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Kapitel 1

Musik hallte durch die Räume. Jane konnte sich kaum bewegen, so eng standen die jungen Leute beisammen. Mit lauten Stimmen versuchten sie die Musik zu übertö-nen. Jane war auf der Suche nach ihrer Freundin Rachel, die nebenbei auch Gastgeberin dieser Party war.
Jane mochte große Gruppen von Menschen nicht so ger-ne und mied sie, so gut es ihr möglich war. Als sie von ihrer besten Freundin zu der Einweihungsparty eingeladen wurde, hatte sie aber einfach nicht Nein sagen können. Und jetzt ließ sie sich noch nicht einmal blicken. Vor einer Stunde, hatten sich Jane und Rachel unterhalten und die Gäste begrüßt, die selbst jetzt noch in Scharen durch die Tür stürmten.
Jane schüttelte die Sorge ab, die sich in ihr breit machte. Es waren sicher über fünfzig Menschen in der Wohnung. Sicher hatte Rachel sich einer Gruppe angeschlossen, oder wollte ein paar Minuten mit ihrem Freund alleine sein.
„Hey, Jane. Allein unterwegs?“, vernahm sie eine, ihr sehr bekannte Stimme von der Seite. „Chris“, erkannte sie den dunkelhäutigen Jungen, der sich auf sie zubewegte. Chris war fast zwei Köpfe größer als sie, hatte dunkelbraune Augen und schwarze Haare, die er mit etwas Gel zu einer wilden Mähne gebändigt hatte. Er und Rachel waren seit nun mehr zwei Jahren ein Paar. Jane mochte ihn. Er war ein wenig verwegen, hatte aber die Vernunft in sich und zog ihre Freundin sehr oft auf den Boden der Tatsachen zurück.
„Ist Rachel nicht bei dir? Ich suche sie schon die ganze Zeit und kann sie einfach nicht finden.“ Die Wohnung gehörte mit ihren 100 Quadratmetern nicht zu einem Ort, an dem man sich sehr lange Zeit vor Blicken verstecken konnte. So musste auch Rachel früher oder später auftau-chen. „Sie ist vorhin auf ihr Zimmer gegangen. Wollte sich frisch machen, oder so“, zuckte Chris mit seinen Schul-tern. „Du kennst sie doch. Wenn Rachel sich nicht dreimal am Tag umziehen kann, wird sie zur Furie.“
Ein Lächeln huscht über Janes Lippen, die sich mit einem Kopfschütteln von Chris verabschiedete und den Flur nach unten ging. So, wie sie Rachel kannte, konnte sie sich bestimmt nicht für ein Outfit entscheiden. Die Tür zu Ra-chels Zimmer war geschlossen und Jane klopfte dreimal gegen das Holz und wartete. Vergeblich. Sie klopfte noch einmal.
„Ray? Bist du da drin?“ Wieder bekam sie keine Antwort. Jane drückte die Klinke nach unten und drückte langsam die Tür auf. Sollte ihre Freundin halbnackt im Zimmer stehen, wollte sie auf gar keinen Fall, dass jemand einen Blick auf sie werfen konnte. „Du bist aber keine gute Gastgeberin. Du siehst doch in allem hübsch aus.“ Sobald Jane ins Zimmer getreten war, schloss sie auch sofort die Tür. Aber auch hier konnte sie ihre Freundin nicht sehen.
Allerdings gab es sichtbare Anzeichen, dass Rachel vor kurzem hier gewesen sein musste. Eine Tür des hölzernen Kleiderschranks, stand offen und einige Kleidungsstücke lagen auf dem Boden davor verstreut.
Als sich Jane auf die Knie begab, um einige der Klamotten aufzuheben, fiel ihr ein Fuß auf, der hinter dem Bett her-vorlugte. „Ray?“ Jane hörte, wie ihre Stimme zu zittern begann und ihr Herz so schnell schlug als hätte sie gerade einen Marathon hinter sich gebracht. Langsam und äußert vorsichtig schritt sie um das Bett herum. Mit jedem Schritt begann ihr Herz noch schneller zu schlagen.
Noch einmal flüsterte Jane den Namen ihrer Freundin, bevor sie den Blick auf die andere Seite des Bettes wagte. Janes Atem blieb ihr im Halse stecken und gleichzeitig konnte sie spüren, wie der Wunsch nach einem lauten Schrei ihre Kehle nach oben glitt. Sie presste ihre Hände auf den Mund um den Schrei zu ersticken. Zeitgleich tau-melte sie nach hinten, bis ihr Rücken gegen die Zimmer-wand knallte. Rachel lag vor ihr, Arme und Beine an den Körper gezogen, und starrte mit leeren, weit aufgerissenen Augen an die Decke. Vor ihrem Mund war milchiger Schaum und ihr Hals wies blutige Kratzer auf.
Mit aller Kraft, die sie aufbringen konnte, presste sich Jane an die Wand in ihrem Rücken. Durch ihre Hände, die sie immer noch auf den Mund gepresst hatte, kam ihr Schrei erstickt über die Lippen. Langsam und an der Wand ent-lang schleichend, näherte sich Jane der Tür und öffnete sie. Ganz vorsichtig, als ob Rachel nur schlafen würde, und nicht tot auf dem Boden lag, verließ die Jugendliche den Raum.
„Chris?“ rief sie panisch über die Köpfe der Menge hin-weg. Noch während Jane nach dem Freund ihrer Freun-din, ihrer toten Freundin, suchte, überlegte sie angestrengt, was sie ihm eigentlich sagen sollte. Noch nie musste Jane jemandem die Nachricht überbringen, dass eine Person tot war. Davon abgesehen, hatte sie selbst noch nie einen Toten gesehen.
Noch einmal rief Jane Chris‘ Namen, als sie ihn draußen auf dem kleinen Balkon fand, wo er gerade den letzten Zug an seiner Zigarette nahm.
„Wie siehst du denn aus? Hast du einen Geist gesehen?“ Mit einem amüsiertem Gesichtsausdruck drückte er sich vom Geländer ab, drückte die Zigarette im Aschenbecher aus und kam auf sie zu.
„Rachel. Sie… sie…“ stotterte Jane und hatte Angst, dass ihre Stimme vollkommen versagte. Anscheinend erkannte Chris an ihrem Gesichtsausdruck, dass etwas Schreckli-ches passiert sein musste. Beide stürzten durch die kleinen Grüppchen, bis sie wieder in Rachels Zimmer standen. Im Augenwinkel konnte Jane sehen, wie Chris auf seine Freundin stürzte und sie an den Schultern packte. Erfolg-los rüttelte er an ihrem leblosen Körper.
„Was ist passiert?! Jane, was ist passiert?!“ Innerhalb nur weniger Sekunden war er wieder auf den Beinen und Jane spürte seine großen Hände auf ihren schmalen Schultern. „Keine Ahnung! Sie lag da, als ich nach ihr sehen wollte!“, schrie sie ihm panisch entgegen. Sein fester Griff drückte sie ein wenig nach unten. Jane versuchte sich aus diesem zu befreien, indem sie ihren Oberkörper hin und her warf. „Gott, Chris. Sie ist tot. Rachel ist tot. Wir müssen etwas tun!“ Auch in seinen Augen erkannte Jane die Angst und die Panik, die auch sie in sich aufkeimen spürte.
Alle, die sich vorhin noch in der Wohnung befunden hat-ten, standen nun zusammengepfercht auf dem Gehweg vor dem mehrstöckigen Wohnungskomplex. Mitten in der Innenstadt, zog diese Masse an Menschen natürlich viel Aufmerksamkeit auf sich. Durch das Blaulicht und der Polizisten, die den Partygästen mit den üblichen Fragen bombardierte, wurden es noch mehr Schaulustige.
So mussten auch Jane und Chris sich diesen Fragen stel-len. „Wann habt ihr die Tote das letzte Mal lebend gese-hen?“, wurden beide von dem fülligem Polizisten gefragt. Sein Kopf zeigte bereits lichte Stellen und auch sein Bart wirkte viel mehr wild wuchernd, als organisiert und or-dentlich.
Jane war die Erste, die auf die Frage des Polizisten antwor-tete. „Bei mir war es gegen 19 Uhr. Als die Party eröffnet wurde. Danach hat sie, wie sie mir erzählte, sich erst einmal in die Menge schmeißen wollen.“ Das war jetzt vier Stun-den her und vor einer knappen Stunde hatte sie die Leiche ihrer besten Freundin gefunden. Chris erzählte dem Poli-zisten, dass er Rachel das letzte Mal um kurz nach acht oder halb neun gesehen und mit ihr gesprochen hatte.
Murmelnd nickte der Polizist, während er alles in sein No-tizbuch kritzelte. „Hatte sie Feinde?“ Chris und Jane schüt-telten die Köpfe. „Probleme in der Schule, in der Familie?“ Erneutes Kopfschütteln von Beiden.
Rachel hatte weder Feinde, noch Probleme in der Familie oder der Schule. Sie war aufgeweckt, verrückt und kam mit allen sehr gut zurecht.
Die Menge löste sich langsam auf und auch Jane und Chris wurden nach Hause geschickt. Auf Weiteres mussten sie warten bis der Obduktionsbericht auf dem Tisch lag. Nachdem sie beide ihre Daten hinterlassen hatten, verlie-ßen auch sie die Stelle vor Rachels Haus.
Den ganzen Weg über konnte weder Jane noch Chris etwas sagen. Für Beide war es komplett unwirklich. Ihre Freundin war tot. Vor wenige Stunden noch hatten sie zusammen herumgealbert, gelacht und sich für die Party fertig gemacht. Hatten Händchen miteinander gehalten, sich geküsst und gekuschelt. Und jetzt war sie tot. Der Anblick hatte sich Jane tief ins Gehirn gebrannt. Sie hatte genau vor Augen wie Rachel auf dem Boden gelegen hatte. Die weit aufgerissenen Augen, die Kratzspuren am Hals und der Schaum vor ihren rot geschminkten Lippen. Es war einfach grauenvoll gewesen.
„Warum gerade sie?“, stellte Jane die Frage, die auch in Chris‘ Kopf umher schwirrte. Warum sie? Warum er? Eine Frage die sich wohl jeder stellte, dem jemand auf so schreckliche Art und Weise genommen wurde. Niemand hatte es verdient ungewollt von dieser Welt zu gehen.
Chris hatte Jane bis zur Haustür gebracht und ihr angebo-ten noch mit nach oben zu kommen und ihr Gesellschaft zu leisten. „Ich melde mich morgen bei dir. Aber jetzt möchte ich einfach nur alleine sein“, erwiderte sie leise.
Jane konnte zwar auch den Aufzug nehmen, aber jetzt hielt sie es für besser die fünf Stockwerke zu ihrer kleinen Wohnung zu laufen. Mit jeder Stufe, die sie nahm, wurden ihre Beine schwerer. Sobald ihre Tür geschlossen und sie in der Wohnung allein war, gaben ihre Beine nach und alles fiel von ihr ab.
Alle Erinnerungen der letzten Stunden stiegen in ihr auf und die Tränen flossen ununterbrochen ihre Wangen hin-unter. Jane schrie, weinte, schluchzte und zitterte. Von einer Sekunde auf die andere wurde ihr die beste Freundin genommen. Die Person, mit der sie die meiste Zeit ihres Lebens verbracht hatte.
Rachel und Jane hatten sich in der dritten Klasse der Grundschule kennen gelernt. Das war jetzt fast fünfzehn Jahre her und sie erinnerte sich, als wäre es gestern gewe-sen. Sie erinnerte sich gerne an den Tag zurück, als die Klasse am ersten Tag zusammengeführt wurde und Rachel sich prompt neben sie gesetzt hatte. Sie war erst vor kur-zem mit ihrer Mutter in die Stadt gezogen und hatte an-scheinend beschlossen mit Jane Freundschaft zu schlie-ßen.
Zu ihren Tränen bildete sich ein kleines Lächeln, als sie sich an die vergangenen Zeiten erinnerte. Bis ihr Handy sie unsanft aus ihren Gedanken riss. Jane nahm den Anruf an und hielt sich stumm das Handy ans Ohr. „Jane. Ich bin’s, Chris. Du musst sofort deinen Facebook Account che-cken. Ich habe dir einen Link geschickt, dass musst du dir sofort ansehen.“ Chris klang aufgebracht. Seine Stimme überschlug sich beinahe. Es musste sich um etwas wirklich Wichtiges handeln.

„Es gibt noch mehr solcher Vorfälle?“, murmelte Jane leise, während sie die Artikel überflog. Neben Rachel hatte es drei weitere Tote gegeben. Alle hatten sie Kratzspuren am Hals und Schaum vor den Lippen aufgewiesen. „Ein Massenselbstmord“, flüsterte Jane leise in die Sprechmu-schel, nachdem sie den Kommentar gelesen hatte, der am meisten geliked wurde. Der Verfasser hatte geschrieben, dass es sich um einen Massenselbstmord,  wie damals 1978 in Jonestown, Südamerika, handeln musste.
Rachel hätte sich niemals das Leben genommen, da waren sich beide einig. „Ich weiß, dass es blöd klingt, aber wir sollten uns Rachels Laptop ansehen.“, hörte sie ihn. „Nur um sicher zu gehen, natürlich“, fügte Chris sofort hinzu.
Jane war hin und her gerissen. Einerseits konnte sie seine Aussage gut nachvollziehen, andererseits wollte sie ihn anschreien und fragen, was er sich dabei dachte, so etwas in Erwägung zu ziehen. „Ok“, war trotzdem alles, was Jane über die Lippen brachte. „Ich muss jetzt schlafen.“ Verab-schiedete sie sich leise von Chris und legte auf.
Sie sollte wirklich schlafen gehen, sollte die Augen schlie-ßen und alles vergessen, was heute passiert war. Und viel-leicht entpuppte sich Alles als ein ganz böser Alptraum. Vielleicht klingelte morgen früh ihr Handy und das Erste was sie vernahm war Rachels Stimme, die ihr erzählte, was für eine tolle und verrückte Party das gewesen war.

Es hatte die halbe Nacht gedauert, bis Jane endlich einge-schlafen war. Diese schlaflose Nacht stand ihr demnach am nächsten Morgen ins Gesicht geschrieben. Viel Hun-ger verspürte sie nicht, weswegen sich der Körper mit einer Tasse Kakao zufrieden geben musste.
Im Hintergrund lief das Radio, wo sich gerade die Nach-richten ankündigten. Mit mäßigem Interesse lauschte Jane den alltäglichen Problemen in der Politik und Weltwirt-schaft. Erst als der Sprecher mit seiner sonoren Stimme das nächste Thema ankündigte, wurde sie hellhörig.
„Gestern wurde ein weiteres Opfer gefunden. Wie bei den Anderen ist die Todesursache noch unbekannt. Die Polizei geht  auch hier von Selbstmord aus, da es bei keinem der Fälle eine Fremdeinwirkung gegeben hat. Bei dem letztem Opfer handelt es sich um ein …“ Mitten im Satz des Spre-chers schaltete Jane das Radio aus. Rachel hatte sich nicht umgebracht. Die beiden anderen vielleicht, aber nicht Ra-chel. Nicht ihre beste Freundin!
Während sie in die Schuhe schlüpfte, fasste sie einen Ent-schluss. Wenn die Polizei schon nicht rausfinden wollte, was passiert war, dann musste sie eben selbst ermitteln. Und Chris musste ihr helfen. Anstatt den Weg zu ihrer Arbeit einzuschlagen, machte sie sich auf zu Rachels Freund. Er musste ihr dabei helfen. Gemeinsam würden sie bestimmt rausfinden, was passiert war. Nicht nur Ra-chel, sondern auch den Anderen. Sie selbst kannte, bis auf Rachel, keins der Opfer. Doch das bedeutete nicht, dass Rachel keinen von ihnen gekannt hatte. Und vielleicht entdeckten sie einige Gemeinsamkeiten.
„Jane? Musst du nicht arbeiten?“ Verwirrt hatte Chris ihr die Tür geöffnet. „Glaubst du wirklich, dass ich jetzt zur Arbeit gehen kann?“ Jane hatte ihre Hände in die Hüfte gestemmt und stand ungeduldig vor seiner Haustür. Ihr linker Fuß tippte rhythmisch auf den Asphalt. Zögernd ließ Chris Jane ins Innere. Mit einem Glas Cola in der Hand, saß sie neben Chris auf der Couch. Automatisch hatten sie so viel Platz zwischen sich gelassen, dass eine dritte, eine bestimmte, Person zwischen ihnen gepasst hätte.
Jane begriff erneut, dass es niemals wieder so werden soll-te. Niemals würde sich Rachel zwischen sie werfen, erst Jane knuddeln und dann Chris einen langen und liebevol-len Kuss auf die Lippen zu hauchen.
Sie lehnte sich gegen Chris‘ Brust und krallte ihre Finger in den Stoff, der sich um seine Schultern legte. Ganz vage konnte Jane auch seine Tränen auf ihrem Kopf spüren.
Eine Weile saßen sie still beieinander, spendeten sich ge-genseitig Trost, bis Jane sich sanft, aber bestimmt, wieder von ihm drückte. Seufzend fuhr sie sich mit der Hand durch die dunkelbraunen Haare, die sie seit kurzem im Pixicut trug. „Wir müssen herausfinden, was passiert ist“, sprach Jane den eigentlichen Grund aus, warum sie bei Chris aufgetaucht war. „Rachel hat sich nicht umgebracht. Ihr muss etwas passiert sein.“ Nichts anderes durften sie akzeptieren. Und wenn man von den Umständen ausging, dann musste der Mörder einer von den Partygästen sein.
Sie hörte, wie Chris ein Lachen unterdrückte. „Wir können nicht einfach Ermittler spielen und so tun als verstünden wir etwas vom Fachgebiet der Polizei. Du bist nicht die Einzige, die sich wünscht das alles wäre nicht passiert, aber Rachel ist tot.“
„Und du glaubst, dass sie Selbstmord begangen hat?“
„Nein das tue ich nicht!“
„Glaubst du die Polizei hat gute Arbeit geleistet“
„Nein!“
„Und es ist ok, dass der Fall so schnell zu den Akten kommt?“
Schweigend sieht Chris sie an, schüttelte dann langsam seinen Kopf. Sie sah seinen Zweifel. Sah dass er selbst nicht an Selbstmord glaubte und schon gar nicht der Poli-zei vertraute. Doch sie sah auch sein Zögern. Sollten es zwei junge Erwachsene wirklich schaffen auf eigene Faust so einen Fall zu lösen?
„Und was schwebt dir vor?“ Immer noch war sich Chris nicht sicher, wohin das Ganze führen sollte doch für ihn selbst stand fest, dass Rachels Tod aufgeklärt werden musste. „Zuerst sehen wir uns Rachels Laptop an. Wenn es wirklich Gemeinsamkeiten zwischen ihr und den Ande-ren gab, dann sollten wir das schnell raus finden. Vielleicht waren sie bei Facebook in derselben Gruppe oder hatten denselben Youtuber abonniert. Irgendetwas.“ Jane konnte sehen, wie es hinter seiner Stirn arbeitete. Nur langsam schien ihm bewusst zu werden, dass ihm nicht vieles übrig blieb.
Ohne ein weiteres Wort zu sagen, stand er auf und holte den Schlüssel zu Rachels Wohnung. „Glaubst du denn wir kommen einfach so in ihre Wohnung?“ Diese Frage war durchaus berechtigt, aber sie mussten es einfach versu-chen.
Der Weg zu Rachels Wohnung viel ihnen mit jedem Schritt schwerer. Beide wollten sie am liebsten sofort umkehren und einfach damit abschließen. Doch Jane wusste genau, dass sie nie wieder ruhig schlafen könnte, wenn sie einfach so die Augen davor verschloss.
Mit Leichtigkeit kamen sie in den Hausflur und stiegen die Stufen hoch. Weiter, als bis zur Wohnungstür kamen sie nicht, denn diese war mit einem gelb-schwarzem Band in der Form eines Kreuzes beklebt.
Jane ignorierte das Kribbeln in ihren Fingern und den Drang das Band einfach vom Holz zu reißen und einzutre-ten. Als ahnte Chris ihre Gedanken, zog er sie sanft aber bestimmt von der Tür weg in Richtung Treppe. So schnell wollte Jane nicht aufgeben. Sie musste etwas tun, etwas rausfinden. Doch gegen Regeln verstoßen wollte sie nicht, wenn es nicht unbedingt sein musste.
„Dann müssen wir eben woanders beginnen“ sagte sie mehr zu sich selbst, als das sie mit Chris gesprochen hatte. Sie griff nach ihrem Handy und wollte sich eigentlich bei Facebook einloggen, doch die App für die Nachrichten zog sehr schnell ihre Aufmerksamkeit auf sich.
„In Hamburg“, begann sie leise und blieb auf der Stelle stehen „haben sie eine weitere Leiche gefunden. Einen alten Mann, um die 55. Auch bei ihm wurden diese Kratz-spuren entdeckt und der Schaum.“ Rachel kannte keinen alten Mann aus Hamburg, da war sich Jane sicher und auch Chris konnte sich so etwas nicht vorstellen.
Jane drehte ihren Kopf zu Chris und sah ihn mit starken und gleichzeitig trauernden Augen an. „Wir müssen etwas tun.“

Kapitel 2

 Nachdem sich ihre Wege an Ort und Stelle getrennt hat-ten, setzte sich Chris zu Hause an den Computer und suchte nach weiteren Vorfällen dieser Art. Nach weniger als einer Stunde hatte er mehrere Fälle gefunden. Nicht nur in Deutschland, sondern auch in Amerika, Schottland und Südafrika tauchten solche Opfer auf.
Immer weniger glaubte er an die Worte der Polizei, dass es sich dabei um einen Massenselbstmord handelte. Denn sollte das wirklich der Fall gewesen sein, dann musste ir-gendwo eine Sekte über alledem stehen und das hätte die Presse mit Sicherheit schon lange herausgefunden. Nach zwei weiteren Stunden hatte er einige Hinweise aus ver-schiedenen Seiten und Foren in einen Ringblock geschrie-ben.
Chris tippte eine schnelle Nachricht an Jane, wo er ihr mitteilte, dass sie heute Abend noch vorbeikommen sollte. Er fragte sich, ob sie bereits etwas raus gefunden hatte, was ihnen weiter helfen konnte.
Jane hatte ihm in ihrer Antwort mitgeteilt, dass sie sich mit Rachels Freunden unterhalten wollte, um vielleicht etwas gesagt zu bekommen, was Rachel ihnen gegenüber nicht erwähnt hatte. Chris‘ Faust ballte sich zusammen und er blies langsam die Luft aus seinen Lungen. Er musste stark sein. Wenigstens für Jane, wenn nicht für sich selbst.
Er mochte Jane und hatte sie über die Jahre als Freundin richtig lieb gewonnen. Sie war Rachel eine wunderbare Freundin gewesen und sie hatten auch zu dritt viel mitei-nander unternommen. Er war der Letzte gewesen, derjeni-ge, der das Trio vervollständigt hatte. Und niemals hatte er geglaubt, dass er sich in eines der Mädchen verlieben wür-de. Bevor er Rachel seine Gefühle gestanden hatte, hatte er zuerst mit Jane gesprochen. Die Angst, ihre Freundschaft zu zerstören war einfach zu präsent gewesen.
Zu seinem Glück hatte Jane sogar dafür gesorgt, dass er in Ruhe mit Rachel hatte sprechen können und dafür war er ihr heute noch unglaublich dankbar. Und nun saß er vor seinem Computer, hatte die Notizen vor sich aufgeschla-gen und suchte nach Hinweisen, was Rachel und all den anderen angetan wurde.
Janes Antwort war schnell gekommen und sie würde morgen Abend zu ihm kommen. Bis dahin wollte Chris noch mehr raus finden.

„Es kann kein Selbstmord sein.“ Janes Stimme klang ab-solut von ihren Worten überzeugt. Sie hatte sich gerade Chris‘ Notizen durchgelesen. Der Block lag offen auf ih-rem Schoß.
Chris hatte rausgefunden, dass in anderen Ländern der Welt ebenfalls Fälle bekannt waren. Dort kursierten einige verschiedenen Meinungen. Von Selbstmord, über die Re-gierung bis hin zu Aliens war wirklich alles vertreten. Das Wort Regierung hatte Chris mehrfach unterstrichen und ‚Unnatürliche Auslese‘ dahinter geschrieben.
„Was meinst du damit?“ wollte Jane von ihm wissen und tippte mit ihrem rechten Zeigefinger auf die Worte. Ohne zu sehen auf welches sie genau ihren Finger drückte, wuss-te Chris direkt was sie wissen wollte.
„In einem Forum wurde die Regierung in den Topf ge-worfen. Dass sie gegen die Überbevölkerung angehen will und einige Getränke vergiftet, oder Speisen oder Kleidung. Und die Person, die so eine Sache isst, trinkt oder trägt …“ Chris ließ den Rest des Satzes unausgesprochen. Er musste auch nicht weiter sprechen, denn Jane erkannte was er damit sagen wollte.
Die Frage, warum sich die Polizei nicht schon längst einge-schaltet hatte, erübrigte sich. Wenn die Regierung handelte dann wurde rein gar nichts hinterfragt. Von allen Theorien war diese am sinnvollsten. Der Rest war noch viel absur-der. „Und wie sollen wir vorgehen?“ Sie hatten keine Ah-nung von Giften, geschweige denn wie man diese in den verschiedenen Stoffen entdecken konnte. Abgesehen da-von, hatte er noch nicht einmal die Mittel dazu. Jemand, der das erledigen konnte, war ihm auch nicht bekannt.
Chris fuhr sich mit beiden Händen übers Gesicht. Es war als hätten sie endlich einen neuen Abschnitt auf ihrem Weg gefunden und jetzt tat sich eine riesige, meterhohe Mauer aus Eisen vor ihnen auf.
„Wir könnten zum Beispiel Getränke kaufen und Blumen damit tränken“ ertönte Janes Stimme, doch es schien, als wäre sie selbst nicht ziemlich von diesem Vorschlag über-zeugt. Doch es war mehr als sie hatten und so blieb ihnen vorerst nicht viel übrig. „Gut. Dann lass uns am besten jetzt direkt los.“ Während er sprach, stand Chris auf und Jane folgte seinem Beispiel.

Chris trug einen Kasten mit gemischten Flaschen nach oben. Sie waren in fünf Supermärkten gewesen und hatten dort fünf Flaschen gekauft. Jane trug zwei Tüten mit je-weils fünf kleinen Topfpflanzen. Sie hatten zuerst überlegt, für jede Flasche eine Pflanze zu kaufen, sich aber dann dafür entschieden sie aufzuteilen.
Jede Pflanze würden sie also mit zwei bis drei Flaschen gießen. Eine großartige Idee war es immer noch nicht, doch sie mussten es einfach versuchen.
Während Chris die Tür zu seiner Wohnung öffnete, hörte er Schritte nach oben kommen. Er drehte sich um und erblickte seine Nachbarin, die leise vor sich hin summte und sogar ein wenig tänzelte. Sie lächelte ihm freundlich zu, bevor sie in ihre Wohnung verschwand.
Chris und Jane hatten alles auf dem Küchentisch aufge-baut. Vor wenigen Minuten war sie nach Hause gegangen, würde morgen früh aber direkt wieder kommen. Sie hatten nur eine Woche Zeit alles raus zu finden, dann musste er wieder arbeiten. Auch Jane konnte nicht ewig von der Arbeit weg bleiben.
Für heute war es auch in seinen Augen genug. Er brauchte dringend Ruhe. Ein Bad tat ihm sicher auch gut. Immer wieder musste er an seine Nachbarin denken. Sie war ihm nie wie jemand vorgekommen, der so locker drauf war. Es war ihm fast schon suspekt vorgekommen, sie so leicht-füßig zu sehen.

Mitten in der Nacht wurde Chris durch lautes Klopfen an seine Tür und dem permanenten Schrillen seiner Klingel geweckt.
„Ja, ja“, murmelte er genervt und stieg aus dem Bett. Durch das kleine Guckloch sah er zwei Männer in Uni-form. Sofort öffnete er die Tür. „Wie kann ich Ihnen hel-fen?“ Inständig hoffte er, dass Jane nichts passiert war.
„Guten Abend. Entschuldigen Sie die Störung“, sprach ihn der linke Polizist an. Dieser war fast einen Kopf grö-ßer als Chris, afrikanischer Herkunft und trug eine Glatze. Rechts neben ihm stand ein weiterer Polizist. Ungefähr so groß wie Chris selbst, blonde kurze Haare und etwas rundlicher um die Hüfte.
„Es geht um Ihre Nachbarin, Frau Rabe. Wann haben Sie sie zum letzten Mal gesehen?“ fragte ihn der schwarze Polizist. Überrascht riss Chris die Augen auf. „Frau Rabe?“ Seine Stimme klang leise. Es war gerade mal ein paar Stun-den her, dass er sie gegrüßt hatte, bevor sie in die Woh-nung verschwunden war. „So gegen halb sieben, sieben“, fügte er noch leise hinzu.
„War sie in Begleitung?“
Chris schüttelte den Kopf.
„Wissen Sie, ob später jemand zu ihr kam, oder ob sie  vielleicht sogar bereits erwartet wurde?“ Erneut schüttelte Chris den Kopf. „Was ist denn passiert?“ Frau Rabe hatte so glücklich gewirkt vorhin, hatte sogar vor sich hin ge-summt und getänzelt. Chris spürte, wie sich seine Hand fester um die Klinke legte.
„Frau Rabe wurde tot in ihrer Wohnung aufgefunden“ erklärte der Dickere mit ernster Stimme. Seine Stimme klang rauchig, wahrscheinlich von den ganzen Zigaretten, die er mit Sicherheit tagtäglich rauchte.
Eine Information, die natürlich unwichtig war in der jetzi-gen Situation. Chris hatte seine Nachbarin so gut wie gar nicht gekannt. Nur vom Sehen her oder sie hatten sich kurz gegrüßt. Er kannte noch nicht einmal ihren Vorna-men. Doch in einer großen Stadt und einem Mehrfamili-enhaus, wo man ein- und wieder auszog, war das Gang und Gäbe.
Er hatte den Polizisten nicht weiterhelfen können. Wieder allein in der Wohnung, setzte er sich auf die Couch und dachte über die Worte der Polizisten nach. Auch bei ihr hatten sich Spuren gefunden, wie bei Rachel und den An-deren. Schaum vor den Lippen, Kratzspuren am Hals.
Plötzlich zuckte Chris zusammen. Es fühlte sich an, als wäre ein Donnergrollen durch seinen Körper gefahren. Er hatte absolut keine Ahnung, ob er mit dieser Vermutung richtig lag, aber es war eine Spur.
Bei Rachel hatte er kurz vorher das Gleiche beobachtet. Mit schnellen Schritten überwand er die Entfernung zu seinem Computer und schaltete diesen an.
Er suchte auf Facebook nach den Opfern. Da Name und Fotos von ihnen in den Berichten gestanden hatten, hatte Chris nicht lange suchen müssen, bis er fündig wurde. Etwas schwieriger wurde es, herauszufinden, mit wem die Personen ihre letzten Stunden verbracht haben.
Die Sonne ging bereits auf, als er die letzte Nachricht ver-schickt hatte. Allen Beteiligten hatte er die gleiche, private Nachricht zukommen lassen.

Zuerst möchte ich mein  tiefstes Beileid aussprechen. Ich weiß, wie es sich anfühlt eine geliebte Person auf so eine schreckliche Art zu verlieren. Mir wurde meine Freundin genommen.
So schwer es ist auch ist, möchte ich dich eine Sache fragen.
Was hast du zuletzt beobachtet? Meine Freundin hat begon-nen zu summen und ein wenig zu tanzen? War es bei dir genauso?

Mit weit geöffneten Mund, streckte er sich gähnend auf seinem Stuhl. Seine Nacht war viel zu kurz gewesen. Es wäre sehr gut, wenn er sich noch etwas hinlegen würde. Morgen konnte er dann nach Antworten gucken.
Die Nacht war kurz und Chris fühlte sich extrem ge-schlaucht, als er aus seinem Bett stieg. Sein Kopf schmerz-te und seine Sicht war leicht verschwommen. Sein Körper hatte den Schlaf gebraucht aber nicht bekommen. Sein Kopf hatte einfach keine Ruhe gegeben. Stundenlang wa-ren ihm immer wieder die gleichen Fragen gekommen.
Warum musste Rachel sterben?
Wird ihm jemand auf seine Nachricht antworten?
Ist der Grund nicht viel zu weit her geholt?
Seinen Kaffee trank er ohne Milch und ohne Zucker. Er hatte sich vorgenommen, den Computer direkt hoch zu fahren, sobald der aufgestanden war. Jetzt saß er am Tisch und trank seinen Kaffee, ohne das der Computer im Hin-tergrund arbeitete. Er wollte in Ruhe die Tasse leeren und sich erst dann vor die Nachrichten, die man ihm hoffent-lich geschrieben hatte, setzen. Sobald er Antwort auf seine Fragen hatte, würde sich Chris bei Jane melden, um den weiteren Verlauf mit ihr zu planen.
Die Tasse war bereits zehn Minuten leer und der Compu-ter immer noch nicht hochgefahren. Ungern gab er es zu, aber er hatte Angst. Angst vor den Antworten, die er viel-leicht erhalten hatte und vor denen, die er nicht erhalten hatte.
Hart stieß er die Luft aus seinen Lungen und knallte beide Hände flach auf den Tisch. Er konnte sich nicht ewig da-vor drücken. Rachel, so wie alle anderen hatten Gerechtig-keit verdient.
Mit etwas zu viel Elan, hatte sich Chris auf den Bürostuhl fallen lassen, worauf dieser ein Stück nach hinten rollte. Kaum hatte er sich mit seiner E-Mail bei Facebook einge-loggt, wurden ihm fünfzehn neue Nachrichten angezeigt.
Verwirrt öffnete er die Erste und war sichtlich erstaunt. Man hatte ihm auf seine Frage geantwortet. Nicht nur das, er hatte anscheinend eine Lawine ins Rollen gebracht.
Chris konnte es sich nur folgendermaßen erklären. Er hatte drei Nachrichten geschrieben, und jeder von ihnen musste mindestens einen weiteren gekannt haben, der ähnliches durchgemacht hatte.
Nachdem Chris alle fünfzehn Nachrichten gelesen hatte, griff er nach seinem Handy und rief Jane an. Sie verabre-deten sich in einem kleinen Café in der Nähe von Rachels Wohnung.
Chris fand es richtig, sich außerhalb der vier Wände zu treffen, so wurden Meinungen nicht eingeengt und man konnte frei über das Geschehene nachdenken. Über die App konnte er auch unterwegs auf die Nachrichten zugrei-fen.
Langsam strich er über das Foto von Rachel, dass auf seinem Schreibtisch stand. Es zeigte sie im Sommer in Paris. Sie standen oben auf der ersten Plattform des Eifel-turms. Das Foto hatte damals ein Tourist gemacht.
Chris Brust verengte sich und er musste den Kloß runter schlucken, der sich in seinem Hals bildete. Bevor ihn die Trauer gänzlich überkam, stand er von seinem Schreibtisch auf und ging in die Küche.
Er durfte jetzt nicht Schlapp machen! Rachel hatte es ver-dient, dass ihr Tod nicht sinnlos war. Und er wollte für Jane da sein. Sie musste sich genauso verloren fühlen wie er selbst.
Alles erinnerte ihn an seine Freundin. Selbst die kleinen Dinge, wie die Anzahl der Zuckerwürfel im Kaffee oder ob die Zahnbürste sich nach links oder rechts neigte. Er vermisste ihren quirligen Charakter, ihre aufmüpfige Art und ihren Dickschädel.  

Kapitel 3

 Sie konnte Chris nirgends entdecken, als sie durch die Tür des Cafés trat. Aber sie hatten sich auch erst in zehn Mi-nuten verabredet. Sie setzte sich an einen Tisch, der etwas abseits vom Geschehen stand und bestellte sich einen Milchkaffee. Chris hatte ihr am Telefon nicht viel erzählt. Nur, dass er heraus gefunden hatte, das es einen Zusam-menhang geben könnte.
„Entschuldige, dass du warten musstest.“ Jane hob den Blick von ihrem Handy und winkte mit der andern Hand ab. Chris setzte ich ihr gegenüber und winkte die Bedie-nung an ihren Tisch und bestellte sich einen Kaffee. So-bald die Dame sich von ihrem Tisch entfernt hatte, zog er sein Handy raus. Er tippte ein wenig auf dem Display und reichte es dann an Jane rüber.
Er konnte beobachten wie sich ihre Haltung mit jeder Silbe veränderte. Ihre Augen begannen sich zu weiten, ihr Mund stand leicht offen und die Hand, mit der sie sein Handy hielt verkrampfte sich um das Gerät. Vorher noch in leicht gebeugter Haltung, setzte Jane sich nun aufrecht hin. „Das ist doch absurd“ brachte sie mit gedämpfter Stimme von sich. „Diese Menschen und Rachel sollen daran gestorben sein, weil sie getanzt haben?“
Es ausgesprochen zu hören, zeigte Chris wie dumm diese Idee eigentlich klang. Aber er hielt trotzdem daran fest. „Alle haben sie vorher zu summen und dann zu tanzen begonnen. So wie es auch Rachel getan hatte“ begann er seine Erklärung, die er sich bereit gelegt hatte. Zwischen-zeitlich hatte man ihm seinen bestellten Kaffee gebracht. „Wir waren auf einer Party, da ist es nicht ungewöhnlich, dass jemand zu summen und tanzen beginnt.“ Warf Jane mit Recht ein. Chris schüttelte, kaum merklich, seinen Kopf. Wenn er doch nur länger bei ihr geblieben wäre.
„So dumm es auch klingt, irgendwie ist das eine der lo-gischsten Möglichkeiten die ich gehört habe. Besonders wenn ich mir diese Nachrichten ansehe.“ Jane scrollte ein paar Nachrichten nach oben, bis sie anhielt und aus einer zitierte: „Ich blieb bei ihr, um zu sehen wie sie zu einer imaginären Musik tanzte. Zuerst hatte sie Spaß, doch dann sah ich die Panik in ihren Augen.“
Jane legte das Handy zur Seite und zog ihre halbvolle Tas-se Milchkaffee an sich. „Was wenn sie alle in Panik waren und Hilfe gebraucht hätten? Was wenn auch Rachel nach Hilfe gesucht hat?“ Hatte sie vielleicht sogar geschrien und sie hatten sie einfach nicht gehört? Jane schluckte die Trä-nen hinunter. Sie musste sich konzentrieren. Es war als wären sie auf dem richtigen Weg. „Hast du noch etwas entdeckt?“
„Es gab schon einmal einen solchen Ausbruch. 1518 in Strassburg. Allerdings gab es verschiedene Vermutungen, warum plötzlich Hunderte zu tanzen begonnen hatten. Zum Beispiel glaubte man, dass es an der derzeitigen Lage von Armut und Krankheiten lag. Aber auch eine Vergif-tung des Mutterkorns ist in Erwägung gezogen worden.“
Jane hatte keine Ahnung was dieses Mutterkorn sein sollte, weshalb sie im Internet danach suchte. Es stellte sich raus, dass es sich dabei um einen Pilz handelte, der Weizen be-fiel. Unter den Symptomen fand sie neben Darmkrämp-fen auch Halluzinationen, Atembeschwerden und Kreis-laufversagen. Und plötzlich war es als wäre die Lösung schon immer so einfach gewesen.
„Rachel muss sich vergiftet haben, als sie gefrühstückt hatte. Ich glaube sie hat Porridge gegessen“ überlegte Chris zwischen den Schlucken aus seiner Tasse.
Ein bedrückendes Schweigen legte sich über Jane und Chris. So viel ging den Beiden durch den Kopf. Sie konn-ten eine Obduktion veranlassen um ihrer Vermutung Kraft zu verleihen. Aber das würde sicher nicht nur Unmengen an Geld kosten, sondern auch stark an ihrer Moral nagen.
„Was sollen wir jetzt tun?“ Janes Frage war berechtigt und schnell hatten sie sich dazu entschieden die Anderen zu fragen, ob sie irgendetwas mit Weizen, Roggen oder ähnli-ches gegessen hatten.

Die Antworten sollten sie wenige Tage später erhalten. Jane war gerade von Rachels Beerdigung zurückgekehrt und schlüpfte aus den Pumps, die sie achtlos in die Ecke trat. Es kam ihr immer noch so unwirklich vor.
Die ganze Zeit redete sie sich ein, dass es ein leerer Sarg gewesen war, den man in der kleinen Kapelle aufgebahrt hatte. Ihr ganzes Make-Up war verschwommen und selbst jetzt fiel noch die ein oder andere Träne von ihrem Kinn. Es waren nicht nur ihre eigenen Tränen gewesen und die-se verdrehte Wahrheit. Es waren all die Menschen gewe-sen, denen man einen geliebten Menschen genommen hatte.
Zu sehen, wie all diese Menschen zusammenbrachen, hatte ihr mehr zugesetzt, als zu sehen wie Rachel in ihr Grab gelassen wurde.
Auf groteske Art und Weise hatte sie den Grabstein als wunderschön empfunden. Er bestand aus schwarzem Marmor auf der in goldener Schrift Rachels Namen, Ge-burtstag und Todestag eingraviert war. Von hinten schlang sich ein Flügel aus weißem Granit um den Stein, so als wolle er ihn umarmen und beschützen.
Alles fühlte sich so leer an. Jeder Einzelne musste doch merken, dass gerade ein Mensch von ihnen gegangen war. Und trotzdem ging das Leben weiter. Die Sonne würde trotzdem unter gehen und wieder auf. So würde es weiter gehen, bis der Schmerz des Verlustes einigermaßen ertrag-bar wurde.
Sie griff nach ihrem Handy und wählte Chris‘ Nummer. Sie musste es fast zehnmal klingeln lassen bevor er ab-nahm. Es kam keine Antwort, weshalb sie zuerst sprach. „Wie geht es dir?“ Eine dumme Frage, das war Jane durchaus bewusst, doch sie wusste nicht was sie sonst hätte sagen sollen.
„Ich habe Antworten bekommen“ begann Chris ohne auf ihre Frage einzugehen. Sie hörte, das Klackern seiner Tas-tatur im Hintergrund. „Sie haben nicht alle etwas mit Wei-zen gegessen. Also waren wir da wohl auch auf der fal-schen Spur.“ Er konnte seine Enttäuschung nicht verber-gen auch es seine Absicht gewesen war.
„Dann suchen wir weiter“ versuchte Jane ihn aufzumun-tern. Ihn und auch sich selbst. Sie würde keine Ruhe ha-ben, wenn sie nicht endlich wusste, was ihrer besten Freundin zugestoßen war. „Aber jetzt brauchen wir Ruhe. Es war für uns alle beschissen heute.“ Morgen konnten sie immer noch weiter ermitteln. Chris wünschte ihr eine gute Nacht und dann hörte sie auch schon wie es am anderen Ende der Leitung klickte und dann das Piepen ertönte.
Ihr Körper fühlte sich schwer an. Es war als wäre sie in-nerhalb weniger Stunden um zehn Jahre gealtert. Sie muss-te sich stärken. In der Küche warf sie einen Blick in den Kühlschrank und holte einen Joghurt raus.
Hatte sie nicht Bulgur gegessen? Soweit es Jane bekannt war, war es eine Art des Weizens und wenn es wirklich Weizen gewesen war, der diese Symptome hervorgerufen hatte, dann müsste sie diese doch auch verspüren.
Allerdings wusste sie nicht, wie so ein Mutterkorn in die Nahrung kam. Doch es kam auch hinzu, dass nicht alle Opfer Weizen oder ähnliches zu sich genommen hat.
Morgen würden sie sich weiter darüber informieren und besprechen, wie es weiter gehen sollte. Doch jetzt brauch-ten sie beide Ruhe. Jane schmiss den leeren Joghurtbecher in den Mülleimer und schälte sich aus dem schwarzen Kleid.
Die heiße Dusche tat ihr und ihrem Körper gut. Das Was-ser lockerte ihre Muskeln und sie entspannte sich ein we-nig. Von der Dusche aus schlüpfte sie, handtuchtrocken, in ein T-Shirt und eine Boxershort, um sich danach fürs Bett fertig machen zu können.
Plötzlich spürte Jane eine Leichtigkeit in ihren Beinen und es war als hörte sie eine Melodie im Kopf. Anscheinend ein Ohrwurm eines längst vergangenen Liedes.
Es begann mit einem leisen Summen und einem auf und ab wippen im Takt mit dem rechten Fuß. Ihre Hüfte wieg-te sich zum gesummten Song.
Und dann begann sie zu tanzen.  

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Tag der Veröffentlichung: 23.04.2018

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