Verblasstes Gold
Seine Wohnung wirkte furchtbar leer. Fast sein gesamtes Inventar war fort. Er besaß lediglich ein Bett, einen alten verkratzten Küchentisch und ein paar dazugehörige Stühle. Die Küche war versifft, eine Fassung ohne Birne baumelte von der Decke und ein alter Kühlschrank brummte laut vor sich hin. Bernd war fast sechzig Jahre alt, sein Leben lief trostlos an ihm vorbei.
Vor genau zwei Jahren hatte ihn Doris verlassen, wegen einem anderen. Bernd war Trinker, täglich brachte er es auf ein paar Flaschen Wein und billigen Schnaps.
Es gab auch andere Zeiten in seinem Leben, glückliche, fast schon glorreiche Zeiten. „Früher war alles anders“, sagte er gerne und genehmigte sich noch einen Schluck vom billigen Fusel. Der Stuhl, sein Lieblingsstuhl, auf dem er immer saß, knarrte laut vor sich hin. Er kippelte damit gern weit zurück, auf dem preiswerten Küchen-PVC konnte man schon deutliche Spuren davon erkennen. Einmal war er schon mit dem Kopf gegen die Fensterbank geschlagen, davongetragen hatte er eine ordentliche Platzwunde.
Das Telefon klingelte, eines der wenigen Dinge, die ihm noch geblieben waren.
„Ja“, sagte er.
„Ich bin´s, Maria, komm mal rüber. Ich hab ne Flasche Bourbon, die machen wir zusammen leer. Was hälste davon?“
„Jetzt?“, fragte Bernd und musste dabei etwas aufstoßen.
„Ja wie, jetzt? Wenn nicht jetzt, dann nie! Beeil dich und bring Eis mit.“
„Eis? Vom Italiener?“
„Ne, aus dem Kühlschrank. Ein bisschen Stil muss sein“, sagte Maria und legte auf.
Schon ein bisschen froh über Marias Anruf, stand Bernd auf und zog sich seine Jeanshose an. Der Tag schien gerettet, Bernd hatte seit langem mal wieder eine Verabredung.
Er wollte gerade die Tür zuschlagen, als ihm die Sache mit dem Eis wieder einfiel. Kurz überlegte er, ob er überhaupt Eiswürfel dahaben würde. Bernd hatte sich nicht mehr um den Kühlschrank und seinen Inhalt gekümmert, seit Doris ihn verlassen hatte. Einzig und allein Getränke stellte er dort kalt, aus dem Eisfach hatte er nur hin und wieder mal eine Pizza gezogen.
Bernd lebte eigentlich nur von Leberwurstbroten mit Gurken. Ganz selten einmal gönnte er sich eine Pizza. Ein paar undefinierbare Tupperwaren kühlten seit Ewigkeiten im Eisschrank vor sich hin, er hatte sich nie die Mühe gemacht, einmal genauer nachzusehen. Ernsthaftes in der Küche zubereiten konnte er sowieso nicht, warum also all die Mühe.
„Gut“, sagte er und ging noch einmal zurück und machte den Eisschrank auf. Auf den ersten Blick fand er keine Eiswürfel, er musste dafür schon tiefer graben. Bei dieser Gelegenheit sah er sich ein paar undefinierbare Gegenstände etwas genauer an. Vom eingefrorenen Rotkohl bis hin zu einer Art Suppe fand er schließlich einen weißen Behälter mit gefrorenem Eis. Gerade als er diesen anheben wollte, erblickte er etwas Goldenes. Eingepackt in Zellophanpapier nahm er es genauer unter die Lupe. „Das kann doch nicht wahr sein, nein, das gibt es doch nicht“, stammelte er vor sich hin und nahm den Gegenstand heraus. „Da ist sie, meine Goldmedaille. Meine Goldmedaille von 1972 – olympisches Gold in München. Wie bist du denn dahin gekommen? Das darf doch nicht wahr sein…“, sagte er und ließ sich erstmal zurück in seinen Küchenstuhl fallen. Dieser krachte dabei so stark, dass Bernd sich an der Fensterbank abstützen musste. Ihm wurde schwindelig, im Kopf drehte sich so einiges und er nahm erstmal einen ordentlichen Schluck vom Fusel.
Bernd hatte sie damals in München in der 400 Meter Staffel als ganz junger Bursche gewonnen. Zugetraut hatte es ihm niemand, es war ein sensationeller Erfolg für ihn und seine Mannschaft gewesen. Danach war er noch ein paar Jahre weiter geschwommen, doch konnte er nie mehr einen ähnlichen Erfolg für sich verbuchen. Sein Leben verlief wie eine Achterbahn, nach dem Hoch kam erst einmal ein ganz großes Tief bis hin zur Heirat mit Doris. Als auch diese in die Brüche ging, war sein Absturz vorprogrammiert.
„Jetzt war sie all die Jahre im Eisschrank, und warum?“, fragte er sich und konnte es immer noch nicht glauben. Er wusste es wirklich nicht, verfluchte sich, Doris, sein ganzes Leben.
Als erstes rief er Maria an: „Du glaubst nicht, was ich gerade gefunden habe. Meine Goldmedaille, mein olympisches Gold von 1972. Weißt du wo? Im Eisfach! Wie kommt die dahin? Das kann doch nur Doris gewesen sein, was sagst du?“
„Doris? Wie kommst du denn darauf? Das hat dir doch der Teufel gesagt. Sie hätte niemals dein Ein und Alles versteckt, sie dir weggenommen. Du spinnst doch!“
„Wer denn sonst! Hast du eine Ahnung, was die wert ist? Pass auf, ich muss erstmal hier bleiben, muss mir ein paar Gedanken machen“, sagte er und legte wieder auf.
Bernd schüttete noch einen Tetra Pak in sich hinein und nahm sein letztes Geld und ging hinaus. Er irrte ziellos durch die Gegend, ohne sich wirklich Gedanken darüber zu machen. Mit dabei hatte er seine Medaille, tief vergraben in der linken Hosentasche.
Ein paar Stunden später fuhr der ICE in den Münchner Hauptbahnhof ein. Bernd hatte sein letztes Geld für billigen Schnaps und ein Ticket ausgegeben und begab sich völlig betrunken zum Ausgang. Er wurde getrieben von einer Macht, über die er keine Kontrolle mehr hatte. Wie eine Marionette wurde er gelenkt, hin zum Ort seines größten Triumphes. Immer wieder ging ihm dabei dieses kuriose Versteck durch den Kopf. Wer hatte ihm die ganze Zeit sein olympisches Gold vorenthalten?
Ganz allmählich dämmerte ihm eine Unterhaltung mit Doris, sie wurde immer gegenwärtiger.
Damals war Doris noch besorgt um ihn. Seine Trinkerei wurde immer heftiger, er verkaufte Omas alten Schmuck, seine komplette Plattensammlung und einen Teil seiner Möbel. Irgendwann, als er mal wieder völlig betrunken war, lief sie aus seiner Wohnung und rief etwas zu ihm hinauf: „Du kannst alles verkaufen, aber verkauf nicht deine Seele. Ein bisschen Stolz musst du doch noch haben. Ich kann dich nicht vor dir selbst beschützen, ich wollte dir nur helfen, eine große Dummheit zu begehen…“
Das waren die letzten Worte, die sie beide zusammen gewechselt hatten. Wenn er jetzt wieder darüber nachdachte, wurde ihm klar, dass sie sich auch über diese blöde Medaille unterhalten hatten. Irgendwas war damit, vielleicht wollte er sie wirklich verkaufen? Jedenfalls hatte er sie danach nie mehr gesehen…
Vielleicht hatte sie ihn wirklich geliebt, ihn, den Menschen Bernd Klüger. Er war ihr einmal wichtig gewesen, sie wollte ihn vor einer größeren Dummheit beschützen. Er durfte sie nicht einfach weggeben, sie veräußern, zu Geld machen, vielleicht für ein paar Flaschen billigen Fusel. Die Medaille war mehr als nur ein Stück Gold, sie war die Rückfahrkarte in ein neues Leben. Doris hatte immer gehofft, dass er sich vielleicht irgendwann dessen besinnen könnte. Sie hatte es mehr als einmal betont, wie stolz er eigentlich auf sich sein müsste…
Diese Gedanken gingen ihm durch den Kopf, als er völlig betrunken und frierend am Isar - Ufer stand. Nur einen Fußtritt weit weg lag seine Zukunft, sein Verderben oder seine Chance. Mit der linken Hand die Goldmedaille fest umklammert, ging er noch einen Schritt nach vorne und musste plötzlich laut rülpsen…
ENDE
Geschichte II
Die rote Ampel
Die Ampel zeigte Rot. An diesem verregneten Nachmittag spiegelte sich dieses Rot auch auf dem glitschigen Asphalt wieder. Es war nicht viel los, nur hin und wieder kreuzte ein Auto die Straße, weitere Fußgänger waren nicht zu sehen.
Thomas stand jetzt schon eine Weile an der Ampel, er fingerte sich eine klatschnasse Zigarette aus der Tasche und fummelte umständlich in der Anderen nach Feuer. Der Rauch nebelte ihn vollständig ein, er tippelte mit seinen Füßen hin und her.
Er hatte schon des Öfteren an roten Ampeln gestanden, über Rot zu gehen, kam aber für ihn nicht infrage. Es dauerte nun schon eine kleine Ewigkeit, noch immer war weit und breit kein Auto zu sehen. Auch andere Fußgänger sah er keine, er hätte unbemerkt die Ampel überqueren können. Es plagten ihn erste Gewissensbisse, doch er wollte, nein, er konnte einfach nicht losgehen.
Ein dicke graue Taube setzte sich mitten auf seine Ampelinsel, pickte seelenruhig irgendwelche Körner vom Boden auf. Thomas mochte keine Tauben, alle Vögel waren ihm zuwider. Sie kam immer näher an ihn heran, er ging ein Stück beiseite. Die Taube ließ sich davon nicht beirren und kam auf ihn zu. Thomas scharrte mit den Füßen, er versuchte ein paar Krümel, vielleicht war es auch nur Granulat, ein wenig von ihm weg zu treten. Die Taube, anfangs noch davon beeindruckt, stand nun genau zwischen seinen Füßen. Thomas bekam es langsam mit der Angst zu tun. Die Ampel zeigte immer noch Rot und nun fuhr auch mal ein Auto mit quietschenden Reifen an ihm vorbei. Wie blöd muss das hier nur aussehen, machte er sich so seine Gedanken.
Die Taube hüpfte zwischen seinen Beinen hin und her und pickte immer weiter irgendwelche Sachen auf.
Thomas ging wieder ein Stück zur Seite und wartete weiter auf Grün. Noch immer schimmerte, strahlte ihn das leuchtend warnende Rot der Ampel an.
Aus weiter ferne sah er eine Frau auf seine Kreuzung zukommen, sie haderte mit ihrem Regenschirm und kam immer näher. Falls sie tatsächlich einfach über Rot gehen würde, sagte er sich, könne er es eventuell auch einmal versuchen. Leider ging die Frau weiter den Bürgersteig entlang, ohne ihn eines Blickes zu würdigen.
„Mist“, entfuhr es ihm und wieder bewegte er sich ein Stück weiter von der Taube weg.
Ein weiterer Vogel setzte sich neben ihn, so langsam wurde ihm die Ampelinsel ein wenig zu eng. Die beiden Vögel pickten sich gegenseitig fast die Augen aus, Thomas sah es mit gemischten Gefühlen.
„Was mache ich denn jetzt?“, sagte er jetzt laut in die langsam einsetzende Dunkelheit hinein. „Ich kann da nicht rüber, wann springt denn diese blöde Ampel endlich um?“
Weitere Minuten vergingen. Ein von links kommender Wagen fuhr jetzt so nah an ihm vorbei, dass eine ganze Ladung Pfütze sich an seinem Hosenbein entlud. „Du Arsch“, schrie er dem schon längst weiter gefahrenem Wagen hinterher und streifte sich die Nässe von der Hose.
Thomas war ein korrekter Mensch, er hasste Situationen, die sich nicht so verhielten, wie er es gewohnt war. Alles musste an seinem Platz sein, alles musste funktionieren. Diese rote Ampel hatte ihn jetzt schon langsam aus dem Gleichgewicht gebracht. Er haderte mit sich selbst, konnte aber nicht über seinen Schatten springen. So langsam bekam er sogar Hunger, außerdem wurde ihm kalt. Er stand jetzt bestimmt schon eine geschlagene Stunde hier herum, da er keine Uhr besaß, konnte er dies nur vermuten. Es kam ihm wie eine Ewigkeit vor, die Beine taten ihm weh. Setzen konnte er sich nicht, dafür war der Boden zu nass und die umherlaufenden Tauben machten ihm Angst.
Plötzlich das Unerwartete: Eine der Tauben ging, nein tappelte, mitten auf die Fahrbahn. Als sich ein großer gelber Bus ihr näherte, bekam Thomas es mit der Angst zu tun. Die Taube machte überhaupt keine Anstalten, vor der herannahenden Gefahr Respekt zu haben. Im Gegenteil, sie sah noch nicht einmal vom Boden auf. Thomas stellte sich das bevorstehende Szenario grausam vor: Der Bus erfasst die Taube mit seinem linken Vorderreifen, ein Wust aus Federn, Blut und Eingeweiden fliegt unkontrolliert durch die Luft. Thomas quälte dieser Gedanke, alles ging so unheimlich schnell. Es muss etwas geschehen, sagte er sich.
Er trat heftig auf die Straße, sprang der Taube entgegen und verscheuchte sie so von der Fahrbahn. Sich selbst der herannahenden Gefahr bewusst, schaute er nach links und dann nach rechts. Nur noch ein paar Meter, und der Bus würde ihn erfassen. Ein lautes Gehupe versetzte ihn in Panik, er konnte sich noch gerade auf die andere Straßenseite rüberretten. Dort angekommen holte er erstmal tief Luft und sah zu seinem Entsetzen, dass die Ampel mittlerweile auf Grün gesprungen war…
ENDE
Geschichte III
Heimspiel
Wie fast an jedem zweiten Samstag fuhr er mit der Schwebebahn gegen halb zwölf von Oberbarmen in Richtung Stadion am Zoo. Der Wuppertaler SV lud mal wieder zum Heimspiel ein. Noch nie hatte er eins verpasst, auch damals nicht, als er diese schwere Grippe hatte. Tilly, wie sie ihn nannten, war seit siebzehnjahren Fan des Sportvereins, und zu den Spielen trug er stets das Trikot mit der Nummer zehn.
Diesmal aber sollte alles anders werden. Schon morgens hatte er ein eigenartiges Gefühl gehabt. Beim Aufstehen ist er mit seinem Knie gegen den Bettpfosten gekracht, später fiel ihm eine ganze Tasse heißer Kaffee durch die Küche. Und jetzt auf dem Weg zum Bahnhof bemerkte er, dass er sein Trikot falsch rum angezogen hatte. Das Trikot war auf links herum gedreht. Tilly blieb abrupt stehen, sah an sich herab und entschied sich spontan dafür, heute nicht in die Schwebebahn zu steigen.
Man kannte ihn, so wie er selbst viele kannte. Natürlich nicht persönlich, nur flüchtig, jeder für sich, und doch standen sie irgendwie alle zusammen. Tilly gehörte eben auch dazu, richtige Freunde hatte er aber keine. Es waren immer die gleichen im Stadion, egal wie der Club auch spielte. In der Kurve würde man ihn vermissen, wenn er mal nicht erscheinen sollte. Mehr aber auch nicht, und auch das wusste er.
Und dann so was, die geflockte Seite seinen Trikots zeigte nach innen. "Das ist peinlich", sagte er laut vor sich hin. Sein Trikot gab im stets ein Gefühl dazuzugehören, einer von ihnen zu sein. Nur nicht unangenehm auffallen, war seine Devise. Man jubelte gemeinsam, verlor zusammen und ging doch nach jedem Spiel wieder allein nach Hause zurück. Der Fußball war sein einziges Hobby.
"Tilly, wo willst du hin?", rief Bernd, einer von vielen aus der Kurve. " Ich komme gleich", rief Tilly und bewegte sich zielstrebig in Richtung Hauptstrasse. Während er lief, versuchte er mit gekreuzten Armen, sein verdrehtes Hemd zu verdecken. Nicht auszumalen, wenn man ihn so sehen würde. Dummerweise bestiegen einige aus der Kurve dieselbe Schwebebahn zum gleichen Zeitpunkt wie er selbst. Aus diesem Grund entschied er sich erst einmal zu laufen, und bewegte sich entlang der Wupper in Richtung Barmer Innenstadt.
Der große Fluss zu seiner linken Seite war ihm bisher noch nie so richtig aufgefallen. Er war zwar immer schon da gewesen, aber irgendwie hatte er sich ihm noch nie so richtig gezeigt. Tilly ging weiter, bald passierte er die Schwebebahnstation Wupperfeld. Auch diese ließ er links liegen, er wollte weiter zu Fuß gehen. In ihm kamen Gedanken auf, wie wenig er seine eigene Stadt kannte. Täglich war er in ihr unterwegs, aber genau hingeschaut hatte er bisher wohl nicht. Seine üblichen Wege waren total eingeschränkt. Selten, ja fast nie wagte er sich in ein für ihn unbekanntes Terrain vor. Jetzt aber konnte er gar nicht genug bekommen, die frische, sogar leicht fischige Luft, die von unten heraufkam, beflügelte Tilly ein wenig.
Du hast dein Trikot falschrum an, dachte er jetzt wieder nach. " Du musst dich irgendwo umziehen", grübelte er laut vor sich hin. Tilly machte einen Schlenker, überquerte die Straße und ging geradewegs in ein griechisches Lokal hinein. " Hat der WSV verloren, oder warum trägst du dein Trikot falsch herum?", sagte ein Mann direkt vom Tresen aus. Tilly war sprachlos, seine gute Laune sofort verflogen. " Ich, äh, weiß nicht", stammelte Tilly und verließ das Lokal auf direktem Wege wieder.
Am Alten Markt angekommen, sah Tilly schon aus sicherer Entfernung, ein paar Fans des heutigen Gegners aus Düsseldorf lässig an einer Mauer stehen. Jetzt nur nicht auffallen, dachte Tilly nach. Gerade als er die Straßenseite an einer Kreuzung überqueren wollte, rief einer aus der Düsseldorfer Ecke zu ihm herüber: " Hey, hier geht es zum Spiel, hast du dich verlaufen?" - " Einer von uns, was? Coole Idee, das Trikot falsch herum zu tragen. Wo hast Du das denn her?", sagte ein anderer. " Auch ein Bier? Bist Du gerade erst angekommen, hast Dich bestimmt auch verfahren, oder?", hörte er noch jemand anderes sagen. Tilly kam langsam etwas näher, ihm war sehr unbehaglich zu Mute. Er konnte sich unmöglich als Wuppertaler zu erkennen geben. Das wäre der sichere Tod, dachte er sofort ein wenig zynisch nach. Aber einen Düsseldorfer zu spielen, war auch nicht seine Sache. Was kannte er denn schon von dieser Stadt? Die Altstadt hatte er schon seit bestimmt fünfzehn Jahren nicht mehr gesehen. Der Rhein war ihm so gegenwärtig, wie der Fluss, der durch seine eigene Stadt hindurch floss. Er kannte nichts von Düsseldorf, außer das sie das Hinspiel mit 2:0 gewonnen hatten. "Ja,ja", sagte Tilly. " Ich muss mir noch was zu essen kaufen, dann komme ich mit Euch", fügte er noch hinzu. Gerade als er gehen wollte, hielt ihm ein anderer ein Brötchen entgegen. " Komm, wir nehmen die nächste Bahn. Es wird Zeit! Nimm das und komm mit uns. Wir sind schon spät dran, eigentlich wollten wir gar nicht hier sein. Aber wir sind ein paar Stationen mit dem Zug zu weit gefahren", sagte er und stand auf. Tilly blieb nichts anderes übrig, als das Brötchen zu nehmen, und mit den anderen die Treppen hinauf zur Schwebebahnstation zu gehen. Wenn mich jetzt jemand aus der Kurve sieht, das wäre nicht gut, überlegte er mit einem sehr unwohligen Gefühl in der Magengegend. Sie waren tatsächlich spät dran. Seine eigenen Fans sollten schon längst am Stadion sein, beruhigte er sich immer wieder. " Erzähl mal, wie biste an das Trikot gekommen? Hast du dafür einen umgehauen?", sagte ein sichtlich stark angetrunkener Typ direkt neben Tilly. "Habe ich noch vom Hinspiel, das hat wohl einer weggeworfen. Es lag auf dem Sitz in der SBahn. Ich dachte mir, so kann man es tragen", beendete Tilly seine Erklärung und war sofort auch ein bisschen Stolz auf sich selbst. Er wusste gar nicht, dass er so gut lügen konnte...
Tilly hatte Glück. Als sie am Stadion angekommen waren, war draußen vor den Toren nicht mehr viel los. Am Kassenhäuschen entschied sich Tilly dafür, nicht seine Wuppertaler Dauerkarte herauszuholen, und bezahlte in bar. Auch hier war er für seinen Blitzeinfall sehr dankbar. Nicht auszudenken, wenn seine wirkliche Identität, hier zum jetzigen Zeitpunkt, unter Berücksichtigung des Alkoholspiegels seiner neuen Freunde, ans Tageslicht gerückt wäre. Sie würden ihn lynchen, jagen und den gegnerischen Fans, ja seinen eigenen, zum Fraße vorwerfen, ging es ihm unentwegt durch den Kopf. Man führte sie in die Gästekurve, Tilly hielt sich merklich bedeckt.
Das Spiel wurde angepfiffen. Tilly schaute verhalten zu seinen Wuppertalern hinüber. Es war zu weit, um irgendwen erkennen zu können. Aber natürlich würden sie alle da sein. Er überlegte, ob irgendjemand ihn jetzt schon vermissen würde. Einige kannte er vom Namen her. Beim Bierholen rief schon mal der er ein oder andere einen Namen und die dazugehörige Bestellung hinter ihm her. Tilly ging oft Bier holen, selten nur für sich allein. Er selbst traute sich meistens nicht, eines zu fordern, wenn jemand anderes ging. Gefragt wurde er nur ganz selten einmal. "Hier, reich mal durch und nimm dir auch ein Bier", sagte Pommes. Tilly wusste seinen Namen, weil er ihn sich hinten auf sein Trikot geschrieben hatte. "Danke", sagte Tilly und reichte die Biere durch. Unglaublich aber wahr. Es blieb wirklich auch eins für ihn übrig. Das konnte kein Zufall sein, man hatte ihn mit dazu gerechnet. Das war ihm in seiner ganzen Zeit, auf der anderen Seite des Stadions, unter seinesgleichen, nur ganz selten vergönnt gewesen. So ganz allmählich verschwand Tillys Ängstlichkeit den Fremden gegenüber und wich einer leicht euphorischen Stimmung. Das Bier, das Wetter und die gute Laune, die unter ihnen herrschte, taten ihr übriges dazu. Tilly dachte während des eher mäßigen Spiels darüber nach, ob er sich jemals schon einmal beim Spiel des Wuppertaler SV so gut, so akzeptiert von all den anderen, gefühlt hatte. Er wurde selbstverständlich aufgenommen, man spendierte großzügig Bier und nahm sich gegenseitig zum singen, fluchen oder jubeln in den Arm. Hatte er jetzt etwa siebzehn Jahre auf der falschen Seite gestanden?, dachte er gerade nach, als das 1:0 für die Düsseldorfer fiel. Tilly freute sich, drei Fans fielen ihm um den Hals und erdrückten ihn fast. "Tilly, zieh mal dein Trikot aus.", rief ihm einer zu. "Wir verbrennen es.", sagte ein anderer. "Ne, lass mal gut sein", antwortete Tilly. - "Das bringt nur Unglück!", fügte er noch hinzu. " Dann schreiben wir jetzt wenigstens Fortuna Düsseldorf vorne drauf", sagte Pommes, und schon malte er dabei den Vereinswappen der Fortuna auf Tillys Brust. " So, das passt besser", sagte er und steckte den Filzstift wieder in seine Kutte.
Tilly hatte die Seite gewechselt, einfach so. Jetzt stand er in der Kurve für die gegnerische Mannschaft und jubelte für den falschen Verein. Von jetzt auf gleich, ohne das es ihm irgendwie leid getan hätte. Im Gegenteil, er fühlte sich wohl. So muss es sein, wenn Spieler von heut auf Morgen den Verein wechseln, dachte er nach. Gestern noch bei dem, heute bei einem anderen Club. "Was solls, ist doch völlig egal für wen ich jubele", sagte er ganz leise vor sich hin und bekam dabei fast nicht mit, wie der polnische Stürmer des Wuppertaler SV den Ausgleich erzielte. Der kann morgen auch schon weg sein und für einen anderen Verein spielen, überschlugen sich jetzt Tillys Gedanken. Dann ging er die Aufstellung des WSV durch und stellte dabei fest, dass die Mannschaft auch nicht wirklich viel mit Wuppertal gemein hatte. Es war eine Muti Kulti Truppe, genau wie diese jetzt hier in der Fankurve. Er war der Neue, der ohne das Wissen der Anderen eigentlich auf der falschen Seite stand. Durch einen Zufall, ein wenig Glück und ein bisschen Wohlwollen, war er in ein neues Spiel eingestiegen. Alles passte zusammen, sie hatten für heute einen neuen Spieler in ihrer Mannschaft. So lange er mitspielte, die Regeln befolgte und keinem schadete, konnte er sich auf jeder beliebigen Seite des Lebens befinden. Ganz egal ob hier im Stadion, im Beruf oder sonst wo auf dieser Welt.
Tilly nahm sich vor, in Zukunft nicht mehr so engstirnig zu denken. Das Leben bot ihm vielseitigere Möglichkeiten, als immer nur auf einer Seite zu stehen. Mit einem lächeln im Gesicht und ein wenig stolz auf seine neuen Einsichten, verließ er das Stadion nach einem gerechten Unentschieden.
ENDE
Geschichte IV
Die Puppe
In seiner Wohnküche tickte die große braune Uhr mit den schweren messingfarbenen Gewichten in der Ecke neben dem Fenster unaufhörlich vor sich hin. Stündlich gab das riesige braune, aus hochwertigem Mahagoniholz mit einem Schwarzwälder Uhrwerk gefertigte Ungetüm, einen ohrenbetäubenden Gongschlag von sich. Die dünne und preiswerte Auslegeware schaffte es kaum, den Stundenschlag auf Zimmerlautstärke zu dämmen. In fünf Minuten war es wieder so weit, der Tag hatte begonnen und die Uhr würde Sieben schlagen.
Wie jeden Morgen wurde Marco schon ein paar Minuten vorher wach. Er hatte eine innere Uhr, auf die konnte er sich stets verlassen. Die wenigen Minuten bis zum Gongschlag döste er noch vor sich hin, diese kurze Zeit gönnte er sich jeden Tag. Es waren für ihn Minuten des Stillstands, Minuten in denen er kein schlechtes Gewissen zu haben brauchte und er einfach an nichts, an rein gar nichts denken musste.
Marco träumte von einer Segelyacht, leicht bekleidete Mädchen lagen ihm zu Füßen und neben ihm stand ein riesiger Eimer mit gekühlten Getränken. Gerade als er sich bedienen wollte, seine rechte Hand holte sehr weit aus, stieß er dabei die noch vom Vorabend übrig gebliebene halbe Flasche Rotwein um. Erschrocken fuhr Marco hoch, sah den letzten Rest des Weines über seinen Nachttisch laufen und schaute zur Uhr. Es war mittlerweile kurz nach Acht, er hatte verschlafen. Marco riss seine Bettdecke zur Seite, sprang aus dem Bett und eilte in die Küche. Dort in der Ecke neben dem Fenster, kaum zu übersehen und so etwas wie der optische Anziehungspunkt der Küche, stand sie. Ein Erbstück seiner Großmutter, aus edlem Holz gefertigt und groß und schwer wie nur sonst was. Die goldenen Zeiger standen still. Der kleine hatte bei der Drei, der große zwischen der Sechs und Sieben schlapp gemacht.
Fassungslos stand Marco nur mit einer Unterhose bekleidet in der Küche und starrte auf die Uhr. Um ihn herum war es still, kein Ticken, kein Gongschlag und auch seitens der Nachbarn vernahm er kein einziges Geräusch. Wenn er sich sonst jeden Morgen gegen sieben Uhr seinen Kaffee frisch zubereitete, hörte er beim Erhitzen des Wassers, kurz bevor es den Siedepunkt erreichte, die Klospülung der Nachbarin. Es war für ihn schon fast zum Ritual geworden, erst dann war das Wasser zum Aufgießen bereit.
Marco stand still, regungslos und ein bisschen verwirrt in seiner Küche herum. Sein rechter Arm lehnte auf einem der vier Küchenstühle, mit dem linken kratzte er sich am Hinterkopf. Er hätte jetzt schon seit mindestens zehn Minuten auf seiner Arbeitsstelle, einem städtischen Schwimmbad, das sich in unmittelbarer Nähe seiner kleinen Zweizimmerwohnung befand, sein müssen. Wie konnte das nur passieren?, ging es ihm durch den Kopf und seine Gedanken kreißten um seine Gruppe, für die er jeden Morgen die Türen aufschließen musste. Um kurz nach Acht kamen sechs Senioren, alle im Alter jenseits von gut und böse, gut gelaunt und voller Tatendrang zum Schwimmunterricht. Marco gab Kurse für Nichtschwimmer, ob jung oder alt, er brachte ihnen das Schwimmen bei. Die würden jetzt vor der Türe stehen, bei dem Wetter frieren und ihn, den Bademeister ohne Ausbildung, der, der einfach nur in den Job reingerutscht war, zum Teufel jagen. Er sah die einzelnen Gesichter vor sich, besonders das vom alten Professor Eichdorf, diesem Arschloch, der würde sicherlich am lautesten fluchen. Vielleicht würde ihn Ursula, seine Lieblingsschülerin, versuchen zu verteidigen, aber sie würde sich nicht durchsetzen können, auch das wusste er…
Marco kam nicht voran, er stand immer noch hilflos in der Küche und wartete auf ein Zeichen. Er konnte sich nicht erinnern, jemals verschlafen zu haben. Außerdem war es ihm schleierhaft, warum die gute alte Uhr einfach stehen geblieben war. Er wusste ganz genau, dass er sie gestern Abend, so wie an jedem Abend vor dem Zubettgehen, noch mal aufgezogen hatte. Ob jetzt wohl jemand stirbt?, fragte er sich und ging im Geiste seine ganzen Freunde und Bekannten und seine Familie durch. Viele hatte er nicht mehr, an Verwandten war noch seine Tante Karla, sein Onkel Mike und irgendwo im Ausland versteckt, seine Schwester Sabine übrig. Zu allen hatte er kein wirklich gutes Verhältnis mehr, außer Sabine, sie schickte ihm jedes Jahr zu seinem Geburtstag und zu Weihnachten wenigstens noch eine Postkarte. Bei den Freunden war es noch etwas schwieriger jemanden zu finden, der ihm wirklich etwas bedeutete. Da war Mona, seine Kollegin, mit ihr war er mal ein Bier trinken. Sie hatte nach ihm die Spätschicht im Schwimmbad, für ein zweites Bier fanden sie aber einfach keinen gemeinsamen Termin. Marco hatte sich zwar eingestanden, dass wenn sie es wirklich gewollt hätten, sicher hier und dort etwas Zeit für ein Treffen gewesen wäre. Aber er war einfach nicht der Typ, der sich aufdrängte oder auch nur den ersten Schritt unternahm. So etwas muss immer von beiden Seiten kommen, sonst ist das nichts, dachte er. Sonst kann das nichts werden…
Noch immer total unentschlossen und sich der bereits verstrichen Zeit nicht wirklich bewusst, konnte Marco keine Entscheidung treffen. Als erstes entschied er sich dafür, sich einfach nur hinzusetzten. Er schob den Stuhl ein wenig zur Seite und setzte sich. Kurze Zeit später stand er wieder auf und ging zurück in sein Schlafzimmer. Er sah den verschütteten Rotwein, der sich langsam von seinem Nachttisch hinunter bis hinter die Heizung und das Bett bewegt hatte. „Schöne Sauerei“, murmelte Marco vor sich hin und blickte unter sein Bett. Dort sah es aus, als wenn noch nie jemand ernsthaft versucht hätte, darunter sauber zu machen oder aber nur etwas aufzuräumen. Es hatte auch noch nie jemand getan, da war er sich sicher.
Er ging zurück in die Küche, ein Seitenblick natürlich auf die immer noch stehende Uhr gerichtet und nahm sich einen Schwamm aus dem Spülbecken. Marco ging zurück in sein Schlafzimmer um den verschütteten Wein aufzuwischen. In diesem Moment klingelte sein Telefon, der schrille Ton hatte ihn erschreckt. Marco blieb wie angewurzelt stehen, bewegungsunfähig und ohne auch nur irgendein Geräusch von sich zu geben, blickte er auf das Telefon. Das konnte nur jemand aus dem Schwimmbad sein, ging es ihm direkt durch den Kopf. Jemand der mächtig sauer sein würde, der seinem Ärger lautstark Luft machen wollte. Marco konnte unmöglich dran gehen, er wusste nicht, was er hätte sagen sollen. Das Telefon schellte und schellte, in seinen Ohren begann es zu pfeifen. Marco hielt sich beide Ohren zu, mit angewinkelten Armen und den Spülschwamm noch in den Händen stand er kerzengerade in seinem Zimmer. „Lass es aufhören“, schrie er und merkte, wie sein Körper mit einer leichten Gänsehaut überzogen wurde. Plötzlich war es wieder still, er beruhigte sich ein wenig und bückte sich nach unten. Der Wein war bis tief unter das Bett gelaufen, er musste schon etwas von dem dort verstauten nach vorne befördern. Als erstes bekam er einen alten Schlafanzug zu fassen, mit ihm kamen ein Socken und ein total verstaubtes Mensch ärgere dich nicht Spiel zum Vorschein. Marco wunderte sich darüber, ihm war gar nicht bewusst, dass er so etwas überhaupt besaß. Er zog es raus und fand dahinter noch mehr Unbekanntes, dabei streckte er seinen Arm immer tiefer unter das Bett. Fast ganz hinten, schon an der Wand und ein wenig zerquetscht, bekam er einen Karton zu fassen. Er zog ihn heraus und durchstöberte seinen Inhalt. Alles irgendwelcher Kram, wunderte er sich und zog eine ziemlich in Mitleidenschaft gezogene alte Single von Prince hervor. Es war die Platte mit der legendären Nummer Purple Rain, die er mit seiner damaligen Band „The Revolution“ aufgenommen hatte. Für Prince war dies Anfang der 80er Jahre wahrscheinlich der internationale Durchbruch gewesen, für Marco aber hatte sie eine ganz andere Bedeutung…
Er betrachtete die Platte eingängig und fischte die kleine, schwarze Vinylscheibe aus ihrer Hülle. Die Single sah noch gut aus, auf ihr waren keine nennenswerten Kratzer oder fettigen Fingerabdrücke zu erkennen. Dass sie aber oft abgespielt worden sein musste, konnte der geübte Plattenliebhaber schon auf den ersten Blick erkennen. Marco kannte sich aus, er hatte bestimmt an die 1000 Platten in seinem Schrank stehen.
Je länger Marco das Cover betrachtete, desto mehr kamen in ihm schon längst verloren geglaubte Erinnerungen zurück. Auf dem Cover ist Prince mit seiner Gitarre zu sehen, auf dessen Griffbrett jemand etwas sehr persönliches geschrieben hatte: Für meinen lieben Schatz, damit Du mich nicht vergisst. Immer wenn ich nicht da bin, sollst Du dieses Lied abspielen…. In LIEBE Sandra
Der Text war sehr klein geschrieben und in all den Jahren auch schon etwas blasser geworden. Marco hatte echte Mühe, die einzelnen Worte zu entziffern. Er las den Text gleich zweimal durch, etwas in seinem Kopf fing mächtig an zu hämmern. Marco stand auf und ging in sein Wohnzimmer. Dort schlenderte er an dem Glastisch vorbei hinüber zu seiner Stereoanlage. In letzter Zeit hatte er mehr CDs als Platten gehört. Der Plattenteller seines alten Thorens – Spielers mit klassischem Riemenantrieb war von einer heftigen Staubschicht überzogen. Marco legte den Puck, ein zusätzliches Adapterstück zum Abspielen von Singles, in die Mitte des Tellers und legte die Platte auf. Natürlich vergaß er dabei nicht, die Geschwindigkeit seines Plattenspielers auf die nötigen 45 Umdrehungen pro Minute zu stellen. Geübt war geübt… Er hatte sich damals, Anfang der 90er Jahre, schwer getan mit den neuen Silberlingen, den kleinen CDs. Marco besaß schon von klein auf eine recht ordentliche Plattensammlung. Er mochte den warmen, knisternden Sound der guten alten Vinyl Platte nie so recht eintauschen, gegen den kalten Sound einer CD.
Nach einem kurzen Knistern ertönten die ersten Akkorde der Klampfe von Prince und sofort schweiften Marcos Gedanken ab. Gedanken verfingen sich in den Tiefen seiner gelebten, bereits in Vergessenheit geratenen Vergangenheit. Der Raum war sofort eingenommen, verzaubert und völlig elektrisiert. Bilder tauchten auf, längst vergessene Szenen aus einem anderen Leben entfalteten sich blitzschnell vor seinem geistigen Auge. Kaleidoskopartig reihten sich die Bilder aneinander, setzten sich wie einzelne Bausteine zusammen und ergaben letztendlich einen Film. Es war nicht irgendein Film, nein, es war sein Film.
Marco ließ sich in seinen Sessel zurückfallen und begann zu weinen.
Kapitel 2
Sandra war tot, sie starb an einem sonnigen Dienstagnachmittag vor drei Jahren in einer Einkaufsstrasse mitten in der Hamburger Innenstadt.
Gemeinsam schlenderten Marco und Sandra damals Händchen haltend durch die Stadt, als plötzlich, völlig unerwartet und absolut nicht vorhersehbar, ein älterer Mann vom Himmel fiel. Sandra wurde unter ihm begraben, Marco dabei nur leicht verletzt. Es hatte eine Art Knall, ein dumpfes Geräusch gegeben und dann war nur noch Geschrei. Marco sah eine große Menschenmenge um sich herum versammelt und versuchte ihr zu entkommen. Er stand auf, verstand die ganze Aufregung nicht und entfernte sich vom Unfallort. Ziellos irrte er stundenlang durch die Stadt, in der Hoffnung irgendetwas wieder zu erkennen. Alles war ihm fremd, die Umgebung, die Menschen und auch er selbst. Krampfhaft versuchte er sich an irgendetwas zu erinnern, doch alles war dunkel. Es gab ihn nicht, er hatte keinen Namen mehr und auch kein Zuhause. Mit dem Einsetzen der Dämmerung und langsam aufkommender Kälte verlief er sich zusehends und wachte am nächsten Morgen völlig ausgekühlt und ahnungslos auf einer grünen Wiese am Elbufer auf.
Marco hatte Hunger und verspürte den sehnlichen Wunsch nach etwas zu trinken. Wieder irrte er völlig ziellos umher und landete schließlich auf einer Toilette eines Cafes direkt am Hamburger Michel. Er streckte den Kopf unter den voll aufgedrehten Wasserhahn und eiskaltes Wasser lief ihm über sein Gesicht. Er öffnete den Mund und trank so viel er konnte. Beim Blick in den Spiegel sah er einen fremden Mann vor sich. Sein Gesicht war aufgedunsen und mit tief unterlaufenden Augen gezeichnet. Krampfhaft versuchte er sich an irgendetwas zu erinnern, seinen Namen, seine Herkunft oder auch nur ein Detail aus seiner Vergangenheit. Doch da war nichts, überhaupt nichts.
Marco hatte auch nichts dabei, weder einen Ausweis noch irgendwelche Papiere. In seiner Hosentasche fand er nur etwas Geld, er zählte es zusammen und kaufte sich beim Hinausgehen ein Brötchen. Wieder zählte er sein Geld und verstaute die knapp 100 Euro tief in seiner Hosentasche. Immer wieder versicherte er sich durch das erneute Abtasten seiner Taschen der Gewissheit, das Geld noch bei sich zu haben.
Die nächsten Stunden irrte er wieder ziellos umher in der Hoffnung, irgendeine Erinnerung würde ihn zurück ins Leben werfen. Beim Studieren eines Busfahrplanes sprach ihn plötzlich eine ältere Dame an.
„Herr Tillmann, wie geht es ihnen?“
Völlig erschrocken blickte Marco die fremde, gut gekleidete Dame vor ihm an und begann zu rätseln, ob der Name Tillmann wohl sein eigener war.
„Gut, soweit ganz gut“, sagte er.
„Sie sehen aber gar nicht gut aus“, bemerkte die ältere Frau.
„Wissen sie, ähm, wie soll ich sagen, woher kennen wir uns?, fragte Marco jetzt gerade heraus.
„Wie bitte? Sie kennen mich nicht? Her Tillmann, wir arbeiten zusammen. Man hat sie heute vermisst. Im Büro hat man sich schon Sorgen gemacht.“
„Sagen sie mal, kennen sie eigentlich meine Eltern?, fragte Marco ohne eigentlich darüber nachzudenken.
„Ihre Eltern? Ich dachte die leben in Köln? Ist wirklich alles in Ordnung mit ihnen?“
„Ist es weit bis nach Köln?“, konterte Marco und merkte dabei, wie ihm schummrig vor den Augen wurde. Seine Umgebung fing an sich zu drehen, die ältere Dame verschwamm vor seinem Auge und plötzlich war alles schwarz. Marco fiel um, schlug mit dem Kopf auf das Pflaster und wachte später in einem Hamburger Krankenhaus wieder auf.
Das war jetzt genau drei Jahre her. Marco hatte jegliche Erinnerung an Hamburg, seine Verlobte Sandra oder aber an seine Arbeit, er war bei der Post beschäftigt, verloren. Nachdem die Ärzte ihm im Krankenhaus eine schwere Amnesie, hervorgetreten durch einen plötzlichen Schock, bescheinigt hatten, hatte er kurzerhand, mangels auch nur irgendeiner Erinnerung einer gelebten Vergangenheit, die Stadt gewechselt. Marco war zurück zu seinen Eltern nach Köln gezogen und wohnte dort zurückgezogen, im gleichen Wohnhaus, eine Etage über ihnen.
Kapitel 3
Es war schon spät, viel zu spät. Noch zweimal hatte das Telefon geschellt, Marco war nicht dran gegangen. Er fühlte sich nicht in der Lage jetzt noch zum Schwimmbad zu fahren. Die plötzliche Erkenntnis, Sandra, seine erste große Liebe, aus den Tiefen seiner längst vergessenen Vergangenheit hervorgeholt zu haben, hatte ihn vollständig gelähmt. Er sah sie genau vor sich, die ganze gemeinsam verbrachte Zeit entfaltete sich vor seinem geistigen Auge. Tausend Erinnerungen suchten sich den Weg nach vorne, wollten noch einmal durchlebt werden. Es war wie früher, als wäre sie niemals fort gegangen.
Bewegungslos saß Marco immer noch in seinem Sessel. Sein Gesicht war Tränen verschmiert und neben ihm stand eine mittlerweile kalt gewordene Tasse schwarzer Kaffee. Marco hatte noch nicht einmal daran genippt, beim Anheben der Tasse hätte er sowieso die Hälfte verschüttet. Eine Gänsehaut überzog seinen Körper, seine Hände zitterten stark.
Gegen Nachmittag verließ Marco seine Wohnung und schlenderte ziellos durch die Kölner Innenstadt. Völlig orientierungslos und mit seinen Gedanken ganz woanders, beschäftigt und verfangen in einem anderen Leben, erblickte er auf der anderen Straßenseite ein hell erleuchtetes Schaufenster und darin eine wunderhübsche Frau. Sofort überquerte er die Strasse und blieb fassungslos vor dem Modegeschäft und dessen Schaufenster stehen. „Sandra“, rutschte es aus ihm heraus und seine rechte Hand schnellte blitzschnell hervor. Nur durch die dicke Scheibe des Schaufensters wurde er am Zupacken gehindert. Ein kurzer Schmerz durchzuckte seinen Handrücken, eine ältere Dame, wahrscheinlich die Verkäuferin, blickte etwas verstört und auch ein wenig ängstlich von innen nach außen. Sie gestikulierte etwas in seine Richtung, Marco stierte immer noch völlig gebannt auf die Schaufensterpuppe. Genauso hat sie ausgesehen, dass ist sie, ging es ihm durch den Kopf. Ihre langen braunen Haare, ihre feminine Figur und auch ihr Gesicht, es bestand kein Zweifel. Marco hatte sie wieder gefunden, Sandra, nur durch eine Scheibe getrennt, sah er jetzt ganz klar vor sich stehen. Sie gehörte zu ihm, unmöglich konnte er sie hier zurück lassen.
Marco öffnete die Tür des kleinen Modegeschäftes, eine schrill bimmelnde Glocke verriet ihn beim Eintreten. Sofort kam die Verkäuferin auf ihn zu, etwas verlegen aber auch irgendwie ein wenig zu ängstlich, wie Marco befand, fragte sie ihn:
„Kann ich ihnen helfen?“
„Ja, eventuell, ja das können sie. Ich möchte diese Puppe kaufen, so wie sie im Schaufenster steht. Was kostet sie? Wie lange steht sie schon hier?“
„Ähm, die ist leider nicht zu verkaufen. Tut mir leid, aber sie muss hier bleiben.“
„Hören sie, ich möchte jetzt nicht lange drum herum reden. Sagen sie mir einen Preis, ich bin sehr eilig. Ich werde bezahlen, was sie wünschen, nur sagen sie mir einen Preis. Hier ist meine EC-Karte, bitte nehmen sie.“
„Warum möchten sie denn die Puppe kaufen? Was wollen sie denn damit?“
„Das ist meine Sache, verstehen sie? Also, bitte nennen sie mir den Preis. Alles hat seinen Preis, auch diese Puppe hier“, insistierte Marco und merkte, wie er die Verkäuferin immer mehr einschüchterte.
„Gut, sagen wir 500, keinen Cent weniger“
Etwas erstaunt über die doch unerwartete, dafür aber schnelle und präzise Antwort der Verkäuferin, hielt Marco ihr nochmals seine Karte hin und sagte: „Geht klar. Bitte, buchen sie es ab.“
Keine zehn Minuten später war er schon wieder auf dem Heimweg. Mit der Schaufensterpuppe unter dem Arm, vorbei an komisch dreinblickenden Menschen, ging Marco eiligen Schrittes nach Hause. Die ganze Zeit ging ihm immer nur eines durch den Kopf. Jetzt war er nicht mehr allein, sie war wieder da. Seine erste große Liebe, befreit und hervorgekramt aus den Fängen einer längst vergessenen Vergangenheit und einer trostlosen Gegenwart, war sie zu ihm zurückgekehrt…
Kapitel 4
In den folgenden Tagen fühlte Marco sich völlig losgelöst, frei von irgendwelchen Zwängen und war mit sich und seiner Umwelt, sofern er die überhaupt noch wahrnahm, sehr zufrieden. Er war jetzt nicht mehr allein. Sandra saß in seinem Wohnzimmersessel, während er ununterbrochen auf sie einredete. Marco ging jetzt schon seit einer Woche nicht mehr seiner Arbeit nach, er hatte seinem Arbeitgeber, dem Schwimmbad, auch keine Krankmeldung oder irgendeine Art Erklärung zukommen lassen. Ein paar mal hatte sein Telefon noch geläutet. Marco hatte sich stets geweigert den Hörer abzunehmen um irgendwem, irgendeine Erklärung abzugeben. Ihm war es egal, was die bei der Arbeit über ihn dachten. Ihm war es egal, was überhaupt jemand von ihm dachte. Es zählte nur das Hier und Jetzt, die Rückkehr seiner Verlobten und sonst nichts…
Marco wühlte tief in seinen Erinnerungen, besprach mit Sandra ihre gemeinsame Vergangenheit und durchlebte die schon längst verloren geglaubten Jahre noch einmal. Dabei bemerkte er, wie beschissen, wie unglaublich elend er sich die letzten Jahre gefühlt haben musste. Er war die ganze Zeit allein gewesen, ohne irgendeine Freundin, ohne einen richtigen Freund, einfach nur allein. Die einzige Abwechslung die er in den letzten Jahren hatte, war der tägliche Gang zum Schwimmbad. Aber an den Abenden und den langen Wochenenden hatte er niemanden zum Reden, niemanden mit dem er hätte etwas unternehmen können. Ihm fehlte ein Freund, eine Freundin, ja, ihm fehlte auch jemand fürs Bett. Jetzt war alles anders, Sandra war zurück, sie hörte ihm zu und er merkte, wie ihm das die ganze Zeit über gefehlt hatte. Auch über Sex sprach er mit ihr, Marco war sehr verunsichert, traute sich kaum, sich vor ihr auszuziehen. Er hatte Angst davor, sie könne ihn auslachen, er könne eventuell etwas falsch machen oder ihr einfach nur wehtun. Sandra saß in ihrem Sessel, immer noch trug sie ihren beigefarbenen Pullunder mit der weißen Bluse und den dunklen Rock dazu.
Marco hatte sich noch nicht getraut, sie zu berühren, sie umzuziehen.
Der Briefkasten quoll über, schon vor Marcos Wohnungstür stapelten sich die Wochenzeitschriften und sein Telefon läutete fast ununterbrochen. Marco fühlte sich zunehmend überfordert, er schottete sich immer mehr von seiner Außenwelt ab. Allmählich gingen ihm gar die Gesprächsthemen mit Sandra aus. Er merkte, wie er sich im Kreis bewegte, wie er sich wiederholte und zunehmend auf eine Antwort ihrerseits wartete…
„So kann es nicht weitergehen. Wir sind zu jung, um einfach nur hier rum zu sitzen. Wir müssen wieder gemeinsam etwas erleben, so wie früher. Gemeinsam lachen, ausgehen und Spaß haben. Was meinst du?, fragte er Sandra zum wiederholten Mal. Immer in der Hoffnung, irgendeine Antwort aus ihr herauszuholen.
Es dauerte noch ein paar Tage, da fasste Marco einen Entschluss…
Kapitel 5
Gegen Abend, kurz nach 18 Uhr, verließ Marco zusammen mit Sandra seine Wohnung. Erst jetzt merkte er, wie sehr ihm die frische Luft in der letzten Zeit gefehlt hatte. Marco hatte bestimmt schon seit zehn Tagen seine Wohnung nicht mehr verlassen. Sandra war fest unter seinem Arm geklemmt, er setzte sie auf seinen Beifahrersitz, jedoch ohne den Sicherheitsgurt um sie herum zu legen.
Marco startete den Motor und wendete seinen Wagen aus der für seine Verhältnisse – er konnte nicht gut ein oder ausparken – viel zu kleinen Parklücke.
Aus dem Stand schnellte der Zeiger des Tachos in nur ein paar Sekunden von Null auf mindestens 80 Sachen…Marco bewegte den Wagen wie in Trance und trat das Gaspedal voll durch. Die Ampel zeigte gelb, das Licht wurde immer dunkler und Marco trat weiterhin voll drauf. Lang kam es ihm vor, nach einer Ewigkeit wechselte die Farbe in ein tief dunkles Rot über. Es war zu spät zum Bremsen, sein Wagen flog wie ein Raumschiff in der Schwerelosigkeit auf die mit Rot gekennzeichnete Kreuzung zu.
Das Lenkrad fest mit beiden Händen umklammert, das Bein voll durchgestreckt und einem lauten Schrei von sich gebend, zielte Marco mit bestimmt 100 km/h wie ein abgeschossener Pfeil völlig gerade und absolut verboten über die rote Linie und knallte mit einem von rechts kommenden „SUV“ zusammen. Sein Wagen wurde dabei nach links abgedrängt, der große und völlig übertriebene Kuhfängerbügel seines auf Geländereifen und wahrscheinlich für die Nashornjagd ausgelegten Unfallgegners, spießte den alten Kadett förmlich auf seine Hörner. Marco verlor jegliche Kontrolle, ehe er gestärkt durch die enorme Fliehkraft sich allein auf einen grünen Abhang zu bewegte. Marco merkte noch, wie er eine grüne Wiese nur Zentimeter an sich vorbei huschen sah und ein in Augenhöhe kleiner Terrier plötzlich wie von einer Tarantel gestochen seitlich seines heran nahenden Autos zur Seite sprang. Alles lief ab, wie in einem schlechten Film. Völlig geräuschlos bewegte sich sein Wagen in eine für ihn unbekannte Richtung, bis hin zu einem dumpfen Knall, dann war alles schwarz.
Es muss eine Ewigkeit gedauert haben, Marco merkte nur, wie ihm völlig fremde Menschen aus einem auf den Kopf liegenden Auto verhelfen wollten. Um ihn herum waren mindestens an die zwanzig Helfer, so kam es ihm jedenfalls vor. Alle rüttelten wild durcheinander am Wagen, oder brüllten einfach etwas durch die zerbrochene Scheibe. Marco wusste sich nicht zu helfen, er sah nur zu seiner Rechten eine in tausend Teile zersprungene Puppe und fing fürchterlich an zu lachen…
Als Marco eine Woche später aus dem Krankenhaus entlassen wurde, kaufte er einen großen Blumenstrauß und eine Zugfahrkarte zweiter Klasse nach Hamburg. Er fühlte sich gut, bereit für einen Trip in seine Vergangenheit und war auf dem Weg zu Sandras Grab.
ENDE
Texte: © Mark R.
Kurzgeschichten - Mitten aus dem Leben
Einmalige Ausgabe 2008
Tag der Veröffentlichung: 30.09.2008
Alle Rechte vorbehalten