Liebe auf den ersten Blick -
das geht über alle Erfahrungen hinaus.
Oscar Wilde
«Eddie, wo um alles in der Welt fährst du hin?»
«Keine Panik, wir sind gleich da», erwidert mein bester Freund und trommelt im Takt der Musik aufs Lenkrad.
«Sind wir hier nicht in irgendeinem Gewerbegebiet?», frage ich und schaue irritiert aus dem Fenster. «Hier ist doch nichts, abgesehen von irgendwelchen Hallen. Die meisten stehen sogar leer, wenn ich mich recht erinnere. Also, was machen wir an diesem Ort?»
«Keine Sorge», antwortet Evi und klopft mir von hinten beruhigend auf die Schulter. «Du kannst gleich ausgiebig tanzen und trinken.»
«Es ist ja nicht so, dass ich mich besaufen will», grummle ich und seufze schwer. «Nur endlich mal wieder richtig tanzen und Spaß haben. Die letzten Wochen waren so verdammt stressig.»
«Such dir einen anderen Job», meint Eddie und tätschelt kurz mein Bein. «Das sage ich dir schon die ganze Zeit. Diese Verwaltungsmaschinerie saugt dich komplett aus und am Ende spucken sie dich aus und lassen dich liegen.»
«So schlimm ist es auch wieder nicht», erwidere ich kopfschüttelnd. «Die meiste Zeit mag ich meinen Job, nur manchmal ... keine Ahnung ... da ist es eben besonders anstrengend.»
«Das geht uns doch allen so», bestätigt Sarah. «Na, abgesehen von Eddie, der ja seinen ganz eigenen Weg geht.» Die Mädels kichern. Ich drehe mich grinsend nach hinten.
«Im Gegensatz zu euch, unterwerfe ich mich eben nicht diesen kapitalistischen Strukturen. Ich brauche nicht viel und bin glücklicher als ihr alle drei zusammen.»
«Wir beneiden dich aufrichtig. Vor allem wegen deiner winzigen Erbschaft und dem Aktienportfolio und natürlich wegen deinem aufrechten Kampf gegen die Klassengesellschaft.»
«Ich kann euch auch einfach hier aussetzen und dann könnt ihr schauen, wie ihr von hier wegkommt», grummelt Eddie gespielt beleidigt.
«Das würdest du uns doch nicht antun!», ruft Sarah empört.
«Armer reicher Mann», sagt Evi mit leidvoller Stimme. «Du wirst immer total missverstanden. Allerdings erinnere ich dich gern, dass wir alle Handys besitzen. Ein Taxi ist schnell gerufen. Deine Strafe funktioniert nicht so richtig. Du willst ja auch eine wunderbare Partynacht mit uns nicht verpassen.»
«Wir lieben dich, Eddie», behauptet Sarah.
«So weit würde ich jetzt nicht gehen», sage ich lachend. «Aber wir ertragen durchaus hin und wieder einen Abend mit dir.»
«Du bist so ein Arsch, Morten», schimpft Eddie.
Er tippt auf dem Bordcomputer herum und nur Sekunden später schallt ein uralter Song von a-ha aus den Lautsprechern. Ich verdrehe genervt die Augen, während die Damen auf der Rückbank enthusiastisch mitsingen. Es ist kein Geheimnis, dass ich meinen Vornamen der überaus großen Liebe meiner Mutter zu dieser Band zu verdanken habe.
Sollte sich jemand fragen, wie das Leben eines Kindes mit einer Mutter ist, die niemals dem Fangirlmodus entwachsen ist, dann bin ich gern bereit, davon zu berichten. Es gibt Dutzende Kinderbilder von mir mit riesigen Kopfhörern auf Konzerten in aller Welt. In meinem Elternhaus ist ein Zimmer mit Postern und Merch vollgestopft. Als Kind habe ich das Ausmaß nicht verstanden, während der Pubertät war meine Mutter peinlich und schlimm für mich. Jetzt ist es okay und bestenfalls ein bisschen verrückt, denn ihre Leidenschaft für die Band hat sich bis heute nicht verändert. Ich bewundere meinen Vater, der ihre Obsession stoisch erträgt, mit ihr zu Konzerten fährt, Poster rahmt und höchstens die Musik leiser dreht, damit die Nachbarn sich nicht aufregen.
Vermutlich hat ihre Besessenheit dazu geführt, dass ich überhaupt keine Band und allgemein keinen Musiker oder Schauspieler hype. Gewissermaßen eine Form der Rebellion, über den sie sich gern hin und wieder empört. Man braucht doch schließlich Idole und Vorbilder ...
«Fühlst du dich jetzt besser?», frage ich Eddie sarkastisch, nachdem das Lied zu Ende ist.
«Ein bisschen», erwidert er schmunzelnd. «Wir sind ja auch schon da.»
«Wo denn?» Ich schaue mich suchend um.
An einem etwas abgelegenen mehrstöckigen Hochhaus ein paar Meter vor uns blinkt blass eine Lichtreklame. Im Schein einer Straßenlaterne erkenne ich eine Fahne, die schlapp herunterhängt, denn es ist windstill. Einige Menschen stehen auf dem Fußweg, vermutlich vor dem Eingang.
«Echt jetzt?» Ich schaue zuerst Eddie, dann die Frauen verwundert an. «Da wollen wir hin?»
In diesem Moment fährt ein LKW an dem Gebäude vorbei, der genügend Fahrtwind erzeugt, damit die Fahne sich erhebt. Ein Regenbogen ... ich bin echt verwirrt.
«Na klar», antwortet Evi mit einem breiten Grinsen. «Meine Lieblingsdragqueen legt heute auf. Sie mischt einen genialen Sound.»
«Aber das ist ein Schwulenclub», stelle ich konsterniert fest und erinnere mich, dass ich schon mal was über ihn gelesen habe.
«Es ist ein queerer Club», verbessert mich Eddie. «Ich wusste ja gar nicht, dass du solche Vorurteile hast.»
«Was denn für Vorurteile?», frage ich gereizt.
«Kommt da etwa eine kleine homophobe Ader zum Vorschein?», bohrt Eddie weiter nach.
«Quatsch, doch nicht bei Morten. Das kann ich mir gar nicht vorstellen, oder?»
«Nein», rufe ich lauter als nötig. «Ich bin nicht homophob. Es ist mir egal, wer mit wem ins Bett geht und ... und überhaupt. Ich dachte nur, dass wir ... keine Ahnung, woanders feiern.»
Um ehrlich zu sein, steigt dezente Panik in mir auf. Da ist diese Seite in mir, der ich bisher keinerlei Grund gegeben habe, zum Vorschein zu kommen. Ich interessiere mich durchaus für Männer, also theoretisch ...
Bisher habe ich lediglich ein paar Pornos angeschaut. In meiner Fantasie gab es schon Begegnungen, aber ich bin mir nicht sicher, ob ich bereit für reale Erfahrungen bin. Zudem weiß niemand davon. Nicht mal Eddie kennt diese Seite, obwohl ich vermute, dass er cool mit so einem Outing umgehen würde. Es gab nur keinen Grund, darüber zu sprechen.
«Mach dir mal nicht ins Höschen. Vertrau uns, hier können wir richtig abtanzen und Spaß haben. Was interessieren uns die anderen. Oder wolltest du jemand abschleppen?»
«Hatte ich nicht vor», knurre ich, obwohl es nicht ganz der Wahrheit entspricht.
Natürlich lag der Gedanke nah, eine Chance auf einen One Night Stand zu nutzen. Ich war seit einer Ewigkeit nicht mehr weg und hatte genauso lang keinen Sex. Über ein echtes Date will ich gar nicht erst nachdenken. Das Letzte liegt verdammt weit zurück. Ich wäre bereit für eine Freundin, für jemanden, mit dem ich eine gemeinsame Zukunft planen kann ... oder wenigstens für einen epischen Fick ... Aber die Chance ist wohl gering.
«Glaub mir, da sind auch Mädels, die sich für Schwänze interessieren», behauptet Evi.
«Sehr dezent», erwidere ich und schüttle grinsend den Kopf. «Ich freu mich, Zeit mit euch zu verbringen und hoffe nur, die Musik ist wirklich so gut, denn ich will tanzen.»
«Es gibt im Übrigen auch einen Darkroom, falls du es sehr eilig mit dem Sex hast. Könnte allerdings sein, dass du dort überwiegend Männer beim Ficken antriffst.»
«Danke für die Info», murmle ich und spüre, wie meine Wangen vor Verlegenheit heiß werden. Ich habe von solchen Möglichkeiten gehört und hätte nicht vermutet, dass ich ausgerechnet heute in die Nähe davon komme.
«Vergiss den Darkroom. Da geht heute niemand hin, denn wir werden tanzen bis wir umfallen», verspricht Sarah.
«Ich nicht», erwidert Eddie und parkt den SUV in der Lücke genau gegenüber vom Eingang des Clubs.
«Du hast doch eben noch behauptet, dass wir abtanzen und Spaß haben werden», erinnere ich ihn und schaue ihn skeptisch an.
«Ihr tanzt und ich bin für den permanenten Nachschub an Pfefferminzlikörshots zuständig.»
«Du bist doch der Fahrer», ermahnt ihn Evi.
«Aber ab jetzt nicht mehr. Für den Rückweg habe ich natürlich jemanden organisiert, der uns heil nach Hause bringt.»
«Ist nicht dein Ernst», staunt Sarah.
Ich löse den Gurt. Mich verwundert es nicht. So ist Eddie. Er hat gewissermaßen für jedes Problem eine Lösung. Das funktioniert zum einen dank der Tatsache, dass mit genügend Geld eine Menge möglich ist, aber auch weil er ein Macher ist. Dabei bleibt er irgendwie immer locker und tiefenentspannt.
Wir kennen uns schon ewig, waren zusammen im Kindergarten und in der Grundschule. Trotz des Vermögens seiner Großeltern hat er sich nur selten elitär benommen. Seine Rebellion ist sein unermüdlicher Kampf gegen kapitalistische Strukturen, obwohl er selbst ein kleines Secondhand-Geschäft führt. Sehr gechillt, versteht sich.
«Wir wollen doch Party machen. Niemand muss nüchtern bleiben. Außerdem bekommt der Typ einen Haufen Kohle von mir dafür, dass er uns bei Sonnenaufgang wieder heil nach Hause bringt.» Eddie lacht und legt einen Arm um Sarahs Schultern.
«Du bist so ein Snob», grummelt sie mit einem breiten Lächeln.
«Ja, das bin ich, aber das macht mich doch irgendwie auch liebenswert.»
«Auf keinen Fall», rufen wir drei zugleich.
Eddie schnaubt empört, während wir uns köstlich amüsieren.
Die Schlange vor dem Eingang ist kurz, sodass wir uns kaum fünf Minuten später im Inneren des Clubs befinden. Ein verhältnismäßig kleiner Raum mit Säulen, verschiedenen Podesten und Sitzgelegenheiten aus Paletten, die ringsherum an den Wänden aufgestellt sind. Nebel wabert in der Luft, ebenso wie ein dezenter Duft von Schweiß, Bier und herbem Parfüm.
Auf der Tanzfläche tummeln sich nur wenige Leute, aber es ist ja auch noch deutlich vor Mitternacht.
Der Boden klebt unter meinen Füßen, was ein bisschen eklig ist. Dafür geht mir der Song, der gerade gespielt wird, direkt in die Beine. Mein ganzer Körper vibriert vor Vorfreude, sich endlich mal wieder ausgiebig zu bewegen, aber wir steuern zuerst die Bar an.
«Dort drüben ist noch eine freie Couch», brüllt Evi enthusiastisch.
«Besetzt sie», antworte ich. «Wir bringen euch was zu trinken mit.»
Sie nickt, greift nach Sarahs Hand und zieht sie quer durch den Raum.
«Was wollen die beiden denn trinken?», fragt Eddie.
«Hast du nicht was von Pfeffishots gesagt?»
Er stimmt zu und gibt die Bestellung an den Barkeeper weiter.
«Ich hoffe, du kannst heute genügend neue Energie tanken. Du siehst echt abgekämpft aus.» Eddie mustert mich eindringlich. «Such dir einen anderen Job, wenn er dich dermaßen fertigmacht. Ich könnte noch jemanden einstellen.»
«Danke für das Angebot, aber eigentlich gefällt mir meine Arbeit», sage ich und zucke mit den Schultern.
Ich bin mir nicht sicher, ob ich eine Anstellung bei Eddie aushalten würde. In dieser Hinsicht sind wir total verschieden. Für ihn ist es ein nahezu risikoloser Spaß, um sich ein bisschen die Zeit zu vertreiben. Ich dagegen arbeite hart für meine Karriere und habe meine berufliche Zukunft absolut priorisiert.
«Ich will jetzt aber auch nicht darüber nachdenken. Ich bin echt froh, dass wir mal wieder Zeit miteinander verbringen.»
«Geht mir ebenso. Ich werde nicht zulassen, dass du dich noch mal dermaßen lange von uns absonderst und vor Stress kaum noch leben kannst. Du darfst dich nicht vor deinen Freunden verstecken.»
«Okay», erwidere ich und spüre tiefe Dankbarkeit für unsere Freundschaft.
Ich weiß, dass Eddie recht hat. In den vergangenen Wochen habe ich sie ständig abgewimmelt. Ich bin nicht mal zum Handballtraining gefahren. Mein Kopf war einfach voll. Sobald ich zu Hause war, wollte ich nur schlafen. Ich hatte keine Kraft für Freunde oder Familie. In den letzten Tagen ist es zum Glück ruhiger geworden. Vermutlich hätte ich die anderen eh nicht länger hinhalten können. Eddie hat bereits gedroht, meine Tür gewaltsam zu öffnen, wenn er mich nicht endlich wieder persönlich trifft. Deshalb freue ich mich umso mehr auf den heutigen Abend und auf das freie Wochenende.
Eddie bekommt die Shots auf einem
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Texte: Karo Stein
Bildmaterialien: 123 rf, pixabay
Cover: K. Funke via bookbrush
Lektorat: Sissi Kaipurgay
Korrektorat: Sissi Kaipurgay
Tag der Veröffentlichung: 29.10.2022
ISBN: 978-3-7554-2425-3
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