Völlig entnervt sitzt Lea am Frühstückstisch. Eigentlich nichts Ungewöhnliches, ihre Mutter Bea wirbelt um sie herum. Lea ist sieben Jahre alt und ein Einzelkind. Gerne hätte sie Geschwister gehabt, aber Bea sagt immer: „Nicht noch ein behindertes Kind“.
Lea geht nicht zur Schule, hat keine Freunde und sitzt den ganzen Tag in ihrem Zimmer und langweilt sich. Erst gegen Nachmittag kommt Dörte vorbei, sie gibt Lea ein wenig Unterricht. Gestern sprachen sie über Geografie, über ferne Länder und andere Sitten. Für Lea unvorstellbar, dass es so etwas überhaupt gibt. Leas Welt besteht aus einer Dreizimmerwohnung, einem kleinen Bad und einer Wohnküche. Lea darf nicht nach draußen gehen, weil Bea sagt immer: „Draußen ist es zu gefährlich für dich. Wenn du an die frische Luft kommst, Sonnenstrahlen deine Haut berühren, fällst du um und bist tot.“
Leider haben sie auch keinen Garten oder wenigstens einen Balkon. Wenn sie einen Garten gehabt hätten, hätte sie wenigstens nachts darin herumtoben können. Manchmal stellte sie sich vor, wie sie einfach aus dem Haus laufen würde. Sie würde die abgedunkelten Fenster aufreißen und hinausspringen. Als Erstes würde sie die lange Straße entlang laufen, bis hinunter zum Fluss. Hier würde sie warten, bis ein großes Schiff vorbeikommen und sie mit nach Afrika nehmen würde. Darüber hatten sie gestern gesprochen, Dörte und Lea. „Afrika, ein Land mit vielen Tieren und Menschen, die alle draußen leben“, hatte sie gesagt.
Der Tag versprach wieder langweilig zu werden. Bea würde gleich einkaufen gehen, die Türen abschließen und erst gegen Mittag wieder zurück sein. „Sei vorsichtig, mach keine Dummheiten und mache niemandem die Türe auf“, sagte sie und verschwand in eine für Lea unbekannte Welt. Lea legte sich ins Bett und versuchte noch ein wenig zu schlafen, als es plötzlich an der Türe schellte. Eigentlich nichts Ungewöhnliches. Mindestens einmal am Tag klingelte irgendjemand an ihrer Haustüre, sei es die Post, Werbung oder irgendwelche Vertreter. Diesmal schellte es nicht nur, nein, es klopfte auch jemand an die Wohnungstür. Lea ging nah an sie heran und spie durch den Spion. Ein völlig fremder Mann mit einer dunklen Hautfarbe stand vor ihrer Tür. Lea fragte nach, was er denn möchte. Der Mann sprach irgendetwas von Hilfen, Spenden und Tieren aus Afrika. Jetzt wurde Lea hellhörig, in Afrika kannte sie sich aus.
„Sind sie aus Afrika?“, fragte sie den Fremden.
„Ja“, sagte er und kam etwas näher heran.
„Leben sie dort draußen mit den wilden Tieren zusammen?“, fragte Lea ganz aufgeregt.
„Mit Löwen und Giraffen, ja doch“, sagte der Fremde und fragte: „Hast du schon mal Giraffen und wilde Tiere gesehen?“
„Nein“, sagte Lea. „Ich darf nicht nach draußen gehen, meine Mutter sagt, es sei zu gefährlich für mich“.
„Ach was, hier im Zoo gibt es diese Tiere. Alle leben hinter Gittern, da kann nichts passieren“, sagte der Fremde. „Geh doch heute Nachmittag mal dorthin, ich werde auch da sein. Hier, schau dir das Mal an, ist nicht weit von hier. Wenn du kommst, sagst du einfach, dass du zu Jef möchtest. Ich werde dich dann hereinlassen“, sagte der Fremde und schob eine Broschüre unter die Wohnungstüre hindurch.
Lea hob sie ganz vorsichtig auf und sah sich die Bilder an. Tiere waren darauf zu sehen, ganz viele Tiere. Da muss ich hin, dachte Lea und zog sich Mamas Stiefel an. Diese waren ihr viel zu groß, aber eigene Schuhe für draußen hatte sie nicht. Lea versuchte eines der Fenster zu öffnen, welches sich aber nicht aufmachen ließ. Die Haustüre war ebenfalls verschlossen, eigentlich war alles wie immer. Lea war jetzt so fasziniert von den Bildern auf dem Prospekt, dass sie gar nicht anders mehr konnte. Sie musste hier raus, sie musste nachsehen, ob es wirklich diese Tiere gab. Nein, ob es überhaupt Tiere gab, denn sie hatte noch nie eines gesehen…
Es schepperte gewaltig, als Lea Mutters Aschenbecher durch die Scheibe feuerte. Überall waren Splitter und das hereinstrahlende Sonnenlicht brach sich in den auf dem Boden liegenden Scherben. Lea fasste all ihren Mut zusammen und sprang aus dem Fenster. Es war ein Sprung ins Unbekannte, ohne Vorstellung davon zu haben, was sie erwarten würde. Als Lea auf der grünen Wiese aufschlug, blutete sie leicht am linken Finger. Sie fühlte einen Schmerz, ein leichtes Pochen in der Hand. Sie stand fest auf dem Boden und blickte sich ängstlich um. Ich blute, aber tot bin ich nicht, dachte sie und spürte eine innere Kraft in sich aufsteigen. Lea fing plötzlich zu lachen und zu tanzen an. Sie sprang und hüpfte über die kleine grüne Wiese vor ihrem Haus und wartete darauf, dass etwas passieren würde. Nichts geschah, hatte Bea sie die ganze Zeit nur angeschwindelt?
Lea entfernte sich immer weiter und lief die lange Straße entlang bis hinunter zum Fluss. Ein großes Tier kam auf sie zu, wedelte mit dem Schwanz und blieb vor ihr stehen. Lea sah sich den Prospekt noch einmal an, konnte das Tier aber nicht erkennen. Immer wieder blätterte sie darin herum, bis sie es schließlich fragte:
„Bist du aus Afrika?“
Tag der Veröffentlichung: 09.12.2009
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