Kaum war Michael in Berlin angekommen, spürte er auch schon die Hektik, die ihn in dieser pulsierenden Großstadt Metropole umgab. Er war zwar schon des Öfteren dort gewesen, aber diesesmal fiel es ihm im Besonderen auf. Vielleicht lag es auch daran, dass er nun selbst ein wenig in Zeitnot geriet.
Michael hatte sich zwar fest vorgenommen, seine innere Ruhe, ja, die in ihm verborgene Landluft, so schnell nicht freizulassen, aber so langsam wurde die Zeit echt knapp.
Er kam aus Deggendorf, einer kleinen Stadt in der Nähe von Waldkraiburg. Dort hatte er auf seinem Hof Biene kennengelernt, eine knapp vierzig jährige Schönheit aus der Großstadt. Sie verliebten sich schnell ineinander, auch wenn sie unterschiedlicher nicht hätten sein können.
Biene kam zweimal im Monat aus beruflichen Gründen in den Süden gereist, die knappe Zeit nutzten sie dann aber umso intensiver.
Ein Geschenk musste her, etwas ganz Besonderes, dachte er. Michael hatte noch eine Stunde Zeit, dann würde er endlich Biene treffen. Etwas ausgefallenes hatte er in Deggendorf, seinem Heimatdorf, vergeblich gesucht.
Eigentlich war die Idee für Michael viel zu verrückt, aber er hatte sich darauf eingelassen. Biene hatte ihm einen Antrag gemacht, zwischen Ferkeln, herumlaufenden Hühnern und blökenden Kühen sagte sie ganz plötzlich: „Michael, lass uns heiraten!“ Nach einer kurzen Pause fügte sie noch hinzu: „In Berlin, nur in Berlin!“
Noch während sie die Worte aussprach, fing Michaels Hund plötzlich zu jaulen an. Michael war vor Schreck etwas von Biene zurückgewichen und dabei auf die Pfote des kleinen Mischlings getreten. „Ahhh“, schrie er daraufhin und wendete dem Hund seine volle Aufmerksamkeit zu. Biene verstand die ganze Aufregung nicht und schloss Michael fest in ihre Arme. „Ich wusste, dass du nicht Nein sagen würdest“, sagte sie.
Die Hochzeit sollte schon zwei Wochen später stattfinden, ganz spontan, aber an einem außergewöhnlichen Ort. Ihre Bedingung war der Ostberliner Fernsehturm.
Michael hatte kaum Zeit, alles und vor allem sich selbst zu organisieren. Dazu gehörten: Ringe kaufen, seinen Anzug reinigen lassen, seiner Familie eine größere Feier auszureden und noch ein paar Kilo abzuspecken. Schon Ewigkeiten hatte er nicht mehr auf dem alten Drahtesel, dem Fahrradergometer, gesessen. Ganze zwei Kilo hatte er in der kurzen Zeit der Vorbereitung noch wettmachen können, danach war ihm, im höheren Frequenzbereich, die rechte Pedale abgerissen. Der Hochzeitsanzug saß nun leider etwas zu stramm, aber die paar Stunden würde er schon noch halten, versuchte er sich einzureden. Außerdem hatte Karl ihm noch mit auf den Weg gegeben, dass ein paar Kilo mehr oder weniger, nach der Hochzeit, sowieso keine Rolle mehr spielen würden.
Michael entschied sich für eine Hochzeitsreise mit der AIDA durch die Ägäis, direkt einen Tag nach der Trauung. Er bezahlte die Tickets im Reisebüro und war mit sich und seiner Idee der Kreuzfahrt rundum zufrieden.
Um 13:00 Uhr würden sie sich oben im Turm, in über 300m Höhe, das Jawort geben. Dann würden sie gemeinsam dort oben essen und am nächsten Tag für eine Woche auf Hochzeitsreise gehen. Das Leben könnte schlechter laufen, ging es ihm durch den Kopf und in weiter Ferne konnte er nun auch schon den Fernsehturm ausmachen.
Sie hatten ausgemacht, dass sie sich erst oben, in der Panoramaetage, sehen würden. Michael platzte jetzt fast vor Aufregung, er konnte es kaum mehr erwarten.
Unten angekommen entschied er sich noch einen Aufzug lang abzuwarten, er mochte dieses Gedränge nicht. Kaum zu glauben, es herrschte Stille. Wenn der Aufzug jetzt halten würde, könnte er ganz alleine zu seiner Biene schweben. Die Zeit schien stillzustehen, Sekunden kamen ihm wie eine Ewigkeit vor.
Ein lautes PING, die Aufzugtür öffnete sich und heraus kamen zwei Männer in grauen Nadelstreifenanzügen. Michael schaute noch einmal an sich herab, befühlte die Ringe in seiner Tasche und auch die Tickets waren noch da. Er betrat den Aufzug.
Gerade als die Fahrstuhltüre schließen wollte, sprang noch ein kleiner Junge zu ihm herein. „Mist“, entfuhr es ihm und der Aufzug setzte sich in Fahrt. Er hatte das Gefühl, als würde sich sein Magen einmal in ihm rumdrehen. Nach einer kurzen Zeit der Stille verspürte Michael einen heftigen Ruck. Der Fahrstuhl kam zum Stehen, aber ohne sich zu öffnen. Der Junge sah zu ihm auf, keiner sagte etwas. Die Zeit verging, ohne dass etwas passierte. Langsam spürte Michael eine Nervosität in sich aufkommen, immer wieder schaute er dabei auf seine Uhr. Die Beiden schwiegen sich gegenseitig an, keiner sagte etwas.
Der Junge nahm die Situation gelassen hin und starrte ihn immerzu an. Michael wurde immer nervöser, die Trauung sollte in einer viertel Stunde beginnen. Nichts tat sich, plötzlich sagte der Junge: „Ich muss mal!“ Kaum hatte er es ausgesprochen, pinkelte er seelenruhig in die rechte Ecke des Fahrstuhls.
„Was machst du da?“, schrie er den Jungen an gab ihm eine Ohrfeige. Der Junge fing sofort zu weinen an und setzte sich daraufhin direkt in die von ihm bereitete Pfütze.
„Steh auf!“, sagte Michael und packte den Jungen am Kragen. Beim Bücken fielen Michael die Tickets, seine gebuchte Hochzeitsreise, ins „Wasser“. Sofort waren die Dokumente eingeweicht, sie tauchten förmlich ab. Michael bekam daraufhin einen hysterischen Wutanfall und schrie drauflos: „Bist du bekloppt? Weißt du, was das ist? Ich heirate in ein paar Minuten und das hier ist meine Hochzeitsreise.“
In diesem Moment setzte ein lautes Piepen, der Alarm seiner Uhr, ein und das signalisierte Michael den Beginn seiner Trauung. Noch weitere Minuten vergingen, ohne dass irgendetwas geschah. Die Reisetickets waren total durchnässt, der Aufzug stand immer noch still.
Es verging eine Ewigkeit, ehe der Aufzug seine Fahrt endlich fortsetzte. Oben angekommen war von Biene nichts mehr zu sehen. Ein anderes Brautpaar verließ frisch vermählt die Hochzeitszeremonie und stieg in den nun frei werdenden Aufzug.
Der Standesbeamte kam ihm entgegen und sagte nur: „Ihre Braut hat vor fünf Minuten das Treppenhaus betreten und ist weinend davongelaufen…
Tag der Veröffentlichung: 12.02.2009
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