Poch-poch, poch-poch, poch-poch…
Und plötzlich war es still. Totenstill.
Ein kaltes Grinsen legte sich auf meine Lippen, während ich zusah, wie sie ihren letzten Atemzug tat. Wie schön sie doch gewesen war und mit Sicherheit wäre sie es jetzt noch, wäre sie nicht gerade diese Straße entlang spaziert.
Warum mussten gerade die schönsten Menschen die falschen Entscheidungen treffen? Ich wusste es nicht und ich wollte es auch nicht wissen. Sie war jetzt nun mal tot und nicht mehr so hübsch wie vor zehn Minuten.
Ich ließ meine Finger über den Hals gleiten, aus dem immer noch ein wenig Blut floss. Das Drahtseil steckte immer noch in ihrem zarten Hals und langsam zog ich es aus der frischen Wunde. Das glitschige Geräusch, welches dabei zustande kam, hinterließ eine wohltuende Gänsehaut auf meiner Haut. Speiseröhre, Luftröhre, Halsschlagader, Schilddrüse. Oder war es doch der Kehlkopf? Egal. Das Drahtseil war nun draußen und meine Finger schnappten nach einer Karte, welche in meiner Jackentasche schon lange auf ihren Einsatz gewartet hatte.
Ich warf einen letzten Blick auf die Lady, strich ihr zärtlich eine Haarsträhne aus dem Gesicht. Dann versenkte ich die Karte ein Stück weit in ihren Hals und erhob mich. Ohne mich noch einmal umzudrehen, verließ ich die Bühne, meine Bühne. Das Drahtseil schmiegte sich sanft an meine Hand und ich konnte spüren, wie ihr Blut in meine Handschuhe tropfte. Und mein Grinsen wurde breiter. Mein Herzschlag schneller.
Das war mein Höhepunkt, denn nur so konnte man mich glücklich machen.
Meine Wohnung hatte ich schnell erreicht. Bevor ich diese jedoch betrat, ging ich ein paar Meter weiter und betrat auf der anderen Straßenseite eine kleine Garage, welche ich bei meinem Einzug in die Wohnung gemietet hatte. Dort legte ich weißen Mantel und Waffen ab. Nur, weil ich einen weißen Mantel trug, war ich kein Arzt, aber ich liebte diese Farbe. Sie war rein und ließ keine Fehler zu. Jede Falschheit konnte man sofort erkennen. Ich dachte schon gar nicht mehr an die drei Menschen, die mir heute begegnet waren. Einem zum ersten Mal, aber allen das letzte Mal. Nachdem ich Messer und Drahtseil gesäubert hatte, schmiss ich das Tuch in einen kleinen Schredder und ging zu meiner Wohnung.
Ich hatte bereits viele Menschen in meinem kurzen Leben getötet, aber ins Guinness Buch kam ich trotzdem nicht. Da müsste ich schon weit über 650 Menschen töten. Aber vielleicht tat ich das ja auch. Allein der Gedanke ließ mich leise lachen, während ich im Kühlschrank nach etwas Essbarem suchte. Der Gedanke war absurd und lustig in gleichem Maße.
Ich fragte mich für eine kurze Sekunde, ob die Opfer überhaupt identifiziert werden konnten. Immerhin hatte ich sie ja ein wenig verschönert. Der Dame hatte ich zum Beispiel mit einem Käsemesser die Haut vom Gesicht gezogen und das bei lebendigem Leibe. Natürlich hatte ich ihr vorher die Zunge entfernt. Wäre doch zu schade, wenn uns jemand gestört hätte.
Ich bekam schon ein wenig Hunger auf Käse, wenn ich weiter darüber nachdachte. Doch an dem Messer klebte noch Blut und das war dann doch etwas unhygienisch. Ich war ja nicht Vlad III. und trank das Blut meiner Opfer. Obwohl so ein Wald der Gepfählten sicherlich schon amüsant wäre.
Ich entschied mich dann schlussendlich für eine Pizza und während diese im Ofen backte, ging ich mich umziehen.
Ich suchte mir dann eine bequeme Jeans und einen Pullover aus meinem Schrank. Meine Haare band ich mit einem Gummi zu einem leichten Pferdeschwanz. Ich wollte ja nicht, dass diese mich nachher beim Essen störten.
Kurz bevor die Pizza fertig war, ging ich noch einmal zu der Garage. Dort schmiss ich den Mantel in die Waschmaschine und kehrte zurück. Den weißen Mantel hatte ich zuvor in einer Seifenlauge mit Wasser einweichen lassen. Dann machte ich es mir auf dem Sofa bequem.
In den Spätnachrichten war ich mal wieder das Hauptthema. Es war für mich so eine Art ‚Den Tag Revue passieren zu lassen‘. Nur das es Andere taten und nicht ich selbst.
Die Nachtigall hat erneut zugeschlagen. Zwei Menschen mussten ihr Leben lassen für diese perversen Spiele, ertönte es aus den Lautsprechern des Fernsehers.
Natürlich konnte keines der Opfer beim Namen genannt werden. Wie denn auch, wenn bei allen drei das Gesicht und die Fingerabdrücke fehlten? Ich war immerhin nicht gerade blöd, denn so einfach konnte man mich nicht stellen.
Das am Ende der Ausstrahlung eine Eilmeldung über die dritte Leiche kam, überraschte mich nicht.
Es gab einen Soll, den ich zu erfüllen hatte, und erst dann würde ich mich den netten Spielchen der Polizei widmen. Aber bis dahin mussten alle weiterhin im Dunkeln tappen.
Es war eine traumlose Nacht. Erst die Sonnenstrahlen, welche durch das geschlossene Fenster fielen, weckten mich. Nicht gerade sanft, wenn man bedachte, dass sie direkt in mein Gesicht trafen, doch ich musste so oder so aufstehen. Ich sammelte meine Sachen ein, die ich gestern schon angehabt hatte, und wanderte nackt ins Badezimmer. Dort stellte ich mich unter die Dusche, um erst einmal richtig wach zu werden. Eine halbe Stunde stand ich unter dem warmen Wasserstahl, ehe ich mich abtrocknete und anzog.
Dann waren meine Haare an der Reihe.
Ich liebte meine weißen Haare und würde jeden töten, der ihnen zu nahe kam. Ich ließ sie seit sieben Jahren wachsen und mittlerweile gingen sie mir bis zum Steißbein. Mein Erkennungsmerkmal waren sicherlich die geflochtenen Haarsträhnen, eine links und zwei rechts.
Meine Haare hatten immerhin sehr viel Pflege verdient.
Sauber und zufrieden holte ich mir Cerealien und Milch aus Schrank und Kühlschrank. Da ich bereits gestern bemerkt hatte, dass kaum etwas Vernünftiges zu essen in diesen vier Wänden zu finden war, kam ich um einen Einkauf nicht mehr herum. Also schrieb ich, während ich frühstückte, alles, was ich brauchte auf einen kleinen Zettel.
Zwischen Obst, Brot und Milch schrieb ich auch noch Bleichmittel auf. Immerhin wollte ich ja, dass mein Mantel weiterhin weiß blieb.
Meine Wohnung war praktisch geschnitten und reichte für mich vollkommen. Es gab eine kleine Küche, ein Bad, Wohnzimmer und ein Schlafzimmer. Die Farbe Weiß dominierte in allen Bereichen und wurde mit einem farblichen Akzent besser zum Vorschein gebracht. In der Küche war dies zum Beispiel ein Tannengrün. Schnell hatte ich die leere Müslischüssel in die Spülmaschine gestellt und warf mir eine Jeansjacke über. Bis ich bei der Arbeit anfangen musste, hatte ich noch ein wenig Zeit. Also schnappte ich mir meinen Zettel, sowie das Portemonnaie und verließ die Wohnung.
Der Supermarkt war nur zwei Straßen weiter, deshalb konnte ich auch bequem zu Fuß hingehen.
Es dauerte auch keine halbe Stunde, schon hatte ich alles eingekauft, was ich brauchte und war mit den Tüten wieder in meinen vier Wänden zurückgekehrt. Das Bleichmittel, welches für meinen Mantel war, brachte ich in meine Garage. Dort schaute ich direkt nach, ob der Mantel, den ich gestern Abend noch auf gehangen hatte, bereits trocken war.
Weder der Mantel noch das Drahtseil hatten je Kontakt mit meiner Wohnung. So vermied ich jede Spur – sollte sie noch so klein sein.
Gerade hatte ich die Tür zur Garage geschlossen – ein Tor gab es zwar auch, aber das war mir zu umständlich – und mich ein paar Meter davon entfernt, als mich plötzlich jemand von der rechten Seite anrempelte. Langsam drehte ich meinen Kopf in dessen Richtung und erwartete, wie jeder andere es wohl auch getan hätte, eine Entschuldigung seinerseits. Doch, was ich stattdessen zu hören bekam, waren wüste Beschimpfungen.
„Ey, pass doch auf, Alter!“, brüllte er mir entgegen und ich konnte seine Alkoholfahne förmlich schmecken. Ich hasste Alkohol und allein der Geruch war für mich ein Grund denjenigen zu ermorden. Und dieser hier legte es förmlich darauf an.
Und als würde er es sich wünschen, den morgigen Tag nicht mehr zu erleben, schrie er weiter vor sich hin. „Hast du keine Augen im Kopf?! Pass auf, wo du hinläufst, elender Homo! Beim nächsten Mal mach ich dich kalt!“ Er schrie zwar noch weiter, doch ich hatte mich bereits von der Bühne entfernt und schloss die Tür zu meiner Wohnung auf.
Während der Betrunkene seinen Gefühlen freien Lauf gelassen hatte, hatte ich mir dessen Geldbörse aus seiner Tasche genommen. Immerhin musste ich ja wissen, wo mein nächster Hauptdarsteller lebte. Doch es würde noch etwas dauern, bis es zum großen Showdown kommen würde.
Da ich auch irgendwie an Geld kommen musste, hatte ich vor drei Jahren angefangen beim »Butterfly« zu arbeiten. Das »Butterfly« war ein sogenannter Club für feine Damen. Doch um unser Angebot zu erweitern, empfingen wir nun auch männliche Kunden, was mir nicht gerade gefiel. Um ein passendes Ambiente mit einem noblen Touch zu erzielen, wurde an Kosten nicht gespart und auch wir, die Männer, passten unser Auftreten an. Blütenweiße Hemden unter einem dunklen Anzug. Die ersten Knöpfe des Hemdes ließen wir dabei offen, denn schließlich wollten wir den Kunden auch etwas bieten.
Diesen Beruf konnte man allerdings nur als Nebenberuf bezeichnen. In 2 Jahren würde ich mein Medizinstudium und ich war gerade dabei meine Doktorarbeit zu schreiben und mich in den großen Krankenhäusern der Umgebung zu bewerben. Doch gerade dabei musste ich auf der Hut sein. Denn sollte ich eine Zusage bekommen, würde das auch eine Gefahr für mich darstellen.
Mit einer großen Wahrscheinlichkeit gäbe es Opfer von Überfällen, Anschlägen, versuchten Morden.
Nach meinem Dienstantritt blieb ich nicht lange alleine. Schon eine halbe Stunde, nachdem ich angefangen hatte, setzte sich plötzlich jemand neben mich. „Na du? Wir haben uns aber lange nicht mehr gesehen.“, begrüßte er mich. Die Stimme kam mir durchaus bekannt vor und genau das war es, was mir absolut nicht gefiel. Warum musste gerade Er kommen? Warum niemand anders, den ich nicht kannte? Den ich danach irgendwann ermorden konnte? „Ja…“, murrte ich auf. „Und ich habe diese Ruhe sehr genossen.“
Aber es gab da doch etwas, was mich brennend interessierte und ich wusste genau, dass ich das bei Jack dem Polizisten in Erfahrung bringen konnte.
„Wie geht es dir denn?“ fragte ich, obwohl mich das nicht gerade sonderlich interessierte. Doch es gehörte nun mal zum guten Ton.
„Ach es geht. Könnte wirklich besser sein.“ Kam es von Jack, welcher sich eine braune Haarsträhne aus dem Gesicht strich.
„Hat deine niedergeschlagene Laune mit den Ermittlungen zu tun? Wie läuft es eigentlich damit? Habt ihr bereits etwas, was euch weiter helfen kann?“ fragte ich Jack und ignorierte die Hand, welche sich auf mein Oberschenkel gelegt hatte. Ich wusste zwar, was nun kommen würde, aber genauso gut wusste ich, wie ich Jack dazu bringen konnte, dass er mit der Sprache rausrückte. Zwar missfiel mir das Ganze etwas, doch ich wollte an Informationen kommen.
„Tut mir Leid, meine kleine Feder, aber du weißt, dass ich keine Informationen nach außen tragen darf. Das gilt auch bei dir.“ erwiderte er mit treudoofem Blick. Nur leicht neigte ich meinen Kopf zur Seite, so dass die linke Strähne von meiner Schulter rutschte.
„Da kannst du noch so schauen. Ich darf nichts sagen. Alles,
was ich sagen darf ist, dass der Mörder noch nicht gefasst wurde.“, seufzte Jack leise auf und sah mich entschuldigend an.
Doch es war nicht das, was ich hören wollte, denn diese Informationen konnte ich auch jeder Zeitung entnehmen.
Aber ich wollte mehr. Wollte wissen, wie weit sie mit ihren Ermittlungen waren.
„Ach, komm schon.“, säuselte ich leise in sein Ohr. Und strich mit dem Zeigefinger den Oberschenkel des Officers entlang. „Du kannst für mich doch eine Ausnahme machen, oder nicht? Wir kennen uns schon so lange. Ich verrate auch nichts, versprochen.“, versuchte ich Jack weiter, um den Finger zu wickeln.
„Das sind vertrauliche Informationen einer laufenden Ermittlung und ich bin nicht befugt, dich darüber zu informieren, meine kleine Feder.“, hielt Jack weiter stand. Auch ich wurde langsam etwas ungeduldig, denn ich wollte nicht weiter als nötig gehen. Meine Grenzen hatte ich mit Jack schon oft genug überschritten und ich versuchte ein erneutes Aufeinandertreffen von uns gänzlich zu vermeiden.
Ein geseufztes Ausatmen war zu hören und ich wusste, dass ich ihn fast soweit hatte. „Hör mal… es ist wirklich stressig gerade und wir kommen mit den Ermittlungen nicht so schnell voran, wie wir es gerne hätten.“
Touch Down!
„Wir sind noch nicht sehr weit gekommen. Wir nehmen auf jeden Fall an, dass es sich um einen Mann zwischen 20 und 30 Jahren handelt. Und ebenso, dass er medizinische Kenntnisse besitzt.“, erklärte mir Jack ruhig und nahm einen Schluck seines Kaffees, den er sich zuvor bestellt hatte. "Auch vermuten manche, dass die Nachtigall ein Fan von Jack the Ripper ist, allerdings glaube ich nicht, dass uns das weiter bringen wird.“
„Ein Fan von Jack the Ripper? Weil auch er den Opfern die Kehle durchschneidet?“ fragte ich und tat äußerst überrascht.
Ich kannte Jack the Ripper, aber wer tat das nicht? Allerdings würde ich mich nicht als Fan von ihm bezeichnen. Ich wollte einfach nur nicht, dass meine Protagonisten die Stille mit ihren schrillen Schreien zerstörten.
„Ja genau. Intern bezeichnen wir ihn auch als 'Den Sohn des Rippers'. Auf was für Ideen manche Leute kommen.“, lachte der Polizist leise auf. Man sah ihm wirklich an, dass ihn die ganze Sache ziemlich mitnahm. Und hätte ich sowas wie ein Gewissen, so hätte ich jetzt sicher Mitleid mit ihm gehabt.
Plötzlich zuckte der Mann neben mir zusammen und fuhr vor Schreck von der Couch. „Tut mir Leid, meine kleine Feder, aber ich hab schon zu viel gesagt. Aber ich muss jetzt auch los. Die Pflicht ruft.“, entschuldigte er sich und sah mich aus den rehbraunen Augen an. „Ich hoffe doch, dass wir uns beim nächsten Mal über ein erfreulicheres Thema unterhalten können.“
Er wartete wohl noch darauf, dass ich mit meinem Nicken zeigte, dass ich ihn verstanden hatte. Dann war er auch schon Richtung Ausgang verschwunden.
Ich hatte eigentlich nie feste Arbeitszeiten. Ich kam, wann es mir beliebte und ging, wenn ich wollte. Und da ich ja jetzt hatte, was ich wollte, konnte ich auch gehen.
Mein Weg führte direkt nach Hause, wo ich das Portemonnaie hervorholte, welches ich dem pöbelnden Idioten am Tag entwendet hatte. Er konnte sich glücklich schätzen, denn er würde bald schon in die Geschichte eingehen.
Mittlerweile war es doch ziemlich spät am Nachmittag und langsam war es an der Zeit, die Bühne erneut zu betreten. Drei Tage waren es mittlerweile her, dass ich mich genauestens über meinen Hauptdarsteller informiert hatte.
Ich wusste, wo er wohnte und auch, wo und wie lange er arbeitete. Und heute war der Abend, an dem mein Darsteller, welcher auch unter dem Namen David Angle bekannt war, seinen finalen Auftritt haben würde. Und welche Bühne konnte dafür besser geeignet sein, als das eigene Wohnzimmer?
Doch jetzt war noch nicht der richtige Zeitpunkt. Bis zum Abend hatte ich mich noch gedulden müssen, da Mr. Angle seinem Beruf als Bauarbeiter nachging. Sie bauten gerade ein Kinderkrankenhaus… War das nicht niedlich? Wie viele von denen, die sie vor einer grausamen Krankheit retten würden, würden bald wohl zu Killern werden?
Die Zeit bis zum Abend verbrachte ich nicht anders als jeder andere normale Mensch auch. Ich schaute etwas fern, ging im Park spazieren, aß in einem Restaurant mein Mittagessen. Und am späten Nachmittag kehrte ich in meine Wohnung zurück.
So wie alle anderen auch, brauchte auch ich, die Nachtigall, meine freien Tage.
Doch genug dazu. Jetzt galt es langsam die Show vorzubereiten. Mein erster Gang ging deswegen über die Straße zu meiner Garage, die ich kurz nach meinem Einzug in das Eckhaus gemietet hatte. Es war ein Haus, wie man es in vielen Serien und Filmen sah, dort, wo sich der Weg gabelte. Die Fassade war in Weiß gehalten, während grüner Efeu nach oben kletterte.
Die Straße war nicht viel besucht, da sie eher im hinteren Teil der Stadt lag, doch genau das war das Gute. Wer vermutete schon einen Massenmörder in einer gemütlichen, kleinen Seitenstraße.
Wer bitte ging davon aus, dass der Nachbar jemand war, der einen jeden Moment durch das Himmelstor schicken konnte?
Sicherlich hätte ich auch eine Wohnung im Zentrum der Stadt nehmen können, da ich mich dort besser vor der Polizei hätte verstecken können. Doch diese ländliche Gegend fand ich viel passender.
Denn das Schönste hier waren die Nachbarn. Hier kannte jeder jeden. Und man wollte fast immer wissen, was der Mann, mit dem man Tür an Tür lebte, in seiner Freizeit so trieb. Was würde wohl die Lehrerin gegenüber denken, wenn sie erfuhr, dass ich ein gesuchter Mörder war. Wie reagierte wohl die Kassiererin nebenan, wenn man ihr sagte, dass ich bereits mit 12 Jahren das erste Mal getötet hatte?
Und was würde der Rechtsanwalt sagen, würde ich ihm erzählen, dass ich es war, der seine Tochter letztes Jahr getötet hatte?
Und noch heute suchte der arme Mann nach dem Monster, das ihm seine liebste Tochter genommen hatte.
Die Straße überquert, öffnete ich das große und massive Tor und trat ein. Zwar hatte ich auch ein Auto, um den Schein zu bewahren, doch nutzte ich dieses so gut wie nie. Zudem konnte ich von hier alles sehr gut auch zu Fuß erreichen. Ich nahm meinen weißen Mantel und das Drahtseil zur Hand. Hier konnte ich alles finden, was die Nachtigall brauchte.
Meine weißen Haare band ich zu einem lockeren Pferdeschwanz. Schließlich wollte ich nicht, dass meine Haare in Kontakt mit Blut kamen und dadurch wertlos wurden. Jeder noch so kleine Fremdkörper wurde nicht geduldet.
Das Einzige, was locker über meine Schultern fiel, waren meine drei Strähnen.
Bevor ich das Drahtseil zur Hand nahm und den Mantel anzog, nahm ich eine meiner vielen Visitenkarten aus einer Schatulle. Diese stand auf einem kleinen runden Tisch, welcher in der Ecke des Raumes stand.
Wenn ich den Mantel und das Drahtseil nicht benutzte, hingen beide Sachen in einem kleinen Geheimschrank hinter der Holzfassade, wo die ganzen Werkzeuge befestigt waren.
Durch das Auto war zwar nicht mehr sehr viel Platz in der Garage, aber es reichte, um alles so zu verstecken, dass man auf den ersten Blick nicht erkennen konnte, wer hier immer ein und aus ging.
Die Sonne war bereits untergegangen, als ich die Garage wieder verlassen hatte. Es dauerte immerhin auch seine Zeit, bis alles an seinem richtigen Platz war. So war das Drahtseil wie eine Peitsche an den Gürtel unter meinem Mantel gebunden.
Die Visitenkarte hatte ihren Platz in der rechten Manteltasche gefunden und in der linken war ein Messer zu finden, was ich aber nie dazu verwendete, um jemanden zu töten. Es kam dann zum Vorschein, wenn ich mich selbst verteidigen musste oder wenn der Draht die Wunden nicht tief genug geschnitten hatte, um die Karte weit genug rein zu stecken.
Mein Protagonist lebte in der Nähe des Zentrums dieser Stadt. Da ich nur ungern mit öffentlichen Verkehrsmitteln unterwegs war – ich mochte es nicht, wenn man mich angaffte, was die meisten nämlich taten, wenn sie mich sahen. Und da man zu Fuß nur eine halbe Stunde brauchte, gab es auch keinen Grund die Bahn oder den Bus zu nehmen.
Die Einkaufsstraße war noch sehr belebt und das, obwohl die meisten Geschäfte schon geschlossen hatten. Sicher fiel ich hier auf, wie ein bunter Hund. Nein… eher wie ein weißer Hund, allerdings sahen die meisten Menschen nur das, was sie sehen wollten. Somit hätte ich auch offen mit dem Messer in der einen und dem Drahtseil in der anderen Hand durch die Straßen ziehen können. Aber so verrückt war ich dann doch nicht, denn ich wollte noch viele Menschen hinter den Vorhang der großen Bühne bringen.
Nach einem Spaziergang von ungefähr 30 Minuten hatte ich mein Ziel schließlich erreicht und ließ meinen Blick nach oben schweifen. Nicht, weil ich wissen wollte, ob noch irgendwo Licht brannte, sondern um für einen Moment den Mond zu beobachten. Wenn es auch ein sehr kurzer Moment war. Mit dem Gedanken daran, dass es Vollmond war und gleichzeitig dem Wissen, dass dies sowieso total unwichtig war, betrat ich schließlich die erste Stufe. Nach drei weiteren kam ich an der Haustür des kleinen Miethauses an, wo ich dann die Klingel ertönen ließ.
Lange dauerte es nicht und David Angle öffnete mir. Unwissend, dass er heute den Höhepunkt meines Tages erleben sollte.
Kurz sah ich nach unten und konnte nicht verhindern, dass ich eine Augenbraue nach oben zog. Schnell aber hatte ich mich gefasst und sah den Mann wieder an.
„Kann ich helfen?“ ertönte die Stimme, die mich noch vor wenigen Tagen bedroht und angepöbelt hatte. Man merkte schnell, dass der andere nicht gerade erfreut über meinen Besuch war.
Aber wer war das denn schon? Der einzige, der mich sicherlich mit offenen Armen empfangen würde, wäre Satan höchstpersönlich.
„Nein…aber ich kann dir helfen.“, antwortete ich mit einem Grinsen auf dessen Frage und trat ungefragt über die Türschwelle. Mit meinem Fuß hatte ich die Tür schließlich geschlossen.
„Ich habe etwas, was dir gehört und will dafür entlohnt werden. Das verstehst du doch sicherlich.“, sprach ich weiter, ohne auf das Meckern und Murren von David einzugehen. Ruhig griff ich in meine Hosentasche und ließ dabei das Drahtseil kurzzeitig hervor blitzen.
Der Blick allein ließ mich auflachen.
„Shit! Du…du…Fuck..das kann nicht sein..“, stammelte David und wich ein paar Schritte zurück. Niemand wusste, wie ich aussah, wie ich hieß oder wie alt ich war. Doch alle wussten sie, dass meine Waffe ein Drahtseil war. Und welcher gescheite und friedliche Mann lief schon mit einem dünnen Drahtseil durch die Stadt?
„Ja. Kann schon möglich sein. Darf ich mich vorstellen? Die Nachtigall. Mörder, Foltermeister, Henker.“, antwortete ich mit einem dreckigem Grinsen. Schnell hatte ich David eingeholt, welcher mit dem Rücken an der Wand lehnte. Zitternd wohl bemerkt.
Ruhig hob ich die Brieftasche des Mannes und wedelte mit dieser vor seine Nase herum. „Die gehört doch dir, oder? Da mache ich den weiten Weg hier her und dann bekomme ich noch nicht mal ein Danke?“, gespielt seufzte ich auf.
„E-es…es tut mir Leid und D-danke..echt..c-cool für die-die Mühe.“ Angles Stimme zitterte wirklich heftig. Hätte ich ein Gewissen, dann würde mir der Andere fast schon Leid tun.
Langsam schüttelte ich meinen Kopf. „Aber nicht doch. Dafür ist es nun zu spät. Deine Chance hast du bereits vertan.“, flüsterte ich leise, während ich begann, meine weißen Samthandschuhe anzuziehen.
Mit schnellen Handgriffen hatte ich seinen Arm gepackt und ihn mit meiner Hand, über Davids Kopf, an die Wand gepinnt.
Noch bevor jener etwas dagegen tun konnte, rammte ich ihm auch schon das Messer durch die Innenfläche seiner Hand.
Ein Schrei glitt über seine Lippen. Und das war es, was ich so liebte. Der erste Schrei war immer der Schönste. So voller Schmerz und Angst. Aber nicht immer konnte ich in den Genuss dieses wundervollen Tones kommen.
Jede Bühne gab immerhin ein anderes Drehbuch vor.
„Tja.. womit fang ich denn nur an…“, überlegte ich. Ich suchte nach geeigneten Mitteln für meine Aufführung. Dabei bekam ich natürlich mit wie David versuchte sich das Messer aus der Hand zu ziehen.
„Aber nicht doch. Das wollen wir doch wirklich nicht machen. Was sollen am Ende denn die Zuschauer denken, wenn sie die Bühne nicht so vorfinden, wie sie es gewohnt sind?“, sprach ich mit ruhiger Stimme.
Fast schon zärtlich umfasste ich das Gelenk der freien Hand und zog es zu mir rüber. Danach drückte ich jeden einzelnen Finger nach hinten bis ein Knacken zu hören war. Leider wurden die Schmerzensschreie von Mal zu Mal leiser, was ich zutiefst bedauerte.
Da der Andere vorerst unschädlich gemacht wurde, konnte ich mich nun in Ruhe in dessen Küche umsehen. Ich nahm jede Schublade unter die Lupe bis ich irgendwann ein Messer fand, welches scharf genug war. „Wie ich sehe, ist es frisch geschliffen.“, rief ich aus der Küche und drehte das kleine Schälmesser in meiner Hand. Neben dem Messer hatte ich mir noch einen Messbecher, gefüllt mit Wasser, mitgenommen.
„Wie schön, wenn man mir unter die Arme greifen will.“
Schnell hatte ich David wieder erreicht, welcher immer noch da hing, wo ich ihn zurück gelassen hatte.
Sein Gesicht zeigte immer noch die Schmerzen, welche das Messer verursachte, doch wir beide wussten, dass er noch viel mehr Schmerzen haben würde.
„Nun das Problem ist, wenn du jetzt noch weiter schreist, wird man auf uns aufmerksam. Und es wäre doch zu schade, wenn das Publikum schon auftaucht, bevor die Bühne fertig bestückt ist. Findest du nicht auch?“
Um die Schreie zu verhindern, hatte ich natürlich auch etwas. Genauer gesagt hatte David etwas. Und zwar einen hochprozentigen Alkohol, welchen ich mir natürlich zur Hand nahm. „Keine Angst. Geht schnell vorbei.“, lachte ich leise und öffnete mit einem groben Handgriff den Mund von Angle.
Ohne ein weiteres Wort zu verlieren, kippte ich den Alkohol in dessen Mund und beobachtete, wie dieser jenen immer wieder nach unten schluckte, bis er zu husten begann. Erst dann ergriff ich mit meinen Händen seine Zunge und zog das Drahtseil von meinem Gürtel.
Mit einem Ende durchstach ich die Mitte der Zunge und zog den dünnen Metallfaden etwas durch das Muskelfleisch. Durch den Alkohol wurde die Wunde zwar betäubt sein, aber das war nicht der Grund, wieso ich diesen zum Einsatz gebracht hatte.
Mit schnellen Handgriffen war Davids Zunge in zwei Hälften geteilt. Ich trat ein paar Schritte zurück und beobachtete, wie das Blut an dessen Hals hinunter, über die Brust, bis hin zum Boden lief.
Zufrieden seufzte ich auf und verweilte noch einen kleinen Moment in dieser Position.
Ich durfte aber nicht zu viel Zeit vergeuden.
Ich nahm mir das trockene Tuch, was ich am Abend ebenfalls mit eingepackt hatte und umwickelte damit den Kopf des anderen. Dabei ließ ich Mund- und Augenpartie zur Vorsicht aus. Wenn ich schon seine Schreie nicht hören konnte, dann wollte ich den Schmerz wenigstens in dessen Augen sehen.
„Nun gut. Dann wollen wir es mal durchziehen. Langsam geht mir dein Gesicht nämlich auf die Nerven. Ich wäre dafür, dass wir das ganze ändern.“ Den restlichen Alkohol aus der Flasche kippte ich schließlich über das Tuch und nahm ein Feuerzeug – ein Hoch auf die Raucher – welches auf dem runden Holztisch zu meiner rechten lag.
„Dann wollen wir dir doch mal einheizen.“ Es dauerte zwar ein wenig, als das Tuch zu brennen begann. Da ich vorerst nichts mehr machen konnte, lehnte ich mich an das Sofa und beobachtete wie die Flamme den Kopf meines Hauptdarstellers umtanzte. Es war herrlich mit an zu sehen, wie sich die Pupillen vor Panik in den Augen des anderen verengten, wie er panisch seinen Kopf hin und her schmiss und versuchte das Tuch zu lösen. Sicherlich würde David nun vor Schmerzen schreien, aber die gespaltene Zunge und der Alkohol wussten dies ja sehr gut zu verhindern. Zu schade war es schon, dass ich ihn nicht hören konnte.
Langsam ergriff ich den Messbecher, kippte den Inhalt über den Kopf von Angle und zog danach mein Messer aus der Innenhandfläche seiner Hand.
„Was hast du denn? Kannst du dich etwa noch nicht einmal auf deinen Beinen halten? So schade aber auch.“, ging ich in die Hocke. Er lebte noch, so gerade. Aber bald würde es ja vorbei sein.
Ich nahm mir mein Drahtseil und brachte es in Position. „Lerne daraus.“, war das letzte, was der Bauarbeiter zu hören bekam, ehe ich das Seil bis zur Hälfte in dessen Hals versenkte.
Ich schnappte mir die Karte und sah sie mir noch einmal in Ruhe an. Sie zeigte das, woher ich meinen Namen hatte. Ein tannengrünes Tribal in der Form einer Nachtigall, welche ihre Flügel ausgebreitet hatte. Bereit zum Abflug. Und fliegen würde unser Freund jetzt auch. In den Styx.
Tief versenkte ich die Karte in die Wunde und erhob mich. Jetzt lag es an David Angle seinen letzten Atemzug zu tun, wenn er es denn nicht schon getan hatte.
Erst einmal tief durch atmen, den bitteren Speichel runterschlucken und dann weiter arbeiten. Vielleicht sollte ich mit Yoga oder so beginnen, um meine innere Mitte zu finden. Aber es war fraglich, ob es bei solchen Anblicken überhaupt möglich war, so etwas wie Ruhe zu finden.
„Das Opfer ist David Angle, 39 Jahre, Bauarbeiter“, ertönte es neben meinem Ohr. Auch ohne, dass ich die Karte gesehen hatte, konnte ich mit dem ersten Blick sagen, wer der Täter war.
„Wie kann ein Mensch nur so brutal sein. Und dann den Namen eines kleinen Vogels nutzen und diesen damit in den Schmutz ziehen?“
Auch ich wusste es nicht, aber mir war es eigentlich auch egal, warum er sich ‚Die Nachtigall‘ nannte, oder warum er gerade dieses Tier gewählt hatte. Mir waren die Gründe egal, alles was ich wollte, war das dieser perverse Spinner endlich hinter Schloss und Riegel kam. Und dafür würde ich sorgen, selbst wenn es das Letzte war, was ich tat.
Die Nachtigall hatte echt Fantasie, dass musste ich ihm lassen. Ihn als ‚Sohn des Rippers‘ zu bezeichnen sollte man doch wirklich mal überdenken. Es schien als würde er viele verschiedene Arten der Folter zu nutzen. So als suche er selbst noch nach der richtigen Methode. Wie ein Kind was gerade schreiben lernte. In den 10 Jahren, in denen ich nun als Polizist arbeitete war dieser Fall der schlimmste. Und das auf verschiedenen Ebenen. Auch bei diesem Opfer hatte er gute Arbeit geleistet. Sein Gesicht war fast bis auf die Knochen verbrannt. Die Haut hing in Fetzen von den Muskeln und ließ hier und da einen Einblick auf das rosafarbene Gewebe zu.
„Wie sieht es mit Fingerabdrücken aus?“ Ich holte mein Notizheft aus er Tasche und notierte die wenigen Informationen, die wir hatten. Aber wenn ich es mir überlegte, hatten wir noch nie so viele Informationen wie jetzt. Bisher hatte der Täter nie zugelassen, dass man das Opfer am ersten Tag identifizieren konnte. Auch hier hatte er, wie bei den Anderen auch, Portemonaie, Ausweis, Führerschein und alle Dokumente entwendet, die man normalerweise bei sich trug. Auch die Fingerkuppen waren bis auf die Muskeln entfernt worden. Dafür hatte er den Kartoffelschäler genutzt, den wir in einer der Schubladen gefunden hatten. Und er hatte sich auch gar nicht die Mühe gemacht die kleine Klinge vom Blut zu befreien. Also packten wir das Messer in einer der kleinen, durchsichtigen Beutel, schrieben eine Nummer drauf und legten es zu den anderen Beweismaterialen, die bald ihren Weg ins Labor antreten würden.
Doch ich konnte jetzt schon sagen, was uns Marie Dearing, frühstens morgen sagen würde.
„Wir haben wieder keine Fingerabdrücke gefunden. Das einzige was man sichern konnte, war eine weiße Faser…“ Marie, die mir gerade gegenüber saß hatte die Fotos der Beweisstücke zwischen uns auf dem Tisch ausgebreitet. Darunter auch eines, was einen weißen, kurzen Faden zeigte, der um das Vielfache vergrößert war, damit man ihn erkennen konnte.
„Lass mich raten? Die Faser stammt von einem weißen Handschuh, den man in gefühlt tausend Geschäften kaufen kann?“ Also waren wir im Grunde keinen einzigen Schritt weiter. Wir wussten auch so, dass die Nachtigall weiße Handschuhe trug. Doch noch nie hatten wir mehr Beweise gefunden. Noch nicht mal ein Haar hatte dieser Mann hinterlassen.
Woher wir wussten, dass es sich um einen Mann handelte? Absolut sicher waren wir nicht, aber wir gingen davon aus, da sich sowohl Frauen, als auch Männer unter seinen Opfern befanden. Und einer Frau dichtete man so eine Brutalität nun mal nicht an.
Und dann war da noch der Fall, den Vincent mir auferlegt hatte. Ich kannte ihn bereits seit 2 Jahren und wir haben eine sogenannte Hassliebe füreinander entwickelt. Vor ungefähr einer Woche hatte er mich darum gebeten jemanden für ihn zu suchen.
Und das einzige, was ich hatte war eine Spieluhr. Und die Aussage, dass er es von einem Nachbarsjungen bekommen hatte. Doch wo er als Kind lebte, hatte Vincent mir nicht sagen wollen. Das machte es nur noch schwieriger.
„Denkst du schon wieder an die Spieluhr? Dieser Fall scheint dich ja echt zu beschäftigen.“ Besorgt sah Marie zu mir rüber. Sie wusste von dem Fall, da ich ihr die Spieluhr gegeben hatte um sie auf Spuren zu untersuchen. Doch die Fingerabrücke, die wir gefunden hatten waren nicht verwertbar gewesen. Ich stand also immer noch bei null.
Entschuldigend blickte ich zu der Frau mit den schwarzen, kurzen Haaren und lächelte verlegen. „Tut mir Leid. Du hast ja recht. Dieser Fall ist viel wichtiger, also konzentriere ich mich lieber auf das Wesende.“
„Gut, dann fasse ich noch einmal zusammen“, ich griff nach den Fotos, die verschiedene Bilder aus verschiedenen Winkeln zeigte. „Auf den ersten Blick haben Opfer und Täter nichts miteinander zu tun. So wie es auch bei den vorherigen gewesen ist. Die Nachtigall sucht sich wahllos ihre Opfer. Noch nicht einmal die Opfer haben Gemeinsamkeiten, die wir verwenden könnten.“ Seufzend lehnte ich mich zurück und fuhr mir durch die Haare. Es war als drehten wir uns wieder und wieder im Kreis, so als säßen wir auf einem Karussell, was nicht anhalten wollte.
Was also brachte ihn dazu so brutal zu morden? Welchen Schalter musste man bei ihm umlegen, damit das passierte? Es war nicht so, dass wir nie einen Verdächtigen hatten. Aber bisher hatten sie entweder ein Alibi für die Morde, oder waren nur namenlose Kleinkriminelle, die ich danach nicht weiter beachten wollte. Geldstrafen, oder ein paar Stunden Gefängnis, waren das einzige, was sie erwartete.
Wir merkten beide, dass wir so einfach nicht weiter kamen. Also beließen wir es bei dem jetzigen Standpunkt, verabschiedeten uns voneinander und ich verließ die Kantine. Wenn ich schon hier nicht weiter kam, dann wollte ich zumindest versuchen im Fall ‚Spieluhr‘ weiter kommen. Ich hatte mir damals, als ich her gezogen war, eine Wohnung in der Nähe des Präsidiums gemietet. Dort hatte ich auch die Spieluhr. Sie stand auf neben der Tastatur auf meinem Schreibtisch.
Sie war in etwa Handgroß und hatte die Form eines gold-roten Karusells. 4 weiße Pferde mit goldenen Halftern und Satteln umkreisten den drehenden Standfuß. Wenn man die Spieluhr aufdrehte ertönte die Love Story von Beethoven. Allein die ersten Sekunden reichten aus, um eine Gänsehaut über meinen ganzen Körper zu schicken. Ich wusste nicht warum, aber ich hatte das Gefühl diese Melodie zu kennen. Immer wenn ich der Spieluhr zuhörte, sah ich eine verschwommene Gestalt vor mir. Schüchtern hatte sie beide Hände in meine Richtung gestreckt. Weder konnte ich das Gesicht erkennen, noch ausmachen, ob es sich dabei um einen Jungen, oder ein Mädchen handelte. Von der Größe und der Statur her gesehen handelte es sich wohl um ein Kind um die 5 Jahre. Aber ich hatte überhaupt keine Ahnung, warum mir diese Szene in den Sinn kam. Und warum gerade bei dieser Melodie? Oder lag es vielleicht daran, dass meine Mutter damals sehr gerne klassische Musik gehört hatte? Vielleicht handelte es sich hier einfach nur um ein Kind aus einem Film, oder eine Rolle, die es in diesem Stück gegeben hatte. Mit einem Piepton fuhr mein Computer hoch und mit wenigen Klicks hatte ich den Ordner geöffnet, wo ich alles sammeln wollte, was ich bisher an Beweisen gefunden hatte. Das Problem dabei war, das ich eigentlich keine hatte. ‚Spieluhr von Vincent – als Kind geschenkt bekommen – Name vergessen – Damaliger Wohnort unbekannt – Fingerabdrücke nicht verwertbar‘ stand in Schriftgröße 16 im Worddokument. Ich musste dringend an weitere Informationen kommen. Also fuhr ich den Computer runter, schnappte mir meinen Trenchcoat und verließ meine kleine Mietwohnung. Ich musste mehr Informationen über die Spieluhr bekommen und dazu musste ich Vincent weiter aushorchen. Ich musste zugeben, dass ich mich freute ihn mit meinem Besuch zu überraschen. Sein Blick, der sich wie tausend Nadeln in mich bohrte und mir das Gefühl gab, Vincent würde mich jeden Moment erwürgen, schauderte mir. Auf positive und negative Art und Weise.
„Guten Abend, ich hoffe doch ich störe nicht“, begrüßte ich Vincent, der mich mit genau dem Blick ansah, den ich erwartet hatte.
Tag der Veröffentlichung: 29.03.2017
Alle Rechte vorbehalten