Wer den Wind nicht spürt,
den wirft der Sturm um
Axel Dorr
„Hast du das von Jasmin gehört?“
„Meinst du Brigittes Tochter?“
„Genau.“
„Studiert sie nicht in Berlin? Was ist denn mit ihr?“
„Offensichtlich nimmt sie die Sache mit dem Studium nicht besonders ernst und kümmert sich eher um andere Geschichten“, flüstert Frau Müller meiner Mutter verschwörerisch zu. Obendrein verzieht sie angewidert das Gesicht und zischt seltsam. Meine Mutter sieht sie fragend an und auch ich gehe neugierig ein paar Schritte näher. Jasmins Name weckt Erinnerungen, die ein aufregendes Kribbeln in meinem Bauch verursachen. Ich kann gar nicht glauben, dass es schon drei Wochen her ist. Es fühlt sich immer noch vollkommen unwirklich und gleichzeitig absolut fantastisch an. Jasmin und ich ...
„Was ist denn passiert?“, erkundigt sich meine Mutter und reißt mich aus meinen Gedanken. Der Abstand zwischen uns hat sich erneut vergrößert, denn die beiden Frauen schieben ihre Einkaufswagen weiter den Gang des Supermarktes entlang, während ich gedankenversunken stehen geblieben bin. Natürlich interessiert es mich auch, was passiert ist. Deshalb hole ich die beiden ein und sehe Frau Müller gespannt an. Sie ist unsere Nachbarin. Ich habe keine Ahnung, wie alt sie ist, aber es ist schon beinahe unheimlich, wie faltig ihr Gesicht wirkt. Ich kann sie mir gar nicht jung vorstellen. Die grauen Haare trägt sie immer streng zu einem Dutt zusammengefasst, dazu eine Brille mit dunklem Rahmen, hinter der ihre Augen seltsam riesig erscheinen. Als Kind hatte ich ein bisschen Angst vor ihr, denn sie hat immer furchtbar streng geguckt und jedes noch so kleine Vergehen sofort meiner Mutter gepetzt. Mittlerweile hat sich das natürlich geändert. Ich bin vermutlich zwei Köpfe größer als sie und es ist mir vollkommen egal, ob sie sich bei meiner Mutter über mich beschwert oder nicht. Die Zeiten, in denen ich mit Stefan lärmend die Treppen hochgestürmt bin, sind ebenfalls vorbei.
Die Vorstellung, dass ich irgendwann selbst so alt sein werde, ist gruselig. Vermutlich ist es besser, zu einem Zeitpunkt von der Welt zu verschwinden, an dem man noch perfekt aussieht. Das Leben richtig fett genießen und dann einen Abgang machen, bevor der Verfall einsetzt.
Klar kann ich es kaum erwarten, endlich volljährig zu sein. Keine Vorschriften, keine Kontrolle … endlich selbst die Verantwortung tragen. Leider dauert es noch ein ganzes Jahr. Mein siebzehnter Geburtstag liegt ja erst fünf Tage zurück.
Auf den bescheuerten Einkauf habe ich keine Lust. Viel lieber wäre ich zu Hause geblieben und hätte mich endlich mal ausgiebig vor die Konsole geklemmt. Drei Wochen Familienurlaub ohne Internet und Computerspiele sind wirklich mehr als nur genug. Norwegen war toll, aber jetzt bin ich wieder zu Hause und ich kann mir echt was Besseres vorstellen, als durch den Supermarkt zu laufen.
Gelangweilt ziehe ich mein Smartphone aus der Hosentasche und frage Stefan, wann wir uns heute Abend treffen.
„Du wirst es nicht glauben“, höre ich nebenbei Frau Müller theatralisch sagen und hebe den Kopf. „Die arme Frau tut mir wirklich leid. Der halbe Ort redet schon über sie. Aber ich wusste es schon immer, die Großstadt verdirbt den Charakter. Früher war Jasmin doch so ein nettes Mädchen ...“ Sie packt eine Tüte Mehl in den Wagen und seufzt, als wenn die Welt zusammenbrechen würde. Jasmin ist nicht nett, sie ist toll und sexy und ich kann es kaum erwarten, sie wieder zu sehen.
Seit ein paar Jahren hilft meine Mutter Frau Müller mit den Einkäufen und greift der alten Dame auch bei anderen Dingen unter die Arme. Sie sagt, das macht sie, weil sie sich nicht mehr so viel um mich kümmern muss und nun ein paar Ressourcen frei hätte. Dabei scheint sie doch irgendwie immer beschäftigt zu sein. Grinsend schüttle ich den Kopf und sehe nach, ob Stefan geantwortet hat. Vermutlich pennt er um diese Zeit noch.
Allmählich geht mir Frau Müller mit ihren Andeutungen auf die Nerven. Noch immer jammert sie nur über den Verfall der Jugend und dass es so etwas zu ihrer Zeit noch nicht gegeben hätte. Vermutlich gab es in der Steinzeit so einiges nicht …
Bevor wir in den Urlaub gefahren sind, war doch noch alles in Ordnung mit Jasmin. Was soll sich in drei Wochen denn schon so drastisch verändert haben, dass Frau Müller ein derart entsetztes Gesicht macht?
Jasmins Anblick bei der Abschlussparty schiebt sich in mein Gedächtnis. Sie sah so unglaublich heiß mit ihrem kurzen, hellblauen Kleid aus. Die blonden Haare haben nach Erdbeeren geduftet und waren unglaublich weich. Ich hätte sie am liebsten gar nicht mehr losgelassen. Es war so irre, dass sie ausgerechnet mich …
„Ich habe wirklich noch nichts gehört. Wie auch? Wir sind ja erst gestern nach Hause gekommen. Eigentlich gebe ich auch nichts auf den Tratsch der anderen Leute.“ Mamas Stimme klingt eindeutig genervt. Ich grinse, während Frau Müller enttäuscht grummelt. Wir biegen um die Kurve und gehen in Richtung der Tiefkühlprodukte. Ich brauche unbedingt eine kleine Auswahl an Pizza, damit ich die restlichen Wochen Ferien überstehe. Stefan wird vermutlich die meiste Zeit bei mir verbringen. Seine Konsole hat den Geist aufgegeben und Stefans Eltern wollen keine neue sponsern. Erst zu Weihnachten … was in unserem Alter vollkommen lächerlich ist. Wir sollten auf jeden Fall ein bisschen mehr einkaufen. Der Kerl ist nämlich unersättlich.
„Aber sollten nicht alle darüber informiert sein?“ Frau Müller klingt aufgebracht, ja, beinahe hysterisch. „Ich weiß gar nicht, wie man sich da richtig verhält. Ich habe in meinem Alter schon genug Krankheiten und will mich nicht noch zusätzlich mit so einer Seuche anstecken. Man hört ja so schlimme Dinge darüber. Dabei wollte Silvia doch übermorgen zum Kaffee kommen. Ob ich ihr besser absage?“ Frau Müller sieht panisch aus. Auch der Gesichtsausdruck meiner Mutter hat sich deutlich geändert. Sie scheint jedoch eher besorgt zu sein. Offensichtlich habe ich einen Teil des Gesprächs nicht mitbekommen, weil ich gedanklich über Pizza und Stefan philosophiert habe.
So wie die beiden Frauen sich ansehen, würde ich schon gern wissen, was das für ein unheimliches Gerücht ist. Einen Moment zögere ich, habe die Worte schon auf der Zunge, aber dann schweige ich doch. Frau Müller macht aus allem ein Drama. Vermutlich hätte sie sich auch über das sexy Kleid aufgeregt. Erneut versinke ich in den Bildern dieser unglaublichen Nacht. Ich kann Jasmins Lachen hören, den Klang der Bierflaschen, als wir angestoßen haben … ihre weichen Lippen, das leise Stöhnen und die blauen Augen, mit denen sie mich angesehen hat, als ich … als wir … Verdammt, ich werde hart … im Supermarkt und neben meiner Mutter … das ist wirklich kein geeigneter Ort für solche Fantasien. Trotzdem frage ich mich, was eine so tolle Frau gemacht haben kann, dass sich die Leute das Maul über sie zerreißen?
„Du hast doch so gern Besuch“, sagt Mama und zuckt mit den Schultern. „Ich glaube nicht, dass dir irgendwas passieren kann.“
„Kennst du dich denn damit aus? Man weiß doch nie, was sie alles berührt. Am Ende muss ich die ganze Wohnung putzen.“
„Das ist doch Unsinn, Bärbel. Wer weiß, was überhaupt an dem Gerücht dran ist. Nachher wird das arme Mädchen ganz falsch beschuldigt.“ Meine Mutter klingt resolut und verärgert. Normalerweise bringt sie doch so schnell nichts aus der Fassung. „Hast du schon die Pizza ausgesucht, Marvin?“, wendet sie sich an mich und verdreht genervt die Augen.
„Vielleicht hast du Recht, aber die Magda hat es mir erzählt und sie hat es von Maria gehört und Marias Tochter ist doch die Sprechstundenhilfe von Doktor Fischer und ...“
„Die darf sowas doch gar nicht herumerzählen. Das macht es doch noch unglaubwürdiger.“
„Ich weiß nicht, die Magda, die würde doch niemals Lügen verbreiten.“ Frau Müller seufzt und meine Mutter pustet sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht. Wir grinsen uns an und sie deutet erneut auf die Kühltruhen und treibt mich mit ihrem Blick zur Eile an.
„Du kannst wirklich stolz auf deinen Sohn sein“, sagt Frau Müller plötzlich. Ich verziehe das Gesicht und hoffe, dass sie jetzt nicht anfängt über mich zu reden. „Er ist so ein netter Junge und so erwachsen geworden im letzten Jahr.“
Ich spüre, wie mir Hitze ins Gesicht schießt. Wenn sie mir jetzt noch in die Wange kneift, versinke ich vor Scham im Boden. Frau Müller kichert jedoch nur, während ich mich tief in die Kühltruhe beuge. Die Kälte tut gut, sodass ich mir ein bisschen länger Zeit lasse als nötig. Letztendlich werfe ich die Pizzascheiben in den Wagen und gehe weiter. Nun folgen die beiden mir, aber ich höre nicht, ob sie weiterhin über Jasmin und dieses ominöse Geheimnis reden. Stattdessen frage ich mich, ob ich meine Mutter wohl davon überzeugen kann, zwei Sixpacks von diesem Bier-Cola-Mix einzupacken, auf das Stefan so steht. Er hat im Übrigen immer noch nicht geantwortet, die Nachricht noch nicht einmal gesehen. Wie kann man nur solange pennen?
Möglichst unauffällig stelle ich die Getränke in den Wagen und gehe ein Stück vor.
„Gleich zwei?“, ruft meine Mutter mir anklagend hinterher. Ich drehe mich grinsend um und zucke mit den Schultern.
„Es ist heiß und wir haben Durst.“
„Das Zeug ist so furchtbar ungesund. Könnt ihr nicht ...“
„Mama“, unterbreche ich sie und schüttle den Kopf. Das letzte, was ich gebrauchen kann, ist ein Vortrag über gesunde Ernährung. Vermutlich fängt sie noch an, den Zuckergehalt in Würfeln aufzuzählen. Am Ende fällt ihr dann auch ein, dass Pizza ebenso wenig geeignet ist. Dabei interessiert mich das einen Scheiß. Ich will einfach nur satt sein und das möglichst ohne viel Aufwand.
„Schon gut“, sagt sie und winkt ab. „Ich vergesse immer wieder, dass du kein kleiner Junge mehr bist. Braucht ihr auch noch Chips oder Schokolade?“
„Beides“, erwidere ich und mache mich auf den Weg zum Regal mit den Süßigkeiten. Ich höre sie leise lachen. Eigentlich ist meine Mutter ziemlich cool, auch wenn sie hin und wieder ein paar peinliche Aussetzer hat, in denen sie vergisst, dass ich nicht mehr sieben bin und zur Grundschule gehe. Trotzdem kann ich mich über meine Eltern nicht beklagen. Wenn ich höre, was Stefan alles heimlich machen muss und wie oft er sich mit seiner Mutter streitet. Da geht es bei uns wirklich harmonisch zu. Im Grunde will ich dieses Privileg auch gar nicht aufs Spiel setzen. Selbst der Urlaub hat Spaß gemacht. Ich kann echt nicht behaupten, dass ich mich auch nur eine Sekunde gelangweilt hätte und das, obwohl ich mehr oder weniger von der Welt abgeschnitten war.
Ich hole wahllos ein paar Tüten Chips aus dem Regal. Stefan isst alles. Er muss sich auch keine Gedanken um seine Figur machen, denn er verbringt die meiste Zeit auf dem Fußballplatz. Ich bin nicht besonders sportlich und versuche einfach weniger von dem fettigen Zeug in mich hineinzustopfen. Allerdings gelingt mir das nicht immer. Gerade wenn wir trinken … oder letztens, als jemand einen Joint dabei hatte. Mann, war ich da hungrig!
Allmählich könnten wir jedoch hier fertig werden. Einkaufen ist einfach nur ätzend und jetzt, wo für mich alles dabei ist, kann ich es echt kaum erwarten, aus dem Laden herauszukommen. Frau Müller ist langsamer als eine Schnecke. Sich anzupassen bedeutet, dass ich quasi rückwärtsgehen muss.
Endlich haben wir uns bis zu den Kassen durchgeschlagen. Ich helfe Frau Müller, die Lebensmittel aufs Band zu legen und anschließend wieder in den Korb zu stapeln, während sie die Kassiererin in ein Gespräch verwickelt. Erneut fällt Jasmins Name und wieder verursacht er dieses erregende Kribbeln in meinem Bauch. Das war so eine geile Nacht. Absolut unglaublich. Ich hatte keine Ahnung, dass es sich so anfühlen würde. Klar habe ich mir vorher schon Gedanken darüber gemacht. Einige Jungs in der Klasse haben mit ihren irren Erfahrungen angegeben und ich wollte es auch genau so. Aber es war ganz anders. Seltsam intensiv und gleichzeitig ganz fremd. Als wäre ich gar nicht in meinem Körper gewesen. Alles ging so schnell und dann wieder wie in Zeitlupe. Ich kann kaum erwarten, es noch einmal zu tun. Am liebsten immer und immer wieder … Dabei muss es gar nicht unbedingt Jasmin sein. Ich meine, sie war wirklich großartig und so, aber ich bezweifle, dass wir beide ein Paar werden. Was will sie denn mit einem Typen wie mir, der noch zur Schule geht, während sie das Leben in vollen Zügen in Berlin genießen kann. Obwohl es auf der anderen Seite nur noch zwei Jahre sind, bis ich das Abi in der Tasche habe. Dann bin ich auch weg und Berlin wäre in jedem Fall mein Favorit. Jasmin und ich in Berlin, das wäre irgendwie ziemlich cool. Sie könnte mir die angesagten Clubs zeigen. Vielleicht würden wir uns sogar irgendwann ineinander verlieben. So richtig erwischt hat es mich bisher noch nie. Auch wenn es toll war, was wir gemacht haben, war es doch irgendwie nur Sex. Wir kennen uns gar nicht richtig. Als sie noch auf die Penne ging, habe ich mich noch nicht für Mädchen interessiert. Ich bin vermutlich ein Spätzünder, aber das werde ich nun alles nachholen.
Als erstes werde ich Stefan von der Nacht erzählen. Dazu bin ich bisher noch gar nicht gekommen, denn wir sind gleich am Tag nach der Party losgefahren. Das wird ihn bestimmt umhauen. Drei Wochen sind eine lange Zeit und ich kann es kaum erwarten, jemandem davon zu berichten. Stefan ist anders als ich, viel extrovertierter. Er war auch schon ein paar Mal verliebt und immer endete es in einem echten Drama. Sobald Stefan mit einem Mädchen zusammen ist, dreht sich alles nur noch um sie. Der Name wird mindestens einmal in jedem Satz erwähnt und natürlich hat er auch keine Zeit mehr für mich oder die anderen Jungs. Zum Glück vergeht der Liebesrausch stets ganz schnell wieder und er versucht die Mädchen loszuwerden, was ebenfalls recht dramatisch ist. Einmal musste ich ihm sogar dabei helfen. Das mache ich aber nicht noch mal, denn die Aktion war bescheuert und gemein. Nur bei Merle war es anders. Die hat nämlich Stefan nach einem Monat abserviert. Er war noch mittendrin im Liebestaumel, der sich schlagartig in Liebeskummer verwandelt hat. Stefan war tagelang niedergeschlagen, trug den Schmerz der Welt mit sich herum. Er war nicht ansprechbar, hatte zu nichts Lust und hat sogar geheult. Das war megapeinlich, auch wenn er mir ein bisschen leid tat.
Endlich ist alles im Auto verstaut. Ich bringe beide Einkaufswagen zurück, während Frau Müller mühsam einsteigt. Meine Mutter fährt zügig los. Man muss sie nicht besonders gut kennen, um zu wissen, dass sie gereizt ist. Ich werde sie vielleicht nachher doch mal fragen, was das für Gerüchte sind. Zuerst schnappe ich mir jedoch erneut das Smartphone und spiele während der Fahrt irgendein sinnloses Spiel, das mir Stefan empfohlen hat. Manchmal haben wir echt nicht den gleichen Geschmack.
Stefan meldet sich und schlägt vor, dass wir uns um fünf am See treffen. Ich stimme begeistert zu und überlege, was ich mit den drei verbleibenden Stunden anfangen soll. Ein bisschen chillen steht ganz weit oben. Vielleicht lasse ich die Bilder noch einmal in meinem Kopf tanzen.
Wir helfen Frau Müller den Einkauf zu verstauen, dann kann ich endlich abhauen und verkrieche mich mit einer Flasche Cola in meinem Zimmer. Ich fahre den Laptop hoch und surfe ein bisschen auf Facebook. Jasmins Profil finde ich schnell, aber wir sind noch gar nicht befreundet. Ich überlege, ob ich sie adden soll, aber irgendwie bleibt mein Finger über dem Button schweben. Vielleicht will sie das gar nicht und denkt, ich würde sie stalken. Hätte sie sich nicht längst gemeldet, wenn sie interessiert wäre? Zum Glück ist ihr Profil nicht gesichert. Ich klicke mich durch ihre Bilder. Sie scheint ziemlich oft auf Partys zu sein und da sind auch immer wieder andere Kerle, mit denen sie lachend posiert. Es fühlt sich ein bisschen seltsam an. Aus irgendeinem Grund will ich, dass es auch so ein Bild von uns gibt. Ein kleines Kribbeln macht sich in meinem Magen breit. Ist das ein erstes Anzeichen dafür, dass ich mich verliebe oder steigere ich mich da gerade hinein? Obwohl ich bisher noch nicht so genau darüber nachgedacht habe, schmerzt die Vorstellung, dass sie mich vielleicht längst vergessen hat, doch ein bisschen.
Ich werfe mich aufs Bett und starre Löcher in die Decke. Meine Gedanken driften ab. Ich schiebe eine Hand in die Shorts und ein angenehmer Schauer rinnt mir über die Haut. Meine Fantasie bringt mich zurück zu jenem heißen Abend, an dem ich vom Theoretiker zum Praktiker wurde. Jasmins bezaubernde Stimme klingt in meinen Ohren, ihr atemberaubendes Stöhnen, die ungewohnte Enge … alles war so perfekt. Ihre Küsse schmeckten süß und ein bisschen nach Bier.
Das Blut beginnt in meinen Ohren zu rauschen. Nur mit Mühe kann ich ein Stöhnen unterdrücken. Mein Körper verkrampft sich und Feuchtigkeit breitet sich zwischen meinen Fingern aus. Wie lange wird es wohl dauern, bis ich das noch einmal erleben darf? Ich will endlich mehr davon!
Mit dem Fahrrad brauche ich zwanzig Minuten bis zum See. Aus der Stadt bin ich schnell heraus. Ich biege in einen kleinen Weg, der durch den Wald führt. Früher haben Stefan und ich die meiste Zeit hier verbracht. Hier haben wir unser erstes Feuer angezündet und können vermutlich froh sein, dass wir nicht für einen Waldbrand gesorgt haben. Die erste Zigarette ... Stefan hatte sie seinem Vater aus der Schachtel geklaut. Wir hatten keine Ahnung, wie wir das Ding ankriegen sollten. In den Mund stecken und die Flamme des Feuerzeugs davorhalten hat irgendwie nicht geklappt. Wie zwei Idioten standen wir da, wollten verdammt cool sein und hatten doch überhaupt keine Ahnung. Irgendwie brannte die Zigarette dann doch und wir … husteten um die Wette. Eigentlich ist es noch gar nicht so lange her, aber es kommt mir vor, als wäre es in einem anderen Leben gewesen. Jetzt ist ein ganz neues Zeitalter angebrochen. Kein Kinderkram mehr, keine albernen Spielchen im Wald, keine idiotischen Rauchversuche. Wir sind auf dem Weg richtige Erwachsene zu werden und diesen Sommer werde ich mit Sicherheit niemals vergessen. Erneut läuft ein wohliger Schauer meine Wirbelsäule entlang. Ich trete schneller in die Pedale, nehme die Hände vom Lenkrad und strecke den Kopf in Richtung Himmel. Es ist so unglaublich und doch ist es real. Ich habe das Gefühl, jetzt beginnt mein Leben so richtig. Ich fühle mich stark. Die Welt liegt mir zu Füßen.
Kurz vor der nächsten Kurve konzentriere ich mich wieder aufs Fahren. Der Wald lichtet sich und der See erstreckt sich groß und dunkel vor mir. Die Sonne bringt ihn zum Glitzern und lautes Lachen dringt an meine Ohren. Es ist noch viel los. In einer Stunde werden jedoch die meisten Familien verschwunden sein. Dann wird es angenehmer.
Der See war schon immer ein Magnet. Früher sind die Eltern mit uns hier hergekommen, irgendwann durften wir allein fahren und immer länger bleiben. Hier haben wir unser erstes Bier getrunken und auch zum ersten Mal gekifft. Ich kann mich nicht mehr erinnern, wer das Zeug angeschleppt hat, aber ich kann mich dafür nicht besonders begeistern. Trotzdem mache ich mit, das machen schließlich alle.
Und jetzt gibt es noch ein besonderes Ereignis, dass mich für immer mit diesem See verbindet und natürlich auch mit Jasmin.
Ich steige vom Fahrrad und starre einen Moment auf die Stelle, an der wir … an der ich … Der Gedanke bringt mein Gesicht zum Glühen und lässt es eng in meiner Hose werden. Ich kann es kaum erwarten, Stefan davon zu erzählen.
Aufmerksam schaue ich mich um. Eigentlich liegen wir immer an der gleichen Stelle, aber manchmal haben wir Pech und irgendeine Familie mit kreischenden Kindern war schneller. Stefan regt sich immer tierisch darüber auf, aber das nützt leider nichts und die Liegefläche am Ufer ist wirklich groß. Heute haben wir anscheinend Glück. Als ich näher komme, sehe ich Stefans Handtuch auf dem Rasen liegen. Allerdings ist daneben noch eine Decke ausgebreitet, bei der ich mir sicher bin, dass sie einem Mädchen gehört. Ich lehne mein Rad gegen einen Baum und gehe langsam über die Wiese. Dabei schaue ich über den See, ob ich Stefan irgendwo entdecke. Tatsächlich brauche ich nicht lange. Er tobt mit Jana und Merle herum. Die beiden gehen in die Parallelklasse. Ich bin ein bisschen enttäuscht, denn ich hatte gehofft, dass wir uns allein treffen würden. Vor den Mädchen erzähle ich ihm bestimmt nicht von Jasmin. Dabei kann ich es echt kaum erwarten. Es ist, als würde es jeden Moment aus mir herausplatzen. Ich habe es schließlich schon den ganzen Urlaub für mich behalten und jetzt hat er die Weiber dabei.
Kopfschüttelnd breite ich mein Strandtuch aus und lasse mich darauf fallen. Ich lehne mich zurück, verschränke die Arme hinter dem Kopf und starre den wolkenlosen Himmel an. Die Sonne brennt auch um diese Uhrzeit noch heftig, aber das stört mich nicht. Der Wind rauscht in den Bäumen und allmählich weicht die Anspannung aus meinem Körper. Es wird sich schon noch eine Gelegenheit für dieses Gespräch bieten.
„Alter, endlich bist du wieder da“, sagt eine Stimme neben mir und eiskaltes Wasser tropft mir ins Gesicht.
„Ja, bin wieder im Land“, erwidere ich grinsend, richte mich auf und wische die Tropfen weg.
„Jana und Merle sind auch da.“
„Schon gesehen.“
„Bin jetzt mit Jana zusammen.“
„Echt? Seit wann denn?“ Verwundert sehe ich Stefan an. Er strahlt über das ganze Gesicht und es gibt keinen Zweifel. Er ist wieder mal schwer verliebt.
„Seit ihrer Geburtstagsparty letzte Woche. Da hast du echt was verpasst. Die beste Party des Sommers, ich schwöre!“
„Ich glaube, für mich ist die Abschlussfeier nicht zu toppen“, antworte ich und sehe erneut zu der Stelle zwischen den Bäumen.
„Nee, da war doch echt nichts los. Einmal abgesehen davon, dass ich stockbesoffen war und mich auch nicht mehr an besonders viel erinnern kann. Aber bei Jana … echt, das war einmalig.“
„Weil du jetzt mit ihr zusammen bist? Wie ist das überhaupt passiert? Ich wusste gar nicht, dass du scharf auf sie bist.“
„Das ist ja das Verrückte. Ich war überhaupt nicht scharf auf sie, aber umgekehrt sie schon. Und ich sag dir, die Frau hat es echt drauf, dich von sich zu überzeugen.“ Stefan wackelt mit den Augenbrauen, womit klar ist, was er meint. Noch ehe ich etwas darauf erwidern kann, kommen die beiden aus dem Wasser. Kichernd schnappen sie ihre Handtücher und setzen sich anschließend neben uns. Merle rückt verdächtig nah an mich heran. Stefan legt seinen Arm um Janas Schultern und spielt den Platzhirsch. Ich frage mich, wie lange es wohl diesmal halten wird. Hoffentlich macht er nicht wieder so ein Theater am Ende. Das ist echt nicht auszuhalten.
„Wie war der Urlaub?“, erkundigt sich Merle und schiebt sich eine feuchte Haarsträhne aus dem Gesicht.
„Toll“, erwidere ich wortkarg.
„Los, erzähl doch mal, Marvin“, mischt sich nun auch Jana ein. „Norwegen ist doch ein echt faszinierendes Land. Da möchte ich irgendwann auch mal hin.“
„Oh ja, da komme ich mit. Vielleicht können wir alle zusammen fahren.“
Stirnrunzelnd betrachte ich die Mädchen. Bisher hatten wir nicht gerade viel Kontakt und jetzt machen sie schon Urlaubspläne? Ich glaube, ich steh auf dem Schlauch.
„Komm schon, Alter. Lass dir nicht jedes Wort aus der Nase ziehen.“ Stefan sieht mich grimmig an. Ich erwidere den Blick, denn im Gegensatz zu ihm habe ich jeden Grund sauer zu sein. Zumindest eine kleine Vorwarnung wäre doch drin gewesen.
„Seid ihr nur an einem Ort gewesen, oder ...?“
„Wir haben eine Fjord-Tour gemacht“, erkläre ich genervt.
„Wahnsinn“, ruft Merle begeistert und rutscht noch ein Stück näher. Ihre Schulter berührt meine. Ich spüre ihre feuchten Haare und bekomme eine Gänsehaut. Bisher habe ich sie gar nicht wirklich wahrgenommen, aber sie ist eigentlich ziemlich hübsch. Ihre Haut ist ganz hell und die blonden Strähnen kringeln sich ein bisschen. Verstohlen werfe ich einen Blick auf ihre Brüste. Das hellblaue Bikinioberteil ist gut gefüllt. Panisch schließe ich die Augen, denn natürlich reagiert mein Körper.
„War echt cool“, erwidere ich und fahre mir nervös durch die Haare.
„Könnt ihr euch vorstellen, wie wir vier unterwegs sind? Das wäre so genial. Was wir alles gemeinsam erleben könnten.“
„Du bist so süß“, säuselt Stefan und erhält einen schmatzenden Kuss von Jana. Ich verdrehe die Augen und sehe mich auf der Wiese um. Ein Stück weiter entdecke ich noch ein paar Leute aus meiner Klasse. Anjo und einige Mädchen. Der Typ ist immer von Frauen umgeben, dabei spielt er doch im eigenen Lager. Ich finde den Kerl seltsam und unheimlich. Irgendwie kann ich mir gar nicht vorstellen, wie das wäre und … überhaupt. Ich schüttle mich und bin froh, dass ich so normal bin.
„Die Schwuchtel ist ja auch da“, sagt Stefan in diesem Moment und deutet auf Anjo. Ich nicke, während die beiden Mädchen kichern. „Ich begreife echt nicht, was die Weiber an dem finden.“
„Ich finde ihn auch niedlich“, sagt Merle und seufzt theatralisch.
Eine Weile beobachte ich ihn, obwohl ich nicht weiß, was so spannend ist. Vermutlich ist es einfach nur, um mich nicht mit meiner Nachbarin zu beschäftigen, die vermutlich gleich auf meinem Schoß sitzt. Nicht, dass sich gewisse Körperteile nicht darüber freuen würden, aber so richtig kann ich mich für Merle einfach nicht begeistern.
Anjos Lachen dringt bis zu mir hinüber. Er hat eine erstaunlich tiefe Stimme … also, für jemanden, der falsch gepolt ist. Dafür hat er das mit den großen Gesten echt drauf. Seine Arme sind beim Reden die ganze Zeit in Bewegung und die Klamotten … Kein Kerl würde sowas freiwillig anziehen. Eigentlich kann ich nicht verstehen, weshalb er das so deutlich nach außen tragen muss. Auf der anderen Seite finde ihn durchaus mutig. Nicht viele outen sich so früh.
„Hast du eigentlich schon von Jasmin gehört?“, erkundigt sich Stefan in einer Knutschpause.
„Das ist echt so schrecklich“, mischt sich Merle ein und Jana nickt heftig.
„Unglaublich, ich hätte nicht gedacht, dass so was einem von uns passiert.“
„Sie lebt ja schließlich in Berlin. Das ist was anderes, als unser kleines Kaff.“
„Trotzdem, ich dachte, das trifft doch in erster Linie die Schwulen.“
„Wovon redet ihr?“, unterbreche ich die drei. Ich starre sie abwechselnd an und spüre, wie sich mein Magen schmerzhaft zusammenzieht. Irgendwie bin ich mir gar nicht mehr sicher, ob ich wirklich wissen will, worum es geht. Frau Müller und ihre seltsamen Andeutungen fallen mir ein. Ich ärgere mich, dass ich nicht besser zugehört oder wenigstens hinterher meine Mutter noch mal gefragt habe.
„Du hast echt keine Ahnung?“, fragt Merle und wirft mir einen merkwürdigen Blick zu. Ich schüttle energisch den Kopf und schlucke schwer.
„Sie hat Aids“, sagt Jana und sieht mich verschwörerisch an.
„Was?“ Ich bin mir sicher, dass ich sie falsch verstanden habe.
„Aids“, wiederholt sie und Stefan macht einen verächtlichen Laut.
„Na ja“, wendet Merle ein. „Genau genommen ist sie HIV-positiv.“
„Das … das ist doch Unsinn“, bringe ich krächzend hervor. Das Blut beginnt in meinen Ohren zu rauschen. Ich begreife gar nicht, weshalb die drei so einen Mist erzählen.
„Mensch, Marvin. Das weiß doch mittlerweile schon jeder. Jasmin hat diese Schwulenseuche.“
„Aber wie … also, ich meine, woher wisst ihr das denn so genau? Sie war doch auch zu der Strandparty und da war sie doch noch vollkommen okay. Sie sah jedenfalls absolut gesund aus.“
„Sie sah verdammt heiß aus“, wirft Stefan ein und sorgt dafür, dass Jana ihn gegen den Oberarm boxt und irgendetwas zischt, das ich nicht verstehe.
„Am Anfang sieht man das doch niemandem an. Gibt ja mittlerweile auch Tabletten, die dafür sorgen, dass man nicht so schnell stirbt.“
„Trotzdem, wer setzt denn so ein Scheißgerücht in die Welt. Das ist total bescheuert.“ Mein Herz rast. Obendrein bekomme ich eine Gänsehaut und fange an zu frieren. Aids?
„Das ist kein Gerücht, das ist die bittere Wahrheit“, sagt Merle und reckt das Kinn in die Höhe. „Meine Mutter hat es nämlich erzählt.“
„Und wie kommt deine Mutter dazu, so einen Müll herumzuerzählen?“ Wut braut sich in meinem Bauch zusammen.
„Weil sie es schließlich genau weiß. Sie ist doch Sprechstundenhilfe bei Doktor Fischer und Jasmin war da vor zwei Wochen. Es ging ihr nicht gut, keine Ahnung. Zuerst haben sie wohl eine Grippe vermutet, aber Doktor Fischer hat dann trotzdem einen Bluttest gemacht und das Ergebnis war eindeutig.“
„Gibt es nicht so etwas wie Schweigepflicht? Deine Mutter kann doch damit nicht hausieren gehen. Was, wenn der Test falsch war?“
„Ach, Marvin. Vielleicht war es nicht ganz in Ordnung von ihr, aber mal ehrlich. Es ist doch wichtig, dass jeder so etwas weiß. Stell dir doch nur mal vor, wir feiern das nächste Mal wieder zusammen. Da muss man dann doch aufpassen.“
Ich starre sie an und kann mich nur schwer beherrschen. Das kann einfach nicht wahr sein und dass Stefan diesen Müll auch noch unterstützt, begreife ich überhaupt nicht. Er wird das doch nicht glauben. Jasmin ist niemals positiv. Das geht überhaupt nicht.
„Im Grunde kennen wir sie ja kaum“, sagt Stefan nach einer Weile. „Was habe ich doch für ein Glück, dass wir uns gefunden haben.“ Er zieht Jana dicht an sich heran und ich möchte kotzen.
Verbissen presse ich die Lippen zusammen. In mir brodelt es unaufhaltsam. Die Welt dreht sich plötzlich schneller und alles verschwimmt vor meinen Augen. War sie schon … Hatte sie das Virus schon in sich, als wir …? Könnte ich mich bei ihr angesteckt haben? Reicht dafür einmal oder muss dafür noch mehr passieren? Es war doch mein erstes Mal, da kann ich mich doch nicht mit so einem Scheiß angesteckt haben.
Das Gefühl von Übelkeit erhöht sich. Mit letzter Kraft springe ich auf, schaffe es gerade so bis hinter einen Baum und kotze mir die Seele aus dem Leib. Ein bitteres Brennen bringt mich zum Husten. Tränen steigen mir in die Augen. Ich schüttle mich, aber mein Magen beruhigt sich nicht, sondern verkrampft sich erneut und ein weiterer Schwall entkommt meinem Mund. Stöhnend lehne ich mich gegen den Stamm, schließe die Augen und versuche mich zu beruhigen. Das hat alles gar nichts mit mir zu tun.
Der ekelhafte Geschmack bleibt. Ich spucke, aber es wird nicht besser.
„Alles in Ordnung?“, höre ich plötzlich eine Stimme neben mir. Meine Lider sind so schwer, dass ich sie kaum öffnen kann. Ich erkenne Anjo, der mich intensiv mustert und mir ein Taschentuch entgegenhält. „Geht‘s wieder?“, fragt er und die Besorgnis in seiner Stimme lässt die Wut wieder aufwallen.
Ich stoße mich vom Baum ab. Meine Beine sind wacklig, aber ich brauche nur eine Sekunde, bis ich mich wieder im Griff habe.
„Brauchst du was zu trinken? Und hier, nimm ein Taschentuch, du hast da ...“ Er deutet auf meinen Mund und grinst mich schief an. Ich wische reflexartig mit dem Arm über mein Gesicht und starre Anjo ungehalten an. Wieso steht ausgerechnet er hier? Ich will weder sein Taschentuch noch sonst was von ihm. Sollte er nicht derjenige sein, der früher oder später an Aids krepiert?
„Lass mich bloß in Ruhe, Schwuchtel“, brülle ich und renne los. Ohne die anderen zu beachten, stürze ich mich in die kühlen Fluten und tauche unter. Für einen Moment fühle ich mich schwerelos. Das Wasser beruhigt meine Nerven und das furchtbare Gefühl in meinem Bauch verschwindet. Diese Sache hat nichts mit mir zu tun. Was auch immer mit Jasmin passiert ist, ist vollkommen unabhängig von mir. Wir hatten Sex, aber doch nur einmal und dabei habe ich mich ganz bestimmt nicht angesteckt. Ich bin vollkommen gesund. Um mir selbst zu beweisen, dass ich recht habe, tauche ich auf und fange an zu kraulen. Mit schnellen und gleichmäßigen Zügen schwimme ich durch den See. Jeder Meter, den ich weiter weg vom Ufer gelange, sorgt dafür, dass ich ruhiger werde. Die chaotischen Gedanken verschwinden. Ich bin in Ordnung, nur das zählt.
Meine Zimmertür fällt ins Schloss, ich lehne mich von innen dagegen und atme tief durch. Ich habe keine Ahnung, wie ich die letzten Stunden überstanden habe. Endlich bin ich allein und mein Körper beginnt erneut zu zittern. Mühsam hangle ich mich zum Schreibtisch, lasse mich auf den Stuhl davor fallen und schalte den Laptop ein.
Stefan, Jana und Merle waren ziemlich verwundert und vermutlich auch ein bisschen geschockt. Ich habe ihnen irgendwas von einem verdorbenen Magen erzählt. Das schien ihnen als Erklärung zu reichen, obwohl ich immer wieder Stefans musternde Blicke auf mir gespürt habe. Es ist nicht so einfach ihm etwas vorzumachen. Dafür kennen wir uns schon zu lange. Zum Glück hat Jana ihn immer wieder abgelenkt. Obwohl es mich nervt, wenn er in seiner Verliebtheit alle anderen vergisst, bin ich in diesem Moment echt froh darüber.
Meine Finger schweben über der Tastatur. Ich kann mich nicht entscheiden, die drei Buchstaben einzutippen. Angst schnürt mir die Luft ab. Erneut zieht sich mein Magen unheilvoll zusammen. Ich will nicht schon wieder kotzen und hoffe, ich kann meine angespannten Nerven mit gleichmäßigen und tiefen Atemzügen beruhigen.
Wir haben über HIV und Aids im Unterricht im letzten Jahr gesprochen. Ich fand das Thema nicht besonders spannend. Unser Biolehrer ist eine echte Niete. Vermutlich wurde er eingestellt, damit die Schüler nicht auf die Idee kommen, Biologie oder irgendwas in dieser Richtung studieren zu wollen. Ich muss mich immer sehr zusammenreißen, um nicht einzuschlafen. Es gibt also nicht viel, an das ich mich erinnere. Bisher war ich mir auch sicher, dass die Krankheit viel zu weit weg ist. Der einzige, der da hätte aufpassen müssen, ist doch Anjo. Der kann sich so einen Mist doch total schnell einfangen, aber ich nicht. Niemals!
Ich ziehe das Schubfach mit den alten Heftern auf und suche nach dem dunkelgrünen. Er ist mit Abstand der dickste, denn Herr Nordmann liebt Kopien. Im Grunde könnte man sich vermutlich das Biobuch sparen, denn er kopiert ja alles. Ich blättere lustlos durch die Seiten und halte mit wild pochendem Herzen inne, als ich die vier unheilvollen Buchstaben lese. Acquired Immune Deficiency Syndrome … erworbenes Immundefektsyndrom. Die Worte verschwimmen vor meinen Augen. Ich versuche zu verstehen, was ich mir dazu aufgeschrieben habe, aber in meinem Kopf geht alles durcheinander. Das hat überhaupt nichts mit mir zu tun. Nichts davon trifft auf mich zu. Einmal abgesehen davon, dass wir kein Kondom benutzt haben. Das war wirklich bescheuert. Ich habe doch überhaupt nicht damit gerechnet, dass Jasmin und ich … dass ich überhaupt mit irgendeinem Mädchen an diesem Abend … Ich wollte doch nur mit den anderen Spaß haben, feiern, dass das verdammte Schuljahr vorbei ist, und mich auf die Ferien einstimmen.
Zornig klappe ich den Hefter zu und schiebe ihn unwirsch zurück. Ich will mich nicht länger damit beschäftigen. Stattdessen brauche ich Ablenkung. Meine Wut benötigt ein Ventil und dafür gibt es nichts Besseres als GTA5. Ich öffne das Spiel und innerhalb weniger Minuten nimmt es mich gefangen. Ich vergesse alles um mich herum, konzentriere mich auf die Mission und gehe volles Risiko ein. Ich schieße auf alles, was sich bewegt, fahre wie ein Teufel und versinke in der virtuellen Welt.
Weit nach Mitternacht krieche ich ins Bett. Auf meinem Smartphone sind mehrere Nachrichten von Stefan und sogar eine von Anjo. Ich glaube nicht, dass wir uns per Whatsapp schon jemals geschrieben hätten. Da sind wir doch nur über den Klassenchat verbunden. Ich starre das Display einen Moment an, aber ich bin viel zu müde, um mich mit den Mitteilungen zu beschäftigen. Was kann die Schwuchtel schon von mir wollen? Der Typ soll mich bloß in Ruhe lassen. Ich weiß nicht wieso, aber plötzlich bin ich so richtig sauer auf ihn. Und es fühlt sich gut an. Viel besser als das Spiel … viel intensiver. Ich hasse diesen verfickten Kerl. Es ist doch wirklich ekelhaft und unnatürlich, dass sich jemand in den Arsch … Die Bilder in meinem Kopf lassen mich erschaudern. Ich ziehe die Decke nach oben und presse die Augen fest zusammen.
Der Schlaf macht alles nur noch schlimmer. Ich wache ständig auf, weil ich von seltsamen Dingen träume. Jasmin und ich am Strand. Das wunderbare Gefühl ihre Wärme zu spüren, bis sie sich in ein zähnefletschendes Monster verwandelt und versucht mich aufzufressen. Ich will wegrennen, aber ich finde den Weg nicht. Der See ist plötzlich blutrot und Anjo paddelt in so einem winzig kleinen Gummiboot darauf herum. Er lacht und winkt und ich winke zurück. Das dunkelrote Wasser umspült meine Zehen und zieht mich seltsam an. Ich gehe weiter hinein, habe das Gefühl mich aufzulösen. Ich höre, wie jemand meinen Namen ruft. Ein unglaublich lautes Motorengeräusch bringt mich dazu mich umzudrehen. Aus dem Wald kommt ein gepanzertes Fahrzeug. Der Beifahrer schießt ununterbrochen auf uns. Anjo versinkt mit seinem Boot im See, Jasmin hat ebenfalls eine Waffe und alle schießen auf mich. Den ersten Kugeln kann ich noch ausweichen, aber dann habe ich keine Kraft mehr. Wozu auch? Ich weiß, dass ich sterbe, bleibe stehen und warte darauf, dass ich getroffen werde. Ein lautes Donnern erfüllt meinen Kopf und dann breche ich zusammen...
Panisch öffne ich die Augen und setze mich auf. Mein Herz rast und das Blut rauscht in den Ohren. Mir ist schlecht und ich habe unglaublichen Durst.
„Scheiße“, murmle ich ungehalten und wische mir den Schweiß von der Stirn.
In diesem Moment klopft es an meine Tür.
„Marvin?“, ruft meine Mutter von draußen. „Bist du schon wach? Ich habe Nudeln und Tomatensoße zum Mittag gemacht. Möchtest du was essen?“
Mittag? Verwirrt sehe ich auf den Wecker. Es ist tatsächlich schon kurz vor eins. Dabei habe ich das Gefühl, kaum fünf Minuten geschlafen zu haben. Der Rest ist wohl in diesem Horror untergegangen.
„Hab keinen Hunger“, rufe ich und lasse mich zurück auf die Matratze fallen.
„Alles in Ordnung?“, erkundigt sich Mama. Die Tür öffnet sich einen Spaltbreit und ihr Kopf erscheint. „Du warst gestern Abend so schnell verschwunden.“
Ich schließe die Augen, möchte nicht an gestern denken, aber schlafen will ich auch nicht mehr. Noch so einen Traum kann ich wirklich nicht gebrauchen.
„Stefan ist jetzt mit Jana zusammen“, bringe ich mühsam hervor. Meine Mutter kommt nun ganz ins Zimmer und setzt sich auf die Bettkante.
„Und es ist mal wieder die ganz große Liebe?“, erkundigt sie sich grinsend. Ich verdrehe die Augen und nicke.
„Verstehe.“
Für einen winzigen Moment möchte ich mich an sie kuscheln, ihr am liebsten alles erzählen. Aber im Grunde gibt es nichts zu sagen. Obendrein bin ich zu alt dafür, um mich in Mutters Armen auszuheulen.
„Also, was ist? Nudeln und Soße und davon eine riesige Menge, nur für uns.“ Sie lächelt mich an und der Wunsch, mich wie ein kleiner Junge in ihre Arme zu stürzen, wird stärker.
„Kein Hunger“, murre ich nur und drehe mich von ihr weg.
„Schlägt dir die Sache mit Stefan so auf den Magen? Ist es etwa ein Mädchen, auf das du scharf warst?“
„Nein.“
„Hm, was ist denn dann los?“
„Mama“, maule ich und ziehe mir die Decke über den Kopf. „Kannst du mich nicht einfach in Ruhe lassen?“
„Das könnte ich schon, aber ich bin deine Mutter und da steht es quasi ganz weit oben, dass man seine Kinder nerven muss.“ Sie lacht leise, zupft die Decke ein Stück weg und wuschelt durch meine Haare. „Außerdem dachte ich, du könntest mir mit den Fotos helfen. Das kannst du irgendwie immer viel besser als ich.“
„Weil du dich da immer so anstellst“, erwidere ich murrend.
„Deshalb brauche ich dich ja auch.“
„Das ist doch nur eine faule Ausrede.“
„Kann sein, aber hatte ich schon die Spaghetti erwähnt?“
Einen Moment zögere ich noch, dann schlage ich Bettdecke zurück und setze mich auf. Ich reibe mir über meine Augen,
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Bildmaterialien: Bearbeitung: Caro Sodar, Originalbilder: 123rf, pixabay
Lektorat: Sissi Kaypurgay, Martina Tauchnitz-Geiger
Tag der Veröffentlichung: 08.04.2016
ISBN: 978-3-7396-4758-6
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
Sämtliche Personen dieser Geschichten sind frei erfunden und Ähnlichkeiten daher nur zufällig.
Der Inhalt dieses Buches sagt nichts über die sexuelle Orientierung des Covermodells aus.
Im wahren Leben gilt: Safer Sex.
Ebooks sind nicht übertragbar und dürfen auch nicht kopiert oder weiterverkauft werden.
In jedem Buch steckt eine Menge Arbeit, bitte respektieren Sie diese Arbeit und erwerben Sie eine legale Kopie.
Ich freue mich über Rückmeldungen, z.B. auf facebook, per E-mail oder als Rezension