Die Ampel zeigte Rot. An diesem verregneten Nachmittag spiegelte sich dieses Rot auch auf dem glitschigen Asphalt wieder. Es war nicht viel los, nur hin und wieder kreuzte ein Auto die Straße, weitere Fußgänger waren nicht zu sehen.
Thomas stand jetzt schon eine Weile an der Ampel, er fingerte sich eine klatschnasse Zigarette aus der Tasche und fummelte umständlich in der Anderen nach Feuer. Der Rauch nebelte ihn vollständig ein, er tippelte mit seinen Füßen hin und her.
Er hatte schon des Öfteren an roten Ampeln gestanden, über Rot zu gehen, kam aber für ihn nicht infrage. Es dauerte nun schon eine kleine Ewigkeit, noch immer war weit und breit kein Auto zu sehen. Auch andere Fußgänger sah er keine, er hätte unbemerkt die Ampel überqueren können. Es plagten ihn erste Gewissensbisse, doch er wollte, nein, er konnte einfach nicht losgehen.
Ein dicke graue Taube setzte sich mitten auf seine Ampelinsel, pickte seelenruhig irgendwelche Körner vom Boden auf. Thomas mochte keine Tauben, alle Vögel waren ihm zuwider. Sie kam immer näher an ihn heran, er ging ein Stück beiseite. Die Taube ließ sich davon nicht beirren und kam auf ihn zu. Thomas scharrte mit den Füßen, er versuchte ein paar Krümel, vielleicht war es auch nur Granulat, ein wenig von ihm weg zu treten. Die Taube, anfangs noch davon beeindruckt, stand nun genau zwischen seinen Füßen. Thomas bekam es langsam mit der Angst zu tun. Die Ampel zeigte immer noch Rot und nun fuhr auch mal ein Auto mit quietschenden Reifen an ihm vorbei. Wie blöd muss das hier nur aussehen, machte er sich so seine Gedanken.
Die Taube hüpfte zwischen seinen Beinen hin und her und pickte immer weiter irgendwelche Sachen auf.
Thomas ging wieder ein Stück zur Seite und wartete weiter auf Grün. Noch immer schimmerte, strahlte ihn das leuchtend warnende Rot der Ampel an.
Aus weiter ferne sah er eine Frau auf seine Kreuzung zukommen, sie haderte mit ihrem Regenschirm und kam immer näher. Falls sie tatsächlich einfach über Rot gehen würde, sagte er sich, könne er es eventuell auch einmal versuchen. Leider ging die Frau weiter den Bürgersteig entlang, ohne ihn eines Blickes zu würdigen.
„Mist“, entfuhr es ihm und wieder bewegte er sich ein Stück weiter von der Taube weg.
Ein weiterer Vogel setzte sich neben ihn, so langsam wurde ihm die Ampelinsel ein wenig zu eng. Die beiden Vögel pickten sich gegenseitig fast die Augen aus, Thomas sah es mit gemischten Gefühlen.
„Was mache ich denn jetzt?“, sagte er jetzt laut in die langsam einsetzende Dunkelheit hinein. „Ich kann da nicht rüber, wann springt denn diese blöde Ampel endlich um?“
Weitere Minuten vergingen. Ein von links kommender Wagen fuhr jetzt so nah an ihm vorbei, dass eine ganze Ladung Pfütze sich an seinem Hosenbein entlud. „Du Arsch“, schrie er dem schon längst weiter gefahrenem Wagen hinterher und streifte sich die Nässe von der Hose.
Thomas war ein korrekter Mensch, er hasste Situationen, die sich nicht so verhielten, wie er es gewohnt war. Alles musste an seinem Platz sein, alles musste funktionieren. Diese rote Ampel hatte ihn jetzt schon langsam aus dem Gleichgewicht gebracht. Er haderte mit sich selbst, konnte aber nicht über seinen Schatten springen. So langsam bekam er sogar Hunger, außerdem wurde ihm kalt. Er stand jetzt bestimmt schon eine geschlagene Stunde hier herum, da er keine Uhr besaß, konnte er dies nur vermuten. Es kam ihm wie eine Ewigkeit vor, die Beine taten ihm weh. Setzen konnte er sich nicht, dafür war der Boden zu nass und die umherlaufenden Tauben machten ihm Angst.
Plötzlich das Unerwartete: Eine der Tauben ging, nein tappelte, mitten auf die Fahrbahn. Als sich ein großer gelber Bus ihr näherte, bekam Thomas es mit der Angst zu tun. Die Taube machte überhaupt keine Anstalten, vor der herannahenden Gefahr Respekt zu haben. Im Gegenteil, sie sah noch nicht einmal vom Boden auf. Thomas stellte sich das bevorstehende Szenario grausam vor: Der Bus erfasst die Taube mit seinem linken Vorderreifen, ein Wust aus Federn, Blut und Eingeweiden fliegt unkontrolliert durch die Luft. Thomas quälte dieser Gedanke, alles ging so unheimlich schnell. Es muss etwas geschehen, sagte er sich.
Er trat heftig auf die Straße, sprang der Taube entgegen und verscheuchte sie so von der Fahrbahn. Sich selbst der herannahenden Gefahr bewusst, schaute er nach links und dann nach rechts. Nur noch ein paar Meter, und der Bus würde ihn erfassen. Ein lautes Gehupe versetzte ihn in Panik, er konnte sich noch gerade auf die andere Straßenseite rüberretten. Dort angekommen holte er erstmal tief Luft und sah zu seinem Entsetzen, dass die Ampel mittlerweile auf Grün gesprungen war…
ENDE
Texte: © Mark Reichmann
Die rote Ampel
Einmalige Ausgabe 2008
Tag der Veröffentlichung: 06.10.2008
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