran gedacht, die Agentur hinter sich zu lassen. Selbständig zu arbeiten. Ohne Marla. Die Bequemlichkeit hatte ihn immer wieder eingeholt. Die Agentur knüpfe die Kontakte, schloss die Verbindungen. Er war am Ende der Stein, für den Das Loch ausgehoben wurde.

Claudios Vorteil war sein perfekter Körper. Glatt wie die Kunststoffhülle

einer Schaufensterpuppe. Genauso anonym und einsam. Er hatte ihn zur Projektionsfläche aller sexuellen Wünsche und des Verlangens gemacht. Wenn er sich bewegte, dann mit der Anmut eines schwarzen Panthers. Sein Anblick löste bei den Frauen, egal ob jung oder alt, eine wohlige Gänsehaut aus. Oft wurde er angebaggert, auch von Männern. In den Zeiten der Liberalisierung genierten sich die heutigen Schwulen kein Stück.

Ein paar Klimmzüge brachten seinen Kreislauf wieder in Schwung. Er wischte sich den Schweiß vom Körper. In der Küche setzte er eine Tasse Lipton auf und entkernte einen Apfel. Am großen Küchentisch aus Hartacryl verzehrte er mit Muße sein Frühstück. Er griff zur Fernbedienung um den Visionmaster einzuschalten. In jedem Raum der Suite bestand eine Wand komplett aus einem Visionmaster, teilweise Maßanfertigungen. Er war hungrig nach Bildern. Seine Seele dürstete danach. Ihm war es egal, warum. Solange ihn die bunten Bilder beruhigten.

Die Nachrichten brachten einen Regierungsputsch in Pakistan. Fehlgeleitete Fundamentalisten, die in Guadalumpur erst ein Wohnhaus gesprengt und dann die Innenstadt mit Autobomben in ein Meer der Verwüstung verwandelt hatten. Es war eine grausame Welt. Der Tod des bekannten Models Michelle Myers. Claudio setzte sich ruckartig in seinem Stuhl auf.

„…stürzte sie Samstagabend von der Terrasse ihrer Suite im Hiltitowers. Die Polizei von New Palenque vermutet Selbstmord, wofür die in ihrem Hotelzimmer gefundenen…“

In einem weißen Nachtkleid würde sie die Balkontür geöffnet haben. Aus dem Augenwinkel eine Träne vergossen, Stockwerke fallend als feuchten Vorboten. Ein Biegen ihres grazilen Körpers nach vorne, der Winkel zur Brüstung immer spitzer werdend, bis die Schwerkraft sie mitriss, mehrfacher Looping in der Fahrstuhlluft, bis sie schließlich das Dach einer geparkten Luxuskarosse eindellte. Ihr Todesruf: die Hupe, aufgrund des technischen Defekts nicht mehr so einfach abzustellen.

Ihre Warnung hallte in seinen Gehirnwindungen nach. Michelle hatte die telekinetische Pistole abgedrückt, während er zwei Blocks weiter im New Palenque Plaza friedlich schlummerte. Oder ihre Stimme kam bereits aus dem Totenreich. Claudio war entsetzt. Er bezweifelte ihren freiwilligen Tod. Verdammt, sie war ein wenig kaputt gewesen unter der bröckelnden Maske der High Society, aber der Sprung von einem hohen Gebäude wäre einfach nicht ihr Stil gewesen. Rasierklingen oder Schlaftabletten hätten besser zu ihr gepasst. Nicht der Köpfer vom Zehner. Von ihm hatte sie die Krallen der Böswilligen abwehren können bevor sie sie packten und über die Brüstung schmissen. Das war kein Unfall, keine freie Entscheidung Michelles. Und wenn sie Recht behielt, könnte er der Nächste sein. Nein, das war kein guter Tag.

Er fuhr in die City zum Einkaufen. Flanierte die Konsumtempel, shoppte orientierungslos von links nach rechts. Von oben nach unten. Sah nicht wirklich, was er in den Warenkorb schmiss. Kaufte, bis seine Kreditkarte ächzte und die Brandung in seinem Kopf nicht mehr rauschte. Kaufhausbimbos trugen ihm die Papiertaschen zum Auto. Mittags aß er ein exklusives Mahl in der „St.Pauli-Kombüse“. Das Schweinefilet schmeckte nach Nichts, wie seine Gedanken. Er saß mit dem Rücken zu den anderen Gästen und starrte auf die weiße Wand. Wäre sie nicht dagewesen, er hätte nicht gewusst, worauf seinen brechenden Blick lenken. Ein Tod machte noch keine Vergangenheit. Wie war es denn wirklich gewesen damals, als er auf Michelle traf?


*


Claudio hatte gewisse gesellschaftliche Verbindungen. Mit Rikos Hilfe war er an Eintrittskarten gekommen für das Jahrestreffen der New faces-Modelagentur in Hamburg. Er hatte die Chance gewittert, aus der Escortbranche herauszukommen. Mit seinem Gesicht lag ihm die ganze westliche Welt zu Füßen. Als Michelle den Raum betrat, unterhielt er sich mit Schirrmayer, einem alternden Lebemann und Seniorchef von New faces. Die kleine Meerjungfrau im Ballkleid, der jeder Schritt dabei schmerzte wie tausend Messer. Sie stakste zum Buffet, ihre Augen sprühten von einer Lebendigkeit, wie sie nur gutes Kokain hervorrufen konnte. Claudio bemerkte seinen eigenen Hunger. Er stand auf, griff sich einen der bizarren quadratischen Teller (Designaward Germany 2029) und stellte sich in die Reihe der Frackschoßträger ein. Wenn er mit ihr in Kontakt kommen wollte, musste sie etwas verbinden, und wenn es für den Augenblick nur die Tatsache war, dass sie beide aßen. Es war ein Stehbuffet, wo kleine Gruppen beieinander standen und angeregt über Großstädte diskutierten.

Claudio stellte sich zu Michelle und klinkte sich mit ein paar lockeren Worten ein.

„Gefällt dir Hamburg?“

„Sie nennen es die goldene Stadt. Von vielen ersehnt, von wenigen erreicht. Wir leben unter der Gunst der Neonröhren. Rote Lichter, schnelle Leben, Trallera.“

„Ich bin hier geboren und aufgewachsen.“

„Was arbeitest du denn so?“

Claudio zögerte. Die Zeit für die Wahrheit musste sich hinten anstellen. Die Zeit des Werbens genoss eindeutig Vorrang.

„Ich bin Schauspieler.“

Flüssig rutschten ihm die Lügen über die Lippen. Erst schlitterte er noch, dann verlor er jeden Halt unter den Füßen. Ihre Augen waren ein tiefer Grund, auf den es ihn hinunterzog. Erstaunlich, wie schnell man seine Chancen verspielen konnte. Wie schwer eine kleine Notlüge später zurückzunehmen war, wenn Liebe mit ins Spiel kam.

„Ach wirklich? In welchem Film hast du mitgespielt?“

„Och, nichts von Welt. Ich stehe am Anfang meiner Karriere. Eine kleine Produktion hier, eine kleine dort.“

„Erfüllt es dich?“

„Und du, führst du ein zufriedenes Leben?“

Sie war zu zugedröhnt, um sein Ablenkmanöver zu bemerken. Mein Gott, ihre Festung war spielend leicht einzunehmen, aber wer wollte die Partisanenkämpfe im Innenhof aufnehmen?

Michelle schniefte, als wollte sie beweisen, dass sie es über beide Nasenlöcher hinaus war. Über die Teller hinweggebeugt küsste Claudio sie auf die Stirn. Gebratener Fisch mischte sich mit dem Zigarettengeruch ihrer Haare. Sie war einsam und unglücklich, zu schnell gerannt um es zu erkennen, immer noch langsam genug, um es zu spüren. Als er sie gesehen hatte, wurde sein Beschützerinstinkt geweckt. Sie ließ zu, dass er sie an der Hand nahm und sie aus der champagnerumnebelten Gesellschaft befreite, mit auf sein Hotelzimmer führte, wo er wartete, bis sie einschlief. Er wachte über ihr, träge kräuselte sich der Rauch seiner Zigarette in die Kühle des ersten Herbsttages. Du brauchst jemand, der die Augen aufhält. Der dich von der Überholspur runterholt.

Claudio hatte Schirrmayer sausen lassen, er hatte diesen Abend nur Michelle im Kopf. Eine Tür schloss sich, eine andere wurde geöffnet. Er lief über keinen Laufsteg der Welt, weil er sich in ein Model verliebt hatte.


*


Am Morgen aßen sie im Hotel ein üppiges hanseatisches Frühstück. Viel schwarzer Tee, golden und dampfend. Wie üblich wurde kalte Milch zum Müsli gereicht, was ihn verärgerte. Kein Hotel in der westlichen Welt, wo warme oder gar heiße Milch Sitte gewesen wäre. Bestimmt war er nicht der einzige Gast, der diese kalte Brühe nicht zu schätzen wusste.

Zaghaft lernten sie sich kennen, Michelle hatte wenig Zeit, der Flieger nach Mailand erwartete sie. Claudio blieb alleine zurück, ihre Emailadressen hatten sie getauscht.


*


Damals waren sie beide Huren. Er für die Agentur und Michelle für die Designer, über deren Laufwege sie stöckelte, und die Modemagazine, für die sie sich räkelte. Der Abend ihrer ersten Begegnung wurde nur von einem unschuldigen Kuss gekrönt. Selbst das war schon viel. Einer Kundin gegenüber wäre er innerhalb kurzer Zeit bereit gewesen sehr viel mehr zu geben. Nicht so bei Michelle. Bei ihr konnte er sich Zeit lassen. In den nächsten Wochen hatte Claudio kleine Nachrichten von ihr erhalten, über die ganze Welt verteilt. Mit den Absendeadressen verschiedener Internetcafés rund um den Globus. Aber immer mit ihrem Signum. Er hatte ihren Weg auf der Weltkarte verfolgt. Rio, New York, Paris, Mailand… Sprünge über den Ozean. Kilometer waren das Maß für seine Sehnsucht. Seine ständigen Anrufe trieben seine Handyrechnung ins Unermessliche. Oft, nur zu oft stieß er auf ihre Mailbox. Michelle zu lieben hieß die ganze Welt zu lieben. Seine Gedanken reisten mit ihr und unterwegs nutzten sie sich ab. Stürzten auf die Bahngleise, fielen aus Flugzeugen, ertranken im Atlantik, als sie mit dem Schiff untergingen. Claudio hatte in dieser Zeit gelernt, wie anstrengend eine Fernbeziehung war. Nach fast einem Monat sah er sie wieder, diesmal verführte sie ihn, dass ihm die Spucke wegblieb. Sie fickte ihn, und das mit einer Abgebrühtheit, die ihm ebenbürtig war. Sie war ihm ähnlicher, als ihr klar war. Er war lange genug im Business, um Liebe aus Sex herauszuschmecken, wenn es auch lange her war, das sein Gaumen diesen Kitzel verspürt hatte. Dabei ging es ihnen nicht um den Sex, vielmehr darum, die körperliche Einheit wieder herzustellen. Kuscheln war ihnen beiden wichtig. Und wenn im Visionmaster eine Reportage auf N24 lief, schmiegte sie sich an ihn. Da waren sie wieder soweit. Ein Körper, der dachte, ein Körper der atmete, ein Herz, das schlug. So konnte ihre Beziehung lange gut gehen. Michelle bemühte sich, ihn öfters zu sehen, und Claudio bemühte sich, sie in seiner Terminplanung unterzubringen.

Was in der Praxis bedeutete, dass er nur arbeiten konnte, wenn Michelle arbeitete. Keinesfalls durfte sie von den Kundinnen erfahren. Marla deckte ihn, buchte ihn nur, wenn er alleine war. Michelle musste nicht leiden. Im Frühjahr kompromittierte Claudio schließlich ein Anruf von Marla. Er kam gerade vom Shoppen mit Michelle aus der Stadt, die letzten Treppenstufen war er hochgehetzt, warf hastig den Schlüssel in die Ecke, als seine Voicebox schon abnahm.

„Hey Großer, schwing deinen Knackarsch in mein Büro, eine neue Kundin möchte dich gerne in Natura sehen. Sie trifft bis um acht ein. Komm besser eine Stunde vorher, um die neuen Tarife mit mir durchzusprechen.“

Michelle stand in der Tür, musterte ihn argwöhnisch.

„Wer war das?“

„Ein dringender Termin. Ich muss gleich los.“

„Ist es eine andere Frau?“

„Ich verspreche dir, ich habe dich nie betrogen. Bleib einfach hier und warte auf mich. Mach den Visionmaster an, wenn dir langweilig ist. Ich werde dir alles erklären.“

Und schon war er wieder weg.


*


Fluchend heizte Claudio über die Stadtautobahn, spielte unstet an den Senderknöpfen vom Radio. Nur Scheiße auf

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Texte: Thomas Reich
Cover: https://www.flickr.com/photos/97748365@N02/13147017303
Tag der Veröffentlichung: 28.05.2014
ISBN: 978-3-7368-1563-6

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