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Klappentext

 Das erste Zusammentreffen zwischen Elias und Christian läuft alles andere als optimal. Eigentlich trennt die beiden weit mehr, als sie verbindet und trotzdem werden sie Freunde, leben schließlich zusammen in einer WG.


Elias wirkt nach außen hin souverän, allerdings hat er sein Vertrauen und den Glauben an die Liebe vor langer Zeit verloren. Die Gefühle, die er im Laufe der Zeit für Christian entwickelt, will er nicht wahrhaben und steht ihnen dennoch hilflos gegenüber.


Christian hingegen hat sein Leben auf einer Lüge aufgebaut und hält sich verzweifelt daran fest, um nicht noch den letzten Rest seiner Sicherheit zu verlieren. Er ist zutiefst verunsichert und beginnt langsam, seine bisherige Einstellung zu überdenken.


Nicht unbedingt die besten Voraussetzungen für ein Happy End oder?

 

1 - Elias

Mein Name ist Elias Sebastian Berg. Die meisten jedoch nennen mich Eli, was auch okay ist. Nur mein Mitbewohner und mittlerweile bester Freund Chris nennt mich Rocky und lässt sich auch nicht mehr davon abbringen. Aber er darf das auch und bei ihm schmeichelt es mir sogar. Er ist eben ein ganz besonderer Mensch.

Seine fantasievolle Namensgebung liegt zum einen an meinem Familiennamen Berg. Zum anderen an meiner eisernen Disziplin, die ich nicht nur beim Sport walten lasse, wenn ich seinen Worten Glauben schenken darf. Parallelen zu dem gleichnamigen Boxer kann ich jedenfalls keine erkennen. Aber ich lege auch keinen gesteigerten Wert darauf. Ich sehe allemal besser aus als der Kerl und mein Körper ist auch nicht so aufgepumpt, sondern ansprechend trainiert. Wer will schon aussehen wie ein Michelin-Männchen auf Speed? Ich ganz sicher nicht. Nein danke, kein Bedarf.
Die meisten Leute, die ich kennenlerne, vermuten in mir einen Sportstudenten, aber da muss ich die breite Masse leider enttäuschen. Ich studiere Mathematik und nach dem erfolgreichen Bachelorabschluss baue ich jetzt meinen Master. Dies ist noch so ein Punkt in meiner Disziplin. Ich ziehe mein Studium konsequent durch, komme, was da wolle. Von Problemen im zwischenmenschlichen Bereich halte ich mich jedoch fern. Gebranntes Kind scheut das Feuer. Wenn man sich wie ich mehrmals auf die Fresse gepackt hat, dann hakt man das Thema Beziehungen ganz schnell ab. Um hier keinerlei Missverständnisse aufkommen zu lassen: Ich bin keine Spaßbremse und durchaus zu allerlei Schandtaten bereit; ein Typ zum Pferde stehlen eben.

Genauso wie der liebe Chris. Wir verstehen uns gut und ergänzen uns nahezu perfekt. Wir sind im gleichen Alter, beide 23, aber da hören die Gemeinsamkeiten auch schon auf. Er ist klein, blond und schmal, ich jedoch über 1,80 m groß, der südländische Typ und durchaus muskulös. Chris ist ein typischer Künstler, wirklich sehr begabt und ich bin eher ein Mathe-Nerd, im Umgang mit Zahlen auch nicht ganz talentfrei. Wo immer er ist, herrscht sofort Chaos. Ich hingegen brauche wenigstens eine gewisse Grundordnung, um überleben zu können. In meinem Fachbereich bin ich echt spitze, aber der normale Alltag mit all seinen Stolperfallen überfordert mich manchmal etwas. Wenn Chris nicht wäre, dann würde ich glatt vergessen, dass der Mensch auch essen muss. Tief vergraben in meiner Arbeit denke ich nicht daran und stehe oft genug kurz vorm Hungertod. Chris ist dann einfach meine Rettung und hält mir einen Teller Essbares unter die Nase. Zum Dank dafür schleife ich ihn ins Fitnessstudio, denn ein bisschen mehr Muckis könnten ihm auch nicht schaden. Er ist ein Weichei, ein echtes Handtuch, ein filigraner Künstler eben. Er schafft es, innerhalb von nur wenigen Stunden ein Chaos zu produzieren, für das andere eine ganze Woche benötigen. Trotzdem mag ich ihn. Mit ihm ist es nie langweilig und er redet wie ein Wasserfall, schon von der ersten Sekunde an. Aber genau diese Art macht ihn so sympathisch für mich. Er ist einfach der ideale Gegenpol zu meiner logischen Zahlenwelt.

Unsere allererste Begegnung war im wahrsten Sinne des Wortes ein Volltreffer, bei dem er mir unfreiwilliger Weise sein Mittagessen überlassen hat. Mein T-Shirt war danach ruiniert und meine Laune im Keller. Zu meinem Erstaunen hat sich daraus eine echte Freundschaft entwickelt, und als das Zimmer in seiner WG frei wurde, musste ich nicht lange überlegen. Die Buden im Studentenwohnheim sind so winzig wie Schuhkartons und da fällt einem schon mal ganz schnell die Decke auf den Kopf. Außerdem ist allein auf ein paar Quadratmetern zu hocken und die Wand anzustarren echt ätzend. Das Feierabendbier schmeckt zusammen mit einem Kumpel auch besser und irgendwie habe ich mich schon an ihn gewöhnt, mein kleines Musikgenie.

Eine Gemeinsamkeit haben wir dann allerdings doch noch: Wir reden nicht gerne über die Vergangenheit und unsere kleinen Geheimnisse. Dass wir beide welche haben, steht außer Frage. Menschen wie wir, die einen Knacks davongetragen haben, erkennen sich einfach. Da braucht es nicht viele Worte und langatmige Erklärungen. Man versteht sich blind und respektiert auch die Einsilbigkeit des anderen bei diesem Thema. Warum man so ist, wie man ist, geht auch niemanden etwas an. Warum schlafende Hunde wecken, wenn diese unliebsamen Erinnerungen bestens vergraben sind? Besser ist es doch, noch eine dickere Schicht des Vergessens darüber auszukippen und mit dem Bagger platt zu walzen. Sicher ist sicher.

Ganz in Gedanken versunken fahre ich über die Autobahn nach Hause. Ich bin gespannt, wie es in der WG aussieht, denn schließlich war „Chaos-Chris“ für ganze sieben Tage allein zuhause. Schon bei dem Gedanken daran entkommt mir ein fieses Grinsen. Bestimmt ist er gerade mit „Tatortreinigung“ beschäftigt und kommt dabei schwer ins Schwitzen.

Nach einer Woche bei meinen Eltern befinde ich mich jetzt auf dem Rückweg, dick bepackt mit Klamotten und Fressalien für mindestens die nächsten drei Monate. So sehr ich meine Mutter auch liebe, aber sie übertreibt immer schamlos und irgendwie hat sie Chris bereits in ihre Mengenberechnungen mit einbezogen. Ich habe echt keine Ahnung, wo wir das ganze Zeug unterbringen sollen.

Wird wohl wieder mal Zeit für einen spontanen Filmabend, denn hungrige Studenten gibt es in unserem Freundeskreis zur Genüge. Der gemeine Student ist ein Allesfresser. Hauptsache, es ist gut, reichlich und umsonst. Eine solche Gelegenheit lässt sich keiner entgehen und ich löse damit auf elegante Weise mein Platzproblem. Natürlich bitte ich meine Mutter jedes Mal, nicht so viel einzupacken. Hilft nur leider nichts.

Auf dem Ohr sind Mütter irgendwie taub und es ist ja sowieso immer nur eine Kleinigkeit. Von wegen. Bei so einer krassen Fehleinschätzung der Menge drehen sich mir als Mathematiker die Zehennägel auf. Sie ist ganz einfach eine Glucke, und wenn ihr Kleiner in die fremde Stadt muss, dann soll er wenigstens nicht hungern müssen. Klar doch. Meine WG liegt ja auch auf dem Mars und da gibt es schließlich keinen Supermarkt. Logisch.

Aber genau dafür liebe ich sie auch und Chris wird ihr wegen des Kuchens sowieso zu Füßen liegen. Er ist nämlich eine kleine Naschkatze und verputzt ein Stück Kuchen schneller, als man gucken kann. Bei den Mengen, die der kleine Kerl futtert, wundert man sich sowieso, dass er nicht schon längst kugelt.

2 - Christian

Den Korb mit der Schmutzwäsche verstecke ich in meinem Schrank. Schnell zupfe ich meine Bettdecke gerade. Im Rausgehen greife ich mir die beiden leeren Wasserflaschen vom Nachttisch, puste schnell den Staub herunter, der sich dort gesammelt hat. Eigentlich unglaublich, wie schnell sich diese fiesen Flusen vermehren. Ein Blick zurück zeigt, dass hier zumindest nicht mehr Chaos herrscht als vor einer Woche, als Elias mich verlassen hat.
Auch der Schreibtisch im Wohnzimmer hat meine Aufmerksamkeit dringend nötig. Meine Notizen und Ausdrucke sind ein wildes Durcheinander, dazwischen befinden sich noch zwei leere Pizzaschachteln. Auch der Boden sieht nicht besonders gut aus. Meine Nervennahrung - Kekse und Gummibärchen - haben sich relativ zwanglos überall verteilt. An mein Arbeitszimmer will ich jetzt gar nicht denken. Die Noten liegen im ganzen Zimmer verstreut herum.. Panisch hatte ich sie gestern aus dem Regal gerissen, in dem sie normalerweise methodisch sortiert sind. Nur weil ich ein ganz bestimmtes Stück gesucht habe, das falsch einsortiert war.
Ich, das ist übrigens Christian Inari Hoffmann, Student, 23 Jahre alt, gerade mal 1,70 m groß und ziemlich schmächtig. Ein Erbe meiner asiatischen Mutter, wie auch der zweite Vorname. Irgendein Fruchtbarkeitsgott, sowohl männlich als auch weiblich. So sehe ich auch aus. Eine sehr seltsame Kombi aus asiatischer Größe und Feingliedrigkeit, gemischt mit dem Aussehen meines Vaters. Genau genommen, sehe ich aus, wie ein zu klein geratener Wikinger. Blonde Haare, die meistens machen, was sie wollen. Ich versuche dem mit mehr Länge und hin und wieder einem Haargummi beizukommen. Blaue Augen, die früher wohl mal fröhlicher in die Welt blickten, wenn ich meiner Großmutter Glauben schenke. Alles in allem wohl nicht hässlich, aber eben Durchschnitt. Mein Leben an sich ist recht unspektakulär. Tagsüber studiere ich; Musik im Hauptfach, Lehramt nebenher, für alle Fälle. Abends gehe ich ab und an mit Freunden weg. Meistens werde ich jedoch von meinem Mitbewohner Elias förmlich mitgeschleift. Ich brauche nicht viel Gesellschaft. Nachts schlafe ich. Allein übrigens. Beziehungen funktionieren bei mir nicht so. Keine Ahnung, woran das liegt. Aber nach ein paar Wochen ist irgendwie die Luft raus, der Reiz des Neuen verflogen und unsere Wege trennen sich. Meistens so unspektakulär wie sie sich gekreuzt haben. War auch bei Rahel so. Sie war erst meine Kommilitonin, dann - aufgrund einer akuten Notlage ihrerseits – meine Mitbewohnerin. Irgendwann waren wir dann plötzlich ein Paar. Natürlich nur für ein paar Wochen. Dabei dachte ich dieses Mal wirklich, dass es anders wäre mit ihr. Weil wir uns schon länger kannten und wussten, wie der andere so tickt. Immerhin ist sie meine Mitbewohnerin geblieben, nachdem es vorbei war. Und ganz so unrecht hatte sie mit der Aussage „Du kommst doch sonst in vier Wochen hinter deinen leeren Pizzaschachteln nicht mehr raus“ wohl wirklich nicht, wenn ich mich hier so umsehe. Elias war gerade mal eine Woche weg und hier sieht es schrecklich aus.
In der Küche stopfe ich sämtliches Geschirr in die Spülmaschine, die bereits verdächtig müffelt. Der zusätzliche Vorspülgang wird es hoffentlich richten.
Das Bad wird einer Schnellreinigung unterzogen. Mit spitzen Fingern greife ich nach der Toilettenbürste und bewege sie vorsichtig in unserer weißen Keramik hin und her, damit mich nur ja kein Spritzer trifft. Noch schnell die Armaturen notdürftig putzen, mit einem von diesen komischen feuchten Tüchern durchgewischt und ich denke sogar an frische Handtücher, fertig. Meine Zahnbürste und die Rasiersachen werfe ich in meine Schublade des kleinen Schrankes, der zwischen Waschbecken und Tür einen Platz gefunden hat, seit Elias bei mir eingezogen ist.
Auch vor seinem ersten Besuch in meiner Wohnung hatte ich eine solche Hauruck-Aktion durchgeführt, wie ich mich erinnere, während ich den Staubsauger aus seinem Exil in der Abstellkammer befreie und ihn seine Arbeit verrichten lasse.
Vor ihrem Auszug hatte sich Rahel um die Sauberkeit unserer Wohnung und auch meine Wäsche gekümmert. Leider ist sie jedoch bereits vor über einem halben Jahr zu ihrem Freund gezogen und hat mich schmählich im Stich gelassen. Dabei rede ich nicht mal von der Miete, die sie mir gezahlt hat. Meistens habe ich aufgrund ihrer chronischen Pleite sowieso darauf verzichtet. Es war eher so ein stillschweigendes Übereinkommen. Sie macht sauber, wäscht und bügelt unsere Wäsche. Ich kaufe Lebensmittel, sie kocht. Alles in allem war es einfach perfekt. Kochen ist nicht unbedingt meine Stärke, schon gar nicht gesunde Ernährung. Die war ihr aber besonders wichtig, sofern sie überhaupt etwas gegessen hatte. Ebenso Ordnung. Meistens finde ich alles, was ich suche, sofort. Egal, wie hoch der Berg ist, unter dem ich es vergraben habe . Mir sind andere Dinge einfach wichtiger.

Seit Rahel weg ist, habe ich das Einkaufen fast komplett eingestellt. Ein paar Suppendosen und andere Fertiggerichte habe ich jedoch immer vorrätig. Auch diverse Backmischungen finden regelmäßig den Weg in unsere Speisekammer. Ansonsten landen überwiegend Getränke und Süßigkeiten in meinem Rucksack. Wofür gibt es schließlich Lieferdienste und die Mensa?
Als ich vor ein paar Monaten in Elias reingestolpert bin, hätte ich niemals damit gerechnet, dass daraus mehr werden würde. Er war auch ziemlich sauer auf mich, denn ich hatte mein Mittagessen über ihn verteilt. Döner, mit extra Soße und eine Cola. War ein blöder Tag. Das damals aktuelle Thema „moderne Musik“ lag mir so gar nicht, entsprechend schlecht waren meine Leistungen. Es war mir unmöglich, einen Weg zu finden, meinen Professor zufriedenzustellen. Ich selbst bin sowieso fast nie zufrieden mit mir selbst. Dann hatte ich an diesem Tag auch noch Leistungsprüfung in meinem Nebenfach Sport und war zu spät dran, weil ich erst meine Gitarre nach Hause gebracht hatte. Den halben Tag bei Minusgraden im Auto ist nicht gerade gut und mitnehmen, um sie mir klauen zu lassen, kam ebenso wenig infrage. Von meinen Sportsachen konnte ich ihm wenigstens ein frisches Oberteil leihen. War zwar ein bisschen eng, aber besser als mit Knoblauchsauce garniert in einer Vorlesung sitzen zu müssen. Innerlich hatte ich mich auch schon von meinem T-Shirt verabschiedet, als er eines Tages nach der Vorlesung neben meinem Auto auf mich wartete.
Irgendwie hatte sich daraus eine anfangs fragile Freundschaft entwickelt. Nach diversen Enttäuschungen im zwischenmenschlichen Bereich bin ich ziemlich introvertiert geworden. Obwohl ich gerne mit Menschen zu tun habe, und auch ohne Probleme mit Fremden spreche, behalte ich meine Gefühle lieber für mich. Dann kann mich auch niemand verletzen. Elias trägt auch einen solchen Panzer mit sich herum. Er ist witzig und zu allen Schandtaten bereit, aber bitte nicht zu tief graben. Ist mir nur recht, mein eigener Mist reicht mir durchaus. Aus diesem gemeinsamen Gefühl wurde ziemlich schnell eine Freundschaft, auf die ich nicht mehr verzichten möchte. Auch unseren jeweils überschaubaren Freundeskreis haben wir zusammengeworfen. Allerdings kommt es auch oft vor, dass wir zusammen auf der Couch herumgammeln und den Tag einfach Tag sein lassen, Filme gucken oder nur quatschen.


Ich schnappe mir den Müllbeutel und die Kiste mit dem Altpapier, flitze nach unten und entsorge den ganzen Kram. Zurück in der Wohnung widme ich mich meinem aktuellen Theorieprojekt. Ich habe nur noch vier Wochen bis zum Abgabetermin. Die verschiedenen Lehrmethoden und so weiter sind schlimmer als eine Fremdsprache. Außerdem ist in der Praxis gerade ebenso der Wurm drin. Vielleicht hat Elias ja eine Idee. Im Zweifel wird er mich sowieso zwingen mit ihm ins Fitnessstudio zu kommen. Bisher konnte ich zumindest verhindern, dass er mich in seinem Kickbox-Kurs anmeldet. Ein bisschen Kondition und Krafttraining kann meinem Körper jedoch nicht schaden. Natürlich werde ich pro forma jammern, muss er ja nicht unbedingt wissen, dass es mir sogar Spaß macht und ich mich danach tatsächlich besser fühle.

 

3 - Elias

Als ich die Wohnungstür öffne, schlägt mir bereits ein Schwall »Frühlingsfrische« entgegen. Lag ich mit meiner Vermutung also doch nicht so falsch, dass der liebe Chris noch geschwind den Putzlappen schwingt, bevor ich zuhause aufschlage. Leise dringt sein Gitarrenspiel aus dem Musikzimmer und bestätigt meinen Verdacht. Er hat sich hier wieder eingegraben.

Der Prüfungsstress, der ihn inzwischen im Würgegriff hält, macht sich immer mehr bemerkbar. Aus dem Chaoten Chris wird dann ganz schnell der Chaosprinz mit der Tendenz zu Schwermut. Wie das enden kann, weiß ich selbst nur zu gut. Da helfen nur sofortige Gegenmaßnahmen, die ganz schweren Geschütze eben.

„Prinzessin, ich habe eine Überraschung für dich“, rufe ich im Flur und zähle in Gedanken bis drei, als er auch schon ganz empört aus seinem Zimmer rauscht. „Sag mal Rocky, geht’s noch?“ Missmutig sieht er mich an, aber sein Blick hellt sich schlagartig auf, als ich ihm wortlos zwei Boxen entgegenhalte.
„Wow Elias, du hast Kuchen mitgebracht? Du bist ein Engel, ich bin nämlich gerade total unterzuckert.“ Klar doch. Was auch sonst. Wie von Geisterhand wechseln die Schachteln ihren Besitzer und der kleine Chaot huscht flink in die Küche davon.

Typisch Chris. Er ist ein ganz Süßer und Kuchen aller Art sind seine absolute Lieblingsdroge, der er niemals widerstehen kann. Nicht, dass er es je versucht hätte. Meine Mutter hat extra für ihn Käse- und Kirschkuchen gebacken – seine unangefochtenen Favoriten.

Damit hat sie mittlerweile Heldinnenstatus bei ihm erreicht. Er verehrt sie regelrecht und flötet ins Telefon, wenn er sie an der Strippe hat. Keine Frage, die beiden verstehen sich verdammt gut. Nicht zum ersten Mal hat sie mir auch bei diesem Besuch wieder gesagt, ein Kerl wie Chris wäre der perfekte Mann an meiner Seite. Leider Wunschdenken.

Chris ist ein absoluter Hetero und zeigt auch keinerlei Tendenzen in meine Richtung. Seit der Trennung von Rahel, die ich nur einmal kurz gesehen habe, ist er Single und wirkt nicht gerade unglücklich. Und nicht nur er. Ich bin auch mehr als froh darüber, denn so habe ich ihn noch länger für mich allein. Okay, spart euch jeden Kommentar. Ich weiß selbst, dass ich mir nur etwas vormache. Früher oder später kommt wieder irgend eine Hexe des Weges und schnappt sich den Kleinen. Frauen stehen ja auf Künstler, auf Musiker ganz besonders.

Als ich in die Küche komme, bietet sich mir ein Bild der besonderen Art – Chris im Zuckerrausch. Geradezu unwiderstehlich. Seinen Teller mit zwei Stück Kuchen vollgepackt, von jedem eines versteht sich, hat er die eine Hälfte noch mit Sprühsahne dekoriert. Also, darunter begraben trifft es wohl eher. Aber egal.

Mitten ins Herz trifft mich jedoch die Art und Weise, mit welcher Liebe er den Kuchen isst. Diese Hingabe und der absolute Genuss. Von den kleinen wohligen Seufzern, die er dabei ausstößt, will ich erst gar nicht reden. Ob er wohl auch so seufzen würde, wenn ich ihn ablecke? An der Ohrmuschel beginnend … am Hals entlang … übers Schlüsselbein ... verdammt, hör auf damit! Er ist dein bester Freund, ein Hetero und dein Mitbewohner. Außerdem hast du das falsche Spielzeug. Er bevorzugt sowieso das andere Modell. Deine Chancen gehen damit gegen Null. Punkt. Lass den Mist also.

„Auch einen Cappu, Chris?“, lenke ich mich von diesen Gedanken ab. Wo immer sie auch so plötzlich herkommen, ich kann sie nicht gebrauchen. Chris nickt mit vollem Mund und sein entschuldigendes Lächeln geht mir wieder voll unter die Haut. Scheiße. Ich bin ja so was von im Arsch.

Schnell bereite ich den Cappuccino zu und platziere ihn direkt vor seiner Nase, setze mich ihm gegenüber. Er wirkt total angespannt. Auch wenn er versucht zu lächeln, um es zu überspielen, ich durchschaue ihn trotzdem. Er ist nervös. Die bevorstehenden Prüfungen setzen ihm zu und er kann sich nur sehr schwer entspannen. Vielleicht hätte ich nicht so lange wegfahren dürfen. Wenn man ihn sich zu lange alleine überlässt, setzt sich sein Gedankenkarussell in Gang und nimmt sehr schnell Fahrt auf. Der momentane Stress begünstigt das Ganze nur noch. Ich werde auf ihn aufpassen müssen und fange gleich damit an.

„Was hältst du von einem gemütlichen Abend auf dem Sofa? Vielleicht gucken wir einen Film oder zocken ein bisschen auf der Play Station. Hast du Lust? Ich lass dich auch mal gewinnen.“ Ich grinse frech und amüsiere mich über seine leichte Empörung. „Du hast keine Chance gegen mich, Rocky. Am Ende werde ich dich trösten müssen.“ Herausfordernd sieht er mich an und zieht eine Grimasse. So ausgelassen gefällt er mir schon deutlich besser, aber da ist noch viel Luft nach oben.

Nach einer kurzen Aufwärmphase geht es hin und her. Wir beherrschen diese Spiele beide sehr gut und schimpfen, fluchen oder necken uns gegenseitig. Nach zwei Stunden und unzähligen Spielen, die hinter uns liegen, steht es unentschieden. Jetzt wird es langsam Zeit, meine Trumpfkarte auszuspielen.

„Wer das nächste Spiel gewinnt, darf den Film aussuchen und bekommt vom Verlierer eine kleine Massage.“ Mal sehen, ob er darauf eingeht oder den Schwindel gleich bemerkt. Würde ich ihm nur eine Massage für seine verspannten Schultern anbieten, dann käme garantiert sofort eine Absage. Manchmal ist der liebe Chris nämlich verschlossen wie eine Auster, aber genau diesen Panzer möchte ich heute Abend etwas durchlässiger machen. Er muss sich unbedingt entspannen, denn er wird seine volle Kraft und Konzentration für die Prüfungsvorbereitungen brauchen. Skeptisch blickt er mich an und ich kann sein Gehirn förmlich rattern hören. Dem werde ich allerdings gleich einen Riegel vorschieben.

„Hast du Angst zu verlieren, Prinzessin? Ich dachte, du musst mich trösten, nachdem du mich platt gemacht hast?“, necke ich ihn und weiche seinem Blick nicht aus. Man kann das Funkeln in seinen Augen sehr deutlich erkennen, als er die Herausforderung annimmt.

„Ich geb dir gleich … von wegen Prinzessin. Deine Niederlage ist bereits besiegelt. Lass uns anfangen.“ Yeah! So kämpferisch gefällt er mir viel besser, obwohl er das Spiel so oder so gewinnen wird. Chris braucht ganz dringend Motivation und jede Menge positiver Energien.

Er freut sich wie ein kleines Kind, als er gewinnt, und genießt die anschließende Massage sichtlich. Zufrieden schnurrend wie ein Kater bringt er mich damit allerdings gewaltig in Schwierigkeiten. Trotzdem. Der Zweck heiligt schließlich die Mittel und mein Ziel habe ich damit erreicht. Chris ist absolut tiefenentspannt und ich sollte mir wohl wieder mal Ablenkung der anderen Art suchen, bevor ich noch eine Dummheit begehe. Er ist schließlich mein bester Freund und inzwischen ein sehr wichtiger Mensch in meinem Leben.

Beim anschließenden Film gibt es wieder jede Menge zu lachen und wir vertilgen nebenbei noch leckere Makkaroni mit Käse, die wir aus den Untiefen des Kühlschranks hervorzaubern. Ein ziemlich mächtiger Snack um diese Uhrzeit, aber einfach superlecker. Bei Chris allerdings knipst die Kalorienbombe alle Lichter aus und sein Kopf sinkt müde an meine Schulter. Der Kleine schläft wie ein Engel und ich genieße den Anblick dieses friedlichen Ausdrucks in seinem Gesicht. Da er total übermüdet ist, trage ich ihn in sein Zimmer und lege ihn ganz vorsichtig in sein Bett. Fürsorglich decke ich ihn zu und streiche ihm zärtlich eine Strähne aus dem Gesicht.
Was immer auch passiert. Ich bin für dich da, Kleiner und lass dich nicht allein. Niemals.

4 - Christian

Langsam lasse ich meine linke Hand sinken und starre auf die Noten. Obwohl ich spiele, wie es da steht, fehlt mir etwas. Ich kann es nicht greifen. Meine Technik ist fast beanstandungsfrei, wie mir mein Professor regelmäßig versichert. Im Laufe der Jahre habe ich mir ein paar Eigenheiten angewöhnt, die sich nicht abstellen lassen. Die aber auch nur ein individueller Ausdruck meines Spiels sind, nicht mehr, aber auch nicht weniger. Erneut befällt mich der Zweifel, ob ich vielleicht einfach die falschen Stücke ausgesucht habe. Bis zur Prüfung habe ich nicht mehr genug Zeit, auch nur eines davon auszutauschen. Dafür habe ich schon viel zu viel Zeit in die Interpretation gesteckt. Mit geschlossenen Augen lege ich den Kopf in den Nacken, rolle ihn vorsichtig hin und her. Aber ich fühle mich nicht verspannt. Es ist mehr eine Geste der Hilflosigkeit, weil ich mir einfach nicht erklären kann, was gerade los ist.
Leise öffnet sich die Tür zu meinem Arbeitszimmer.
„Wie sieht´s aus? Fertig geklampft?“, fragt Elias sanft. Dunkel erinnere ich mich, dass er unsere Freunde zum Essen eingeladen hat. Denn natürlich können wir all die leckeren Sachen, die Charlie ihm eingepackt hat, unmöglich alleine essen. Bis auf den Kuchen versteht sich. Der hat nach der Ankunft gestern nur bis zum Frühstück vorhin überlebt. Aber ist es wirklich schon so spät? Die Jungs wollten doch nicht vor achtzehn Uhr da sein. Es kann doch nicht schon vier Stunden her sein, dass ich mich hierher verzogen habe, während Rocky sich summend um die Sauberkeit unserer Wohnung gekümmert hat.
Nur langsam finden meine Gedanken den Weg zurück in die Realität. Meine Musik war schon immer der Ort des Vergessens. Mein Schutz vor der Welt. Im Nachhinein bin ich froh, dass meine Mutter darauf bestanden hat, während der schwierigen Anfangszeit am Ball zu bleiben. Auch in der Pubertät war es nicht einfach, sich besser mit Tonleitern, Violin- und Bassschlüsseln oder Chopin auszukennen, wenn der Rest der Klasse zu Guns ´n Roses singt und tanzt. Schon damals war ich lieber zuhause und habe für das nächste Konzert geprobt, als um die Häuser zu ziehen. Alkohol trinke ich auch heute nur ganz selten, wenn überhaupt. Vielleicht mal ein Glas Wein zum Essen. Frauen stehen ja auf so was. Essen gehen. Sich gegenseitig zuschauen, wie man Nahrung aufnimmt. Dazwischen ein paar schnelle Worte, denn mit vollem Mund spricht man ja nicht. In meinen Augen eine ziemlich lästige Sache, die aber einer unausgesprochenen Regel der Gesellschaft folgend dazu gehört, wenn man auf der Suche nach einer Partnerin ist.
Mit Elias gehe ich auch öfter mal was essen, weil er anscheinend in seinen mathematischen Berechnungen die Variable für Nahrungsaufnahme regelmäßig vergisst. Und da wir beide das Kochen nicht gerade erfunden haben, Rührei auf Toast auf Dauer langweilig und meine Pizza und Dönerorgien ihm zu ungesund sind, schleppe ich ihn hin und wieder zum Italiener um die Ecke, wo er genüsslich einen Salat isst und mir zum Dank für meine Fürsorge das letzte Stück meiner heiß geliebten Knoblauchpizza klaut.
„Kannst du dir mal was anhören?“, frage ich, anstatt seine Frage zu beantworten. Elias nickt und setzt sich mir gegenüber auf den Boden. Lächelnd legt er den Kopf schief. „Leg los, Slash“, neckt er mich. Er weiß, dass ich es hasse, wenn er mich so nennt. Ich bin kein Rockgitarrist und will auch keiner werden. Meine Stärken liegen in der Klassik, obwohl ich durchaus auch moderne Sachen spielen kann. Es fällt mir jedoch vergleichsweise schwer. Eigene Interpretation ist da ein Stück harte Arbeit, während es klassisch einfach besser läuft. Seufzend erspare ich mir meine Standardbelehrung hierzu, die kennt er sowieso schon auswendig und fange an.
Die ersten Töne kommen noch zögerlich. Ich beobachte ihn genau. Die Noten brauche ich eigentlich nicht. Rocky sieht lächelnd zu mir hoch und schließt irgendwann die Augen. Erst als die letzten Töne verklungen sind, öffnet er sie langsam wieder. Ich sehe ihn lediglich fragend an und warte auf sein Urteil.
„Was hast du gedacht, als du gespielt hast?“, will er wissen.
„Dass ich beim Zwischenteil aufpassen muss, nicht zu schnell zu spielen, und dass ich am Ende noch mal diese zwei Takte wiederholen muss ...“, setze ich zu einer Erklärung an, werde jedoch unterbrochen. Elias tritt hinter mich. „Spiel es noch mal, und fühle es Chris“, fordert er mich auf. „Es klingt nach Sommer, Sonne, nach Spaß. Vergiss die Technik und die Takte.“ Zweifelnd sehe ich zu ihm hoch und begegne seinem breiten Grinsen. War klar, dass er wieder merkt, dass ich gerade zu „verkopft“ bin, wie er es nennt. Er greift über mich und schnappt sich meine Noten. Anscheinend war er schon Duschen, denn er riecht so frisch und auch die dunklen Haare sind noch etwas feucht, wie ich feststelle, als sie mein Gesicht leicht streifen.
Dieses Mal schließe ich die Augen, während ich spiele. Eigentlich sollte erst der Rest stimmen, bevor ich mich darauf einlasse. Aber vielleicht hat er ja recht. Ich taste mich vorsichtig von Takt zu Takt, lasse mich ein wenig treiben. Theoretisch weiß ich, dass alles da ist. Nur mein Selbstvertrauen kommt mit diesem Wissen oft nicht mit. Ich gebe meinen Fingern die Freiheit, die sie brauchen. Als ich fertig bin, schwitze ich leicht. Nach einer Weile öffne ich die Augen und sehe zu Elias. Dieser steht langsam auf. Er lächelt nur und geht. Er muss nichts sagen, ich weiß es. Wieder einmal, hat er die Lösung gefunden, ohne auch nur ein G von einem C unterscheiden zu können. Ich könnte ihn knutschen.
Bei dem Gedanken läuft mir ein Schauer über den Rücken, denn mit einem Mal sehe ich Elias vor mir, wie sich unsere Gesichter einander langsam näheren ... Schnell schüttele ich den Kopf. Viel zu gefährliches Terrain.
„Wann kommt die hungrige Meute denn?“, rufe ich auf meinem Weg ins Schlafzimmer. In diesem Moment klingelt es, was Elias eine Antwort erspart. Obwohl Armin, Theo und Levi schon da sind, nehme ich mir die Zeit für eine ausgiebige Dusche. Auch hier lässt mich der Gedanke an Elias nicht los. Offensichtlich ist es viel zu lange her, dass ich eine Freundin hatte, denn dass mein Schwanz bei der Erinnerung an Rockys sanftes Lächeln plötzlich zum Leben erwacht, kann nur bedeuten, dass hier jemand chronisch unterversorgt ist. Aber wenn er schon meint, dann bleiben wir eben gemeinsam bei diesem Lächeln und den verführerisch blitzenden Augen. Ich komme ziemlich schnell und heftig. Natürlich fühle ich mich gleichzeitig schlecht, meinen besten Freund sozusagen missbraucht zu haben. Rückgängig kann ich es jedoch auch nicht mehr machen. Allerdings schwöre ich mir, dass es das erste und auch das letzte Mal war, dass ich auf diese Art und Weise an ihn gedacht habe. Viel zu groß ist die Gefahr, dass es nicht nur bei dem Gedanken bleibt. Das kann und will ich nicht riskieren. Es ist ein zu langer Kampf gewesen, um jetzt aufzugeben.
In der Wohnküche empfängt mich das übliche Geplänkel. Die Jungs haben Bier mitgebracht und foppen sich gegenseitig mit irgendwelchen Fußballergebnissen. Ich lasse mich auf den Stuhl neben Rocky fallen und versuche dem Gespräch irgend etwas Sinnvolles zu entnehmen, was jedoch für mich kaum möglich ist. Überhaupt bin ich viel zu fertig für Gesellschaft und würde mich am liebsten in mein Bett verkrümeln. Oder – was vielleicht in Anbetracht meiner Unfähigkeit noch besser wäre - vielleicht doch weiter üben. Meine Prüfungen werden viel zu schnell vor der Tür stehen und mit den ganzen Unzulänglichkeiten werde ich bis zum letzten Tag kämpfen müssen, damit auch wirklich alles perfekt ist.
Elias sieht mich von der Seite her kritisch an. In seinen Augen sehe ich Besorgnis, ich ringe mir ein hoffentlich überzeugendes Lächeln ab und schüttele kaum merklich den Kopf. Es sind immer nur kleine Gesten, die kein anderer bemerken würde, mit denen wir uns verständigen. Außerdem ist es fast beängstigend, wie gut er mich kennt. Wie er ohne ein Wort von mir weiß, wie es in mir aussieht.
Es wird ein lustiger Abend, der damit endet, dass Armin und Theo knutschend auf unserer Couch landen, während Levi ihnen grinsend vorschlägt, doch lieber in ihre eigene Bude zu gehen. Darauf entbrennt die schon fast übliche Kissenschlacht, nach der die beiden tatsächlich nach Hause gehen. Levi und Elias räumen gemeinsam den Tisch ab. Ich bin für das Geschirr zuständig und befülle den Spüler. Danach verabschiede ich mich von den beiden und lande müde in meinem Bett. Aus der Küche dringt ab und an ein leises Lachen von Elias und Levi, das mich in meine Träume begleitet.

 

 

5 - Elias

Es war wieder ein sehr ausgelassener Abend. Eigentlich so wie immer, wenn unsere Freunde bei uns einschneien. Nicht weiter verwunderlich, denn sie kennen Charlies, also Charlottes, Kochkünste und sind sowieso chronisch pleite. Essen können Kerle in unserem Alter auch ständig, also wegen Wachstum, Urinstinkt oder weiß der Geier, warum. Essen geht immer und überall.
Irgendwann lag unser Liebespaar, also Theo und Armin, knutschend auf dem Sofa und kurz darauf kam es zur obligatorischen Kissenschlacht. Manchmal geht es bei uns eben zu wie im Kindergarten. Danach war allerdings die Luft raus. Unser rosa Traumpaar hat sich schnell verkrümelt und auch Chris war Minuten später in seinem Zimmer verschwunden.

Levi und ich saßen noch einige Zeit in der Küche und witzelten über die Drittsemester in unserer Übung. Mit allen möglichen Tricks versuchen sie, an die benötigten Punkte zu kommen, um zur Prüfung zugelassen zu werden. Nur blöd, dass Levi und ich auch mal Drittsemester waren und das Spiel durchschauen. Manchmal frage ich mich wirklich, welcher Teufel mich geritten hat, diese bescheuerte Numerik-Übung leiten zu wollen. Aber was willst du schon machen, wenn dein Professor dich lieb darum bittet? Eben. In den sauren Apfel beißen und ihm seinen Wunsch erfüllen. Ist ja leicht verdientes Geld und immer noch besser, als zig Mal in der Woche kellnern zu gehen.
Die Studenten, die diese Übungen besuchen müssen, haben jedenfalls keinen Bock darauf und Mister Oberschlau nervt ohne Ende. Ein solcher Blödmann findet sich wirklich in jeder Übungsgruppe. Dieser eine Kerl, der vermeintlich alles besser weiß und dennoch keine Ahnung von der Materie hat. Einfach nur anstrengend.

Langsam sollte ich auch die Segel streichen, denn ich habe morgen besagte Übung und muss noch die Korrektur der Übungszettel machen. Nur noch schnell Zähne putzen und dann ab ins Bett. Duschen kann ich auch morgen früh. Jetzt bin ich nur noch müde.

 

***

 

„Aufwachen, Rocky. Frühstück ist fertig.“ Oh Mann, wie kann ein so netter Mensch so grausam sein? Sanft streichen seine Finger über meine Wange und die Stelle beginnt augenblicklich zu kribbeln. Kaffeeduft steigt mir in die Nase und seine Fingerspitzen gleiten meinen Arm entlang. „Hey, das kitzelt … das ist unfair“, grummle ich ihn an und ernte dafür nur ein leises Kichern.

Verdammt, ich will Kaffee, aber ich hab eine Mörderlatte. So kann ich unmöglich aus dem Bett steigen. Unter Aufbietung all meiner Kraft öffne ich die Augen und setze mich schwerfällig auf. „Chris … Kaffee … jetzt ...“ Wortlos reicht er mir eine Tasse und ich knutsche ihn in Gedanken dafür ab. Der Kerl ist so perfekt, aber unerreichbar für mich. „Ich geb dir fünf Minuten, okay? Ich habe frische Brötchen geholt. Wenn du allerdings noch etwas von Charlies Himbeermarmelade willst, dann solltest du dich beeilen.“ Blitzschnell verschwindet er in Richtung Küche und ich kann wieder mal nur den Kopf schütteln. Chris und süße Sachen – eine unendliche Geschichte.

Schnell trinke ich die Tasse leer und trolle mich ins Bad. Heute Morgen brauche ich eine kalte Dusche, um richtig wach zu werden und den Aufstand in südlichen Gefilden in den Griff zu kriegen. Wütend starre ich meinen zuckenden Schwanz an. Vergiss es! Ich werde Chris ganz sicher nicht als Wichsvorlage missbrauchen.

Alles was du jetzt bekommst, sind Bilder von stinkenden feuchten Socken, Rote-Beete-Salat, Opas Gebiss im Wasserglas, niedliche unschuldige Hundewelpen, verdammt Chris. Wie ein Sturm rasen Bilder von ihm durch meinen Kopf und meine Hand entwickelt ein Eigenleben. Kaum habe ich meinen Schwanz fest in der Hand, genügt ein wenig Druck und ich komme wie ein Teenager beim ersten Mal. Unkontrolliert und geradezu explosiv. Für einen Moment kommt mein Herz ins Stolpern und ich stütze mich an der gefliesten Wand ab.

Was zur Hölle war das? Der ultimative Höhenflug weicht der nüchternen Realität, hinterlässt einen schalen Nachgeschmack. Du bist so erbärmlich, Elias. Er ist dein bester Freund und du wichst die Wand an, während du an ihn denkst. Zäh folgt mein Sperma der Erdanziehung und läuft langsam über die Fliesen nach unten. Ich stelle den Regler auf eiskalt und bleibe so lange unter dem Strahl stehen, bis ich anfange zu zittern. Du kranker Vollidiot.

Beim Frühstück bin ich erst einmal etwas einsilbig, aber das dürfte Chris nicht sonderlich verwundern. Ich bin eben kein Morgenmensch und brauche meine Aufwärmphase, bis man mit mir eine vernünftige Unterhaltung führen kann. Er kennt mich schließlich nicht anders und zwingt mir auch kein Gespräch auf, wofür ich ihm sehr dankbar bin.

Gedankenverloren beobachte ich ihn, wie er Unmengen von Himbeermarmelade auf seinen Brötchenhälften verteilt. Es wäre sicher einfacher, wenn er sie direkt aus dem Glas in den Mund löffeln würde. Mit der von ihm gewählten Variante rutscht sowieso die Hälfte einfach runter und landet mit etwas Glück wieder auf dem Teller. Ansonsten eben daneben. Scheint ihn nur überhaupt nicht zu stören. Er beißt unbeirrt in sein Brötchen und fängt die herabgetropfte Marmelade mit dem Finger auf, den er ebenso genüsslich ableckt. Verdammt, das ist Frühstücksporno!

Verzweifelt vergrabe ich mich hinter der Zeitung. Mein klingelndes Handy rettet mich aus dieser verzwickten Situation. Es ist Levi und er hat neue Infos zu unseren Übungsgruppen. Wir sollen ein paar Gasthörer aufnehmen und sie nicht gleich köpfen, wenn sie dumme Fragen stellen. Levi lacht, als ich in den Hörer knurre. Ich bin nicht glücklich über diese Nachricht. Es ist so schon schwer genug, die Leute in der Übung zur Mitarbeit zu bewegen. Wenn dann ständig nur noch Zwischenfragen kommen, geht der letzte Rest Motivation in der Gruppe auch noch flöten. Was soll's.
Ich sollte mich langsam an die Arbeit machen, denn schließlich macht sich die Korrektur auch nicht von allein.

Eine gute Stunde später bin ich endlich fertig und wärme noch schnell die Reste der Chinapfanne auf, die Charlie mir mitgegeben hat. Chris hat auch schon wieder Hunger, was mich jetzt nicht sehr erstaunt. Das schmächtige Kerlchen kann immer essen und sein Appetit steht meinem in nichts nach. Allerdings treibe ich mehr Sport und habe auch einige Muskeln, die eben eine gewisse Grundversorgung voraussetzen. Wie das bei Chris funktioniert ist mir ein echtes Rätsel. Sein Stoffwechsel muss ein wahres Atomkraftwerk sein und Höchstleistungen vollbringen, bei dem ganzen ungesunden Mist, den er tagtäglich in sich hineinstopft.

Nach dem Essen mache ich mich auf den Weg zur Uni und schwinge mich auf mein Bike. Das Fahren mit meiner Maschine hebt nicht nur meine Laune. Es ist für mich auch dieses kleine Stückchen wilde Freiheit, das ich mir nicht nehmen lasse. Ich passe in keine vorgefertigte Form und lasse mir von niemandem ungefragt irgendeinen Stempel aufdrücken. Ich bin, wie ich bin, mit all meinen bunten Facetten und dunklen Abgründen, die ich mit niemandem einfach so teilen werde. Mein Vertrauen bekommt man nicht geschenkt. Man muss es sich verdienen und auch das ist nicht einfach. Es gibt nicht sehr viele Menschen in meinem Umfeld, die mir so nahe kommen, dass sie mich verletzen könnten.

Allen voran natürlich Chris. Ihm würde ich mein Leben anvertrauen. Und dann sind da noch Levi, Armin und Theo, wobei unser Liebespaar derzeit der Totalausfall ist. Bei den beiden wabert rosa Zuckerguss durch die Gehirnwindungen und man sollte sich im Moment auf ihre Urteilskraft nicht hundertprozentig verlassen. Sie sind einfach verliebt und schweben auf Wolke 7 durch Raum und Zeit.

Endlich an der Uni angekommen, stelle ich mein Bike ab und eile mit großen Schritten in Richtung Mathe-Fakultät. Ich will vor der Übung noch kurz etwas mit Levi besprechen und habe deshalb nicht viel Zeit. Als ich den Kerl sehe, ist es bereits zu spät. Ich laufe volle Kanne in ihn hinein und bringe ihn damit zu Fall. Völlig überrumpelt bleibt er einen Moment liegen und sieht mich erschrocken an. Scheiße! Hoffentlich ist ihm nichts Schlimmeres passiert. Eilig gehe ich in die Hocke und umfasse seine Schultern. „Hey, alles okay bei dir? Hast du dir weh getan? Sorry, es ist meine Schuld. Ich habe nicht aufgepasst und dich einfach über den Haufen gerannt.“

Etwas zerknirscht sehe ich in ein Augenpaar, dessen Farbe ich nicht sofort definieren kann. Ein Hauch von Grün und hellem Braun … irgendwie jedenfalls. Sehr ungewöhnlich und verwirrend für mich. Der kleine Kerl hingegen scheint seine Fassung wiedergefunden zu haben, denn er lächelt mich an. „Hilfst du mir hoch, oder muss ich auf dem Boden sitzen bleiben?“ Ganz schön keck, der Kleine und sein Lächeln ist alles andere als schüchtern. Ich helfe ihm wieder auf die Beine und fühle mich für einen Moment etwas überfordert mit der Situation.

„Dafür schuldest du mir mindestens eine Tasse Kaffee und vielleicht ein Date?“ Der letzte Teil des Satzes klingt wie eine Frage und sein verschmitztes Lächeln schlägt auch den letzten Rest meiner Unsicherheit in die Flucht. Bingo! Endlich mal wieder ein Kerl, der nicht nur hammergeil aussieht, sondern auch in meiner Combo spielt. Auf Dauer ist es nämlich ziemlich frustrierend, absolut chancenlos zu sein, auch wenn die Hete noch so schnuckelig ist. „Später sehr gerne, aber im Moment eher nicht, bin etwas in Eile. Ich bin übrigens Elias.“ Sein Lächeln wird breiter und in meinem Bauch kribbelt es bereits.

„Kein Problem. Gib mir mal dein Handy, Elias. Dann kriegst du meine Nummer und rufst mich an, wenn du hier fertig bist.“ Wie ferngesteuert fische ich das Teil aus meiner Jackeninnentasche und halte es ihm unter die Nase. Flink tippt er seine Nummer ein und gibt es mir lächelnd zurück. „Dann bis später, Elias. Ich bin übrigens Martin.“ Er haucht mir noch einen flüchtigen Kuss auf die Wange und ist im nächsten Moment bereits in der Menge verschwunden.

Das war ungewöhnlich und unerwartet. Ich habe ein Date und kann es immer noch nicht fassen.
Martin.
Kopfschüttelnd und blöde grinsend mache ich mich auf den Weg zu Raum 1703. Erst die Arbeit, dann das Vergnügen.

6 - Christian

Die Tage und Wochen fließen ineinander über. Ich gehe zu meinen Vorlesungen und Proben, organisiere auf dem Heimweg schnell etwas zu essen. Danach verziehe ich mich wieder in mein Musikzimmer, das ich erst verlasse, wenn Rocky nach Hause kommt. Er erinnert mich regelmäßig daran, dass es auch noch ein Leben nach der Uni gibt.
Ich bin jedoch so in meinen Prüfungsvorbereiten versunken, dass es eine ganze Weile dauert, bis ich bemerkte, dass er oft ziemlich spät nach Hause kommt. Genauer gesagt bemerke ich es erst, als er unseren gemeinsamen Kinoabend mit den Jungs und mir absagt, um sich „mit jemandem zu treffen“. Immerhin besitzt er den Anstand dabei rot zu werden, was mir auch die nähere Bedeutung von „treffen“ klarmacht, ohne dass ich nachfragen muss. Schlagartig blitzen Bilder vor meinem inneren Auge auf, die ich gar nicht haben will. Elias, der einen Kerl küsst oder wer weiß was mit ihm anstellt.

Genug Anschauungsmaterial liefern Theo und Armin allemal, garniert mit etwas Fantasie und dem Wissen, wie Elias untendrunter aussieht, ergibt das ein Kopfkino in schockierend guter Qualität. Außerdem wird mir dadurch mal wieder bewusst, dass es schon eine ganze Weile her ist, dass ich, außer mit meiner Hand, Sex hatte. In meiner Hose wird es bedenklich eng. Ich schüttele den Kopf und werde doch den Gedanken an Elias, diesen Kerl und ihr „Treffen“ absolut nicht los. Netterweise bietet er an, mich auf dem Weg noch am Treffpunkt abzusetzen.
Da ich nicht die beleidigte Leberwurst spielen will, schnappe ich mir den Helm, den er mir entgegenhält und folge ihm nach unten. Einzig dieses komische Gefühl im Magen bleibt, obwohl es keinen tatsächlichen Grund dafür gibt, oder?
Elias sitzt schon auf seiner roten Thunderace, die trotz ihres Alters noch in einem super Zustand ist, wie er immer wieder stolz jedem erklärt, der es wissen will oder auch nicht. Heute hat er auf die Kombi verzichtet, und trägt nur die eng sitzende Lederhose mit passender Jacke zu einem grauen Shirt. Das ist anscheinend beim Waschen eingegangen, denn es sitzt verdammt eng. Auf das Motorrad steigen, den Ständer einklappen und starten sind eine einzige fließende Bewegung, die ich jedes Mal bewundernd in mich aufnehme. Ich könnte nicht mal geradeaus fahren mit so einem Teil. Während ich unter meinem Helm verschwinde, schließt er seine Jacke und setzt ebenfalls den Helm auf. Unterdessen hieve ich mich wesentlich weniger elegant auf die Maschine. Natürlich halte ich mich während der Fahrt an Elias fest, die coole Variante am Gepäckträger ist nicht so mein Fall. Ich hab so schon genug Angst runter zu fallen. Immerhin schaffe ich es zwischenzeitlich ihm nicht mehr jedes Mal die Luft aus den Lungen zu quetschen, wenn wir eine Kurve fahren und der Boden immer näher und näher kommt. Sogar den Reflex mich aufzusetzen, anstatt seiner Bewegung zu folgen, kann ich so relativ gut unterdrücken.
Vor unserer Stammkneipe hält Elias an und ich steige ab. Anscheinend hat er es eilig, zu seinem Date zu kommen, denn er macht nicht mal die Maschine aus. Gerade als ich mich frage, was ich jetzt mit dem Helm mache, streckt er mir die Hand entgegen.
„Gib her, den brauch ich sowieso für Martin“, erklärt er. Mit ein paar Handgriffen ist er auf dem Gepäckträger verstaut und Elias mit einem Winken um die Ecke verschwunden. Wie festgenagelt stehe ich noch an der Stelle, an der wir uns verabschiedet haben. Nicht nur, dass dieser Martin mir meinen Freund klaut, nein, jetzt bekommt er auch noch meinen Helm. Das wird ja immer besser. Dass es genau genommen der Ersatzhelm von Elias ist, stört mich bei meiner Miesepeterei gerade überhaupt nicht. Auch nicht, dass ich keinen Anspruch auf Elias und seine Zeit habe. Aber er war eben in den letzten Monaten einfach immer da, ohne ihn fühle ich mich seltsam alleine.
Der Druck in meinem Magen wird ebenfalls immer schlimmer, wie ich besorgt zur Kenntnis nehme. Eine Magen-Darm-Grippe kann ich jetzt so überhaupt nicht gebrauchen. Gedanklich mache ich mir einen Vermerk, in den nächsten Tagen ein bisschen auf meine Ernährung zu achten, vielleicht kann ich Schlimmeres noch irgendwie verhindern.
Innerlich vor mich hin schimpfend betrete ich die Kneipe, wo Armin, Theo, Levi und Carsten schon auf mich warten. Carsten studiert Lehramt als Hauptfach und ist mein Partner in den Sportprüfungen gewesen. Ohne ihn und Elias hätte ich es niemals geschafft, die Anforderungen zu erfüllen.
„Wo ist denn Eli?“, will Theo wissen und alle sehen mich an.
„Hat eine Verabredung“, gebe ich brummend zurück und hoffe, dass keine weiteren Auskünfte von mir verlangt werden. Mehr als dass es sich um einen „Martin“ handelt, kann ich sowieso nicht dazu sagen. Armin nickt lediglich neutral, die anderen führen ihre Unterhaltung dort fort, wo sie durch mein Eintreffen kurz unterbrochen wurde.
Ich folge dem Ganzen mit nur mäßigem Interesse. Erstens sind die Themen nur am Rande für mich interessant. Zweitens bin ich in Gedanken bei Elias und seinem Date.
Mietpreise interessieren mich schon aus dem Grund nicht, weil ich im Besitz einer Eigentumswohnung bin. Ein „Geschenk“ meines Vaters, mit dem er sich von mir freigekauft hat, als ich erklärte auf keinen Fall den Familienbetrieb zu übernehmen und stattdessen Musik zu studieren.
Meinen restlichen Lebensunterhalt bestreite ich aus dem Nebenjob als Musiklehrer bei der Volkshochschule sowie hin und wieder Privatunterricht. Beides allerdings nur, wenn es unbedingt nötig ist. Dank Stipendium und großzügigen monatlichen Zahlungen meiner Großeltern mütterlicherseits ist das mehr ein Hobby als Notwendigkeit. Manchmal habe ich fast ein schlechtes Gewissen, weil ich es trotz allem so leicht habe. Meine Mutter ist vor über zehn Jahren in einer Nacht und Nebel Aktion in ein buddhistisches Kloster abgehauen. Wahrscheinlich hat sie es mit meinem Vater nicht mehr ausgehalten. Dass ich auch noch da war, hatte sie anscheinend vergessen. Könnte auch sein, dass es ihr egal war. Es tut noch immer weh, daran zu denken. Aber die Zeit liegt lange hinter mir. Ich komme damit klar und meine Großeltern entschädigen mich für vieles. Sogar den Ärger mit meinem Vater. Aber an meinen Vater und was ich bei ihm aushalten musste, will ich nicht denken. Ab und an trudelt bei meinen Großeltern eine Karte ein, in der meine Mutter mitteilt, dass es ihr gut geht. Sie lässt mich grüßen und versichert mir, dass es ihr leidtut, dass sie mich zurückgelassen hat. Geschenkt. Ich komme auch sehr gut ohne sie klar.
Das mit der Wohnung wissen meine Freunde, den Rest dahinter nur Rocky. Und auch der kennt nicht die ganze Geschichte, die zum Bruch mit meinem Vater geführt hat. Mein dunkelstes Geheimnis. Aber anscheinend habe ich es nicht tief genug vergraben. Ich schlucke, als die Wut über diesen Mann sich ihren Weg nach oben sucht und mir die Luft abschnürt. Bei meinem Auszug hatte ich mir geschworen, dass er nie mehr diese Art von Macht über mich haben würde. Wütend verdränge ich sein Gesicht und seine Worte aus meinen Gedanken.
Zwischenzeitlich spekulieren Levi und Carsten über den nächsten Formel 1 Weltmeister. Ich kenne lediglich die Namen, die da genannt werden. Aber ich finde nicht, dass es als Sport gilt mit einem Auto stundenlang im Kreis herum zu fahren.
Armin fragt nach meinen Prüfungsstücken. Eine Weile reden wir über das Stück, das mir am meisten Kopfzerbrechen bereitet und verabreden uns schlussendlich zu einem gemeinsamen Übungsnachmittag. Armin hat noch Zeit bis zum Abschluss, spielt aber schon von Anfang an im Orchester des örtlichen Theaters. Wir haben das schon öfter gemacht. Außerdem überlegen wir schon seit geraumer Zeit, ob wir die ziemlich exotische Kombination aus Gitarre und Violine für unsere jeweilige Konzertmeisterprüfung verwenden.
Kurz darauf machen wir uns auf den Weg ins nahegelegene Kino. Neben mir turteln Armin und Theo verliebt herum. Automatisch frage ich mich, ob Elias auch gerade irgendwo händchenhaltend sitzt, oder was er gerade tut. Am Ende dieser Gedanken schüttele ich wieder unwillig den Kopf. Nicht an Elias und diesen unbekannten Martin denken, die irgendwo gemeinsam unterwegs sind. Dass sie mehr tun als Händchenhalten, will ich mir erst recht nicht vorstellen. Vom Film bekomme ich nur die Hälfte mit. Obwohl ich es absolut nicht will, stehlen sich trotzdem immer wieder entsprechende Gedanken in meinen Kopf, so dass ich nich nicht auf die Handlung konzentrieren kann.
Das Rebellieren meines Magens wird auch immer schlimmer. Deswegen verabschiede ich mich direkt nach dem Film von meinen Kumpels und mache mich auf den Heimweg. Erfreut stelle ich fest, dass Elias auch schon zuhause ist, denn sein Motorrad steht vor der Tür. Anscheinend ist sein Date nicht besonders gut gelaufen. Sonst wäre er sicherlich noch nicht wieder da. Fröhlich öffne ich die Haustür und gehe beschwingt die Treppe nach oben. Die Wohnung liegt im Dunkeln. Traurig, weil er anscheinend schon schläft, laufe ich durch den Flur. An der Tür zu Rockys Zimmer bleibe ich stehen. Meine Hand liegt schon auf dem Türgriff, als ich ein sanftes Lachen vernehme, das eindeutig von Elias stammt. Das Stöhnen gleich darauf lässt mich zusammenzucken. Obwohl ich nicht lauschen will, kann ich mich nicht bewegen. Erst das mehr als deutliche „Martin, scheiße, das ist geil“, reißt mich aus meiner Starre. So schnell es leise möglich ist, gehe ich weiter in mein Zimmer. Gleichzeitig versuche ich, die weiteren Geräusche auszublenden. So viel zum Thema nicht gut gelaufen. Ganz im Gegenteil. Das ist anscheinend zu gut gelaufen.
Gefühlte tausend Mal rede ich mir ein, dass ich mich für Rocky freue und es ihm gönne, dass er einen Freund hat. Ebenso oft mache ich mir klar, dass der Aufstand in meinen Shorts nichts damit zu tun hat, was gerade im Zimmer nebenan passiert. Und auch der ständig schlimmer werdende Druck in meinem Magen muss eine körperliche Ursache haben. Vielleicht verschwindet er auch einfach, wenn ich es mir lange genug einrede. Zumindest diesen Kampf verliere ich. Ich springe auf und renne ins Bad. Hinter mir knallt die Tür gegen die Wand. Da hänge ich aber schon über der Kloschüssel und werde von Krämpfen geschüttelt, während mein Mageninhalt mich verlässt. Zitternd und mit geschlossenen Augen lehne ich mich an die Wand. Warte bis der Schwindel nachlässt und ich mich wieder in mein Bett traue.
„Hey Chris, was ist denn los? Wieso bist du überhaupt schon wieder da?“, höre ich Elias auf einmal leise. Er muss direkt vor mir stehen. Langsam öffne ich die Augen. Sein Haar ist verstrubbelt, die Wangen rot. Sein Oberkörper wird von mehr als einem Knutschfleck geziert. Fragend sieht er mich an.
„Keine Ahnung, Magen verdorben oder so ...“, antworte ich. Ich atme langsam und tief ein, was ein Fehler ist. Elias riecht nach Kneipe, Schweiß, Gleitgel und Sperma. Diese Mischung und das Wissen, woher sie kommt, bringt meinen Magen erneut zum Drehen. Bittere Galle steigt in mir hoch.
Wortlos reicht Elias mir einen feuchten Waschlappen, als ich mich wieder aufrichte und nach Luft schnappe.
„Ich geh dann mal“, erklingt da auf einmal eine Stimme. Elias sieht hektisch zwischen mir und seinem Date hin und her. „Geh schon, ich leg mich hin und morgen ist alles wieder gut“, erkläre ich und schiebe ihn Richtung Tür. Der Typ – der mir vage bekannt vorkommt – umarmt Elias und küsst ihn zärtlich. Dieser wiederum schmiegt sich in an ihn und brummt leise. Vorsichtig gebe ich der Badezimmertür einen Schubs. Mehr muss ich nun wirklich nicht sehen. Erst als ich das Schließen einer weiteren Tür höre, trete ich den Rückweg in mein Bett an. Zur Sicherheit schnappe ich mir meine Funkkopfhörer. Die sind jedoch nicht nötig, denn ich schlafe fast sofort ein.

 

 

 

7 - Elias

Seitdem die Katze aus dem Sack ist, bekomme ich Chris nur noch ab und an zu Gesicht. Ich werde besagten Abend nicht so schnell vergessen. Als er Martin zum ersten Mal gesehen hat, war er sichtlich geschockt und nicht sehr glücklich darüber.
Okay, die ganze Kotzerei war an seinem Zustand auch nicht ganz unschuldig, aber trotzdem nur eine Randerscheinung. Chris sollte mehr auf sich und seinen Körper achten, aber in dieser Hinsicht ist er beratungsresistent.

Das Studium und meine Arbeit an der Uni nehmen nach wie vor den größten Teil meiner Zeit in Anspruch. Den Rest verbringe ich meist mit Martin, denn es hat mich voll erwischt. Der Kerl ist einfach nur geil und bringt mich regelmäßig um den Verstand.

Bereits seit unserem ersten Date sind wir ein Paar und beide mächtig verknallt. Es ist diese erfrischende unbeschwerte Art von Martin, die mich sofort geradezu verzaubert hat. Für ihn ist alles leicht und Probleme kennt er nur vom Hörensagen. Er steht wohl schon immer auf der Sonnenseite des Lebens und ist ein echter Glückspilz.

Irgendwie strahlt das Ganze wohl derzeit auf mich ab, denn im Moment läuft es einfach nur perfekt für mich. Mein Freundeskreis reagiert allerdings etwas verstimmt auf die ganze Situation, da ich jetzt eben sehr viel Zeit nur mit Martin verbringe. Da bleibt nicht mehr sehr viel Spielraum, um mit meinen Freunden abzuhängen.

Levi hat sich auch schon bitter bei mir beschwert, dass er mich selbst an der Uni nur noch kurz zu Gesicht bekommt. Ich konnte ihn mit einem gemeinsamen Billardabend in unserer Stammkneipe wieder etwas besänftigen. Vorerst zumindest. Dass Martin an dem Abend sowieso keine Zeit hatte, braucht er ja nicht unbedingt zu wissen. Schließlich will ich ja nicht, dass sich meine Freunde nur als Lückenbüßer sehen, denn sie sind mir nach wie vor wichtig.

Im Moment steht mein Leben auf dem Kopf. Der Grund für diesen Ausnahmezustand lässt seine zärtlichen Finger gerade ganz langsam über meine Haut gleiten. Begnadete Pianistenhände, die eben nicht nur einem Konzertflügel die wundervollsten Töne entlocken können.

Martin ist ein wahrer Meister. Was seine geschickten Hände, die weichen Lippen sowie seine freche Zunge alles anstellen können, treibt mich regelmäßig in den Wahnsinn. Durchaus positiv und niemals jugendfrei. Selbst ein simpler Kuss ist bei ihm ein Versprechen auf mehr.

„Na, mein Held, schon reif für's Finale oder willst du noch ein bisschen spielen?“ Meine Antwort ist nur noch ein dunkles Stöhnen, da er zwischenzeitlich an meinen Kronjuwelen lutscht. Der Kerl bringt mich noch um, aber das ist mir im Moment scheißegal. Viel zu lange habe ich auf Sex verzichtet und Martin hat mich aus meinem Dornröschenschlaf geweckt. Jetzt bin ich angefixt und fast schon süchtig nach der Sahneschnitte.

Ganz sicher wehre ich mich nicht gegen seinen unstillbaren Appetit, sondern lasse mich fallen in dieses unglaubliche Gefühl aus Begehren und roher Gier. Martin sieht mit seinen kupferroten Haaren und diesen geheimnisvollen Augen auch weniger wie ein Engel aus, sondern eher wie der leibhaftige Teufel. Die pure Sünde und absolut sinnlich mit seinem unwiderstehlichen Schlafzimmerblick, dem ich jedes Mal erliege. Der Hunger treibt uns allerdings anschließend aus dem Bett, aber auch das ist nicht verwunderlich bei dem exzessiven Bettsport, den wir derzeit betreiben.

Der Freiherr residiert standesgemäß in einer noblen Stadtvilla und seine zwei Mitbewohner sind ebenso wie er aus gutem Hause. Carl Titus von Strehlenberg-Würth ist ein Riese mit seinen fast zwei Metern Körpergröße und studiert Jura. Viktor Tristan zu Bückeldorf-Henning hat etwa meine Größe und studiert Kunst, was immer das heißen mag. Die drei haben jedenfalls keine Geldsorgen, denn ihre Daddys füllen monatlich ihre Bankkonten. Adel verpflichtet schließlich, auch wenn es hier nur um den schnöden Mammon geht.

Die Pokerrunden in ihrer WG sind jedenfalls ein Witz und für mich ein einträgliches Nebengeschäft. Carl und Viktor sind lausige Pokerspieler mit viel zu viel Kohle. Nur Martin kann ab und zu gegen mich gewinnen, aber das ist keine große Kunst. Manchmal gelingt es mir eben nicht, mein Pokerface ihm gegenüber aufrecht zu erhalten. Er kämpft oft mit unfairen Mitteln wie seinem Augenaufschlag oder dieses laszive Befeuchten seiner Lippen. Er weiß sehr genau, wie er meine Sinne durcheinanderbringen kann. Da hilft dann nur, den Blickkontakt zu vermeiden, wenn ich ein gutes Blatt habe.

Nur jetzt im Moment ist Carl an der Reihe. „Also gut, Berg. Jetzt lass mal die Hosen runter und leg die Karten auf den Tisch. Ich will sehen. Jede Glückssträhne geht schließlich irgendwann einmal zu Ende.“ Mit diesen Worten pfeffert er sein Blatt auf den Tisch. Er ist leicht angepisst und das ist auch wirklich kein Wunder bei dem miesen Blatt. Nur blöd für ihn, dass ich diesmal nicht bluffe. Ich hab ein Full House und grinse ihn an, als ich meine Karten aufdecke. Im Augenblick habe ich eine echte Glückssträhne und Carl sieht mich ernüchtert an.

„Und ich dachte wirklich für den Bruchteil einer Sekunde, ich hätte es diesmal geschafft und dich geschlagen. Du bist unglaublich, Berg, und hast dir den Einsatz redlich verdient. Verdammt, ich spiel wirklich gerne mit dir.“ Oh Mann, die Typen sind echt nicht normal, aber sie stehen zu ihrem Wort und das genügt mir.

„Genug gespielt. Ich will jetzt mit meinem Süßen allein weitermachen. Sorry, Jungs.“ Martin grinst schelmisch in die Runde und zieht mich am Arm nach oben in sein Zimmer. Wenn dieser Glanz in seinen Augen liegt, dann ist er in einer ganz besonderen Stimmung. Er öffnet ganz langsam die Knöpfe seines Hemds und lässt mich dabei nicht aus den Augen. Sein Lächeln ist ein Versprechen auf eine ganz besondere Nacht und die Vorfreude darauf löst ein Kribbeln in meinem Bauch aus. „Ich will dich, Eli … jetzt sofort.“ Schnell streift er sich seine restlichen Klamotten vom Körper und legt sich auf der Matratze auffordernd in Pose. Mit angewinkelten, gespreizten Beinen liegt er vollkommen entspannt vor mir und lächelt mich träge an. Zum Anbeißen. Wer könnte einer solchen Einladung schon widerstehen? Ich jedenfalls nicht, bin schließlich auch nur ein Kerl.

Am Morgen bin ich allerdings total kaputt, da mich Martin die halbe Nacht wachgehalten hat. Er ist ein echtes Energiebündel. Er brachte mich wieder mal an meine Grenzen, bis auch ihm endlich die Luft ausging und er erschöpft einschlief. Nicht, dass ich mich darüber beschweren will, aber er hat eine schier unersättliche Libido und kann oder will immer.
Das geht ganz schön an die Substanz, aber ich muss trotzdem grinsen. Erst hatte ich eine Ewigkeit überhaupt keinen Sex und deshalb schlaflose Nächte. Jetzt krieg ich nicht genug Schlaf wegen zu viel Bettsport und bin am jammern. Ein Luxusproblem also.

Nächstes Wochenende hat Martin sowieso etwas anderes vor und ich sollte mich zur Abwechslung um meine Freunde kümmern. Vor allen Dingen Chris braucht wieder etwas Unterstützung. Er übt wie ein Besessener für seine Prüfung, aber es fehlt die Leichtigkeit in seinem Spiel. Wie immer ist er zu verkrampft und kann sich nur sehr schwer entspannen. Das wäre allerdings dringend nötig, wenn er Bestleistungen abliefern möchte. Dass er es kann, weiß ich ja. Nur ihm fehlt wieder jegliches Selbstvertrauen und dafür gebe ich ganz allein seinem Vater die Schuld. Der Blödmann hat ihn erniedrigt und gedemütigt, kein gutes Haar an ihm gelassen. Was genau passiert ist, kann ich nur raten, aber die Andeutungen von Chris reichen mir aus, um ihn zu verachten.
Seine Mutter ist wenigstens nur abgehauen. Kann man ihr bei dem Mann auch nicht verdenken. Nur hat sie Chris damit im Stich gelassen und das nehme ich ihr übel. Aber dafür hat er jetzt ja mich und ich bleibe bei ihm.

Darum werde ich mich am kommenden Wochenende kümmern. Jetzt geht es erst einmal an die Uni, und zwar pronto. Die Vorlesung beginnt in einer knappen Stunde und ich muss vorher noch nach Hause. Duschen und frische Klamotten. Muss ja nicht jeder riechen, was ich am Wochenende im wahrsten Sinne des Wortes getrieben habe.

 

8 - Christian

Mit meinem Gitarrenkoffer in der Hand und der Notentasche unter den Arm geklemmt stecke ich den Schlüssel der Haustür gerade ins Schloss, als diese von innen geöffnet wird. Mit einem Schritt zur Seite kann ich mich noch vor dem herausstürmenden Martin in Sicherheit bringen, der mit einem „Ciao, Hoffmann“ an mir vorbeirauscht.
Nein wir sind keine Freunde geworden. Waren wir noch nie. Martin ist ein Arschloch allererster Güte. In der Nacht damals hatte ich ihn nur nicht erkannt. Am nächsten Morgen in der Küche allerdings schon. Rocky und er saßen einträchtig am Frühstückstisch und hielten Händchen, als ich mich auf die Suche nach einer Packung Zwieback gemacht hatte. Vor Schreck, wen Elias sich da angelacht hat, wäre ich beinahe gegen die Tür gelaufen.
Tja, wo die Liebe hinfällt. Elias ist jedenfalls glücklich mit diesem Idioten. Dass ich der Meinung bin, dass er für Martin Franz Joseph Freiherr von Geldern-Schwinning viel zu gut ist, interessiert da nicht. Auch nicht, dass ich persönlich gut und gerne auf dessen fast ständige Anwesenheit in unserer Wohnung verzichten könnte. Ich freue mich wirklich für Elias. Auch wenn mein Magen sich nach wie vor umdreht, wenn dieser Typ auch nur anruft und Rocky ins Telefon lächelt, während er ihm zuhört. Schlimmer wird es, wenn er bei uns übernachtet.

Zum Glück habe ich Funkkopfhörer …
Außerdem beruht diese Ablehnung auf Gegenseitigkeit. Der feine Freiherr kann mich ebenso wenig leiden, wie ich ihn. Warum weiß ich nicht mal. Wir haben weder die gleichen Kurse, immerhin ist der Herr ja Pianist, noch andere Berührungspunkte, an die ich mich erinnern könnte. Da ich keinen gesteigerten Wert auf seine Freundschaft lege, forsche ich auch nicht weiter nach. Wahrscheinlich ist er einfach nur ein egoistisches Arschloch. Elias zuliebe habe ich mich mit seiner Anwesenheit abgefunden. Meistens bin ich sowieso in meinem Arbeitszimmer und gebe meinen Stücken den letzten Schliff. Allerdings fehlt mir das Ohr von Elias, seine Meinung zu meinem Spiel. Meistens hat mir seine bloße Anwesenheit geholfen. Auf all das muss ich seit über einem Monat verzichten. Nächste Woche muss ich mich der Kommission zur Zwischenprüfung stellen. Mein Professor und auch Armin bestätigen mir regelmäßig, dass ich es locker schaffe, wenn ich nicht patze. Und obwohl die beiden vom Fach sind, wäre mir Elias' Meinung wichtig. Die bekomme ich aber nicht ohne den nervigen Martin. Und dessen Meinung interessiert mich einen feuchten Kehricht.
Als ich die Wohnung betrete, höre ich das Rauschen der Dusche. Gitarre und Notentasche stelle ich schnell ab, dann gehe ich in die Küche. Der Kaffee ist gerade fertig, da erscheint auch Rocky, mit Handtuch um die Hüfte. Wortlos halte ich ihm eine Tasse entgegen. „Du bist meine Rettung, Chaosprinz“, erklärt er und lächelt. „Und du bist frech“, gebe ich leicht patzig zurück und merke, dass ich tatsächlich sauer bin. Elias zieht lediglich eine Augenbraue nach oben und lässt das Ganze unkommentiert.
„Was ist denn für das Wochenende geplant?“, wechselt er das Thema. Aber auch da muss ich ihn enttäuschen. Ich halte mich seit Wochen aus den Aktivitäten mit unseren Freunden raus, da alle zu verletzungsträchtig für mich sind. Ein verstauchtes Handgelenk oder Schlimmeres kann ich nicht gebrauchen. Warum also das Glück herausfordern? Ich zucke unbestimmt mit den Schultern. „Keine Ahnung, ich glaub, morgen ist Paintball. Aber ich komm eh nicht mit, frag am besten Levi ...“, antworte ich dennoch. Elias mustert mich über den Rand seiner Tasse hinweg.
„Gehen wir heute Abend zu 'Pino'?“ Erneut ein anderes Thema, wie ich überrascht zur Kenntnis nehme. Normalerweise ist es Elias wichtig, dass wir uns regelmäßig mit Armin, Theo, Levi und Carsten treffen. Sozialkontakte und so. Deswegen besteht er auch meistens darauf, dass ich mitkomme, egal ob es mir gerade passt oder nicht. Auch die haben ihn, seit Martin, recht selten außerhalb der Uni zu sehen bekommen. „Nur du und ich“, fügt er noch an, da ich nicht gleich antworte. „Und jetzt höre ich mir mal an, wie weit du mit deinem Prüfungskram bist. Also los, pack deine Gitarre aus. Ich zieh mir noch schnell was an ...“ Ich spüre förmlich das Lächeln, das sich auf meinem Gesicht ausbreitet. Unteressen ist Elias schon auf dem Weg in sein Zimmer.
Mit aufgeregt kribbelndem Magen tue ich, was Elias vorgeschlagen hat und spiele ein paar einfache Tonleitern. Als Elias – jetzt in Jeans und T-Shirt – sich auf dem Boden mir gegenüber niedergelassen hat, fange ich an zu spielen. Und ganz plötzlich fühlt es sich wieder einfach und leicht an. Wie von selbst finde ich die Ruhe und Gelassenheit, die meine Anspannung ausgleichen. Die perfekte Balance zwischen Konzentration und Fallenlassen stellt sich ein. Die Kombination macht alles besser, schwereloser und doch hat mein Spiel genug Substanz.
Nach den drei Pflichtstücken kommt die Kür aus zwei Stücken, die ich ausgesucht habe. Beide liegen mir sehr am Herzen und ich hoffe, dass man es hört. In den letzten Wochen habe ich verbissen daran gearbeitet. Als ich fertig bin, herrscht noch eine Weile Schweigen. Ich muss aus dem Schwebegefühl sowieso erst mal auf die Erde zurückfinden. Elias geht es anscheinend nicht anders. Die Frühlingssonne scheint durchs Fenster, macht die kleinen Staubteilchen sichtbar, die durch die Luft wirbeln und geben ihm ein leicht verzaubertes Aussehen, wie er so mit geschlossenen Augen, sanft lächelnd dasitzt. Ich betrachte ihn einfach eine Weile, das ist ja nicht verboten. Schließlich muss ich warten, was er zu sagen hat. Dass ich ihn dabei ansehe und mir heiß und kalt abwechselnd wird, ist ja nicht meine Schuld.
„Das war wunderschön. Obwohl ich es schon tausendmal gehört habe in den letzten Wochen, heute war es besonders schön“, erklärt er leise. „So und jetzt habe ich Hunger“, meint er und springt gleichzeitig auf und zur Tür raus. Mir bleibt nicht mehr, als ihm verwirrt hinterher zu sehen. Eben lächelt er mich noch an und jetzt ergreift er fast die Flucht. Dass er wilder auf Essen ist als ich, ist auch was ganz Neues. Anscheinend reichen Luft und Liebe allein doch nicht aus. Oder das mit Martin ist nicht so ernst, wie es für mich aussieht. Andererseits, was geht es mich an.
„Eigentlich wollte ich noch duschen ...“, murmele ich leise, in dem Bewusstsein, dass er mich sowieso nicht hört. „Ich brauch nur schnell frische Klamotten“, rufe ich etwas lauter und bin schon auf dem Weg in mein Schlafzimmer. Wahllos ziehe ich ein Shirt und eine frische Hose heraus. Fünf Minuten später sind wir auch schon auf dem Weg zu 'Pino'. Dort ist unser Stammplatz noch frei und kurz darauf umgibt uns der Duft von Knoblauch, Salami und dem Senfdressing auf Rockys Salat. Vorsichtshalber schiebe ich das letzte Stückchen meiner Pizza schon auf dem Teller in seine Richtung. Grinsend schnappt Elias es sich mit dem üblichen „Darf ich“ und schon ist es Geschichte. Tapfer ignoriere ich die Hitzewallung, die die kurze Berührung unserer Hände verursacht und schiebe sie auf die Schärfe der Salami. Wir quatschen einfach drauf los. Für ernsthafte Gespräche bin ich viel zu kaputt. Und von einigen Themen will ich lieber gar nichts hören. Dazu gehören meine Prüfungen in zwei Wochen und ganz sicher Martin Franz Joseph Freiherr von Geldern-Schwinning.
„Was ist eigentlich mit Martin?“, will ich dann schließlich doch noch wissen. Elias zuckt mit den Schultern. „Hat was anderes vor …“, antwortet er traurig. Kurz nach Mitternacht schmeißt Pino uns dann raus. Langsam gehen wir die paar Straßen zu unserer Wohnung. Wir haben so viel geredet, dass mir absolut nichts mehr einfallen will. Außerdem mag ich es mit Elias zu schweigen. Einfach zu wissen, dass er da ist, genügt mir. Unversehens bleibt Elias stehen, sodass ich gegen ihn stoße. Romantisch beleuchtet vom Licht aus der Bar an der Ecke steht ein paar Meter entfernt ein knutschendes Pärchen, von dem mir eine Hälfte zwischenzeitlich gegen meinen Willen ziemlich vertraut geworden ist. Der Mensch, der sich nachdrücklich weigert, wenigstens meinen Vornamen zu verwenden, wenn er mit mir spricht, obwohl er mit meinem besten Freund schläft. Scheiße.
Neben mir erwacht Elias aus seiner Starre. Bevor ich reagieren kann, stampft er auf das Paar zu, reißt die mir unbekannte Hälfte weg, scheuert dem feinen Freiherr eine, die sich gewaschen hat. Tituliert diesen mit „Blödes Arschloch“ und marschiert dann davon, weiter in Richtung unserer Wohnung.
Im Vorbeilaufen nehme ich noch wahr, dass Martin sich die Backe reibt, während sein Freund tröstend auf ihn einredet.
So schnell ich kann, folge ich Elias. Der stürmt förmlich durch die Nacht, reagiert nicht auf meine Rufe. Erst an der Haustür hole ich ihn ein, da er anscheinend vor Wut den Schlüssel hat fallen lassen. Noch immer schweigend gehen wir nach oben und fallen nebeneinander auf die Couch. Elias starrt in die Dunkelheit. „Es tut mir leid ...“, flüstere ich und ziehe ihn einfach an mich. In meinem Kopf formen sich die Gedanken zu wilden Racheakten an dem Kerl, der meinem besten Freund gerade das Herz gebrochen hat.

9 - Elias

Scheiße tut das weh …

Ich kann immer noch nicht glauben, was ich eben mit eigenen Augen gesehen habe. Der Kerl hat mich nur verarscht und ich habe es zugelassen, ihm dabei sogar noch applaudiert. Ich bin ein solcher Idiot.

Wut und Enttäuschung wechseln sich minütlich ab, machen allerdings langsam dieser lähmenden Hilflosigkeit Platz. Bitte nicht schon wieder. Warum muss das ausgerechnet mir passieren? Ich war doch so vorsichtig in den letzten zwei Jahren. Wähnte mich dieses Mal in Sicherheit.

Die Gefühle waren doch auf beiden Seiten so echt und genauso stark. Ich kann mir das doch nicht alles nur eingebildet haben – oder doch? Wollte er nur ein Abenteuer? Einen willigen Deckhengst, der nicht allzu viele Fragen stellt und es ihm besorgt? War ich etwa die ganze Zeit nur einer unter vielen?

Sieht ganz so aus, als ob ich mich mal wieder auf die Fresse gepackt hätte … Natürlich mit Anlauf für den maximalen Schmerz. Wenn schon, denn schon. Halbe Sachen mache ich nie.

Chris umarmt mich immer noch und streicht tröstend über meinen Rücken. Seine geradezu zärtlichen Zuwendungen lösen meine innere Anspannung in Luft auf und mit einem Mal laufen mir die Tränen ungehindert über die Wangen.
Verdammt. Ich bin so froh, dass er hier ist, obwohl ich ihn die letzten Wochen sträflich vernachlässigt habe. Eigentlich verdiene ich seinen Trost überhaupt nicht. Als sein bester Freund war ich in der letzten Zeit ein absoluter Totalausfall.
Und wofür? Um meine Zeit mit diesem Arschloch zu verbringen, der mich wohl die ganze Zeit nur verarscht hat. Die nächste Stufe der Wut kocht in mir hoch und ich löse mich aus Chris' Umarmung.

„Ich brauche jetzt was Starkes zu trinken. Willst du auch etwas?“, frage ich ihn lediglich pro forma, denn ich für meinen Teil werde heute ganz sicher nicht nüchtern bleiben. Er kann sich ja anschließen, wenn er das möchte oder mir dabei zusehen, wie ich mir die Kante gebe. Seine Entscheidung. Natürlich schüttelt er nur den Kopf. Chris trinkt äußerst selten Alkohol. Er mag das watteartige Gefühl in seinem Kopf nicht.

Ich jedenfalls nehme Whiskey, da ich Wodka nicht besonders mag und der Rest unserer Sammlung nicht genug knallt. Heute brauche ich wirklich Hochprozentiges mit dem großen V für vergessen.

Das erste Glas kippe ich auf ex runter und heiße das schmerzhafte Brennen in meiner Kehle willkommen.
Für das zweite Glas brauche ich dann doch ein paar Minuten und diese köstliche Leichtigkeit legt sich bereits auf mein Gemüt.
Als ich mir mein drittes Glas einschenke, legt mir Chris seine Hand auf den Arm und sieht mich ermahnend an. „Rocky, das ist doch auch keine Lösung. Lass uns reden oder geh ins Bett.“ Ungeachtet seines Protests leere ich auch das dritte Glas und sehe ihn angriffslustig an.
„Ach ja? Über was willst du denn reden, Schätzchen? Über meine Dummheit, mich wieder mal zum Affen gemacht zu haben? Darüber, dass ich mich immer in die Falschen verliebe? Lass gut sein, Prinzessin.“ Ich stoße noch einen verächtlichen Laut aus und widme mich wieder meiner derzeitigen Lieblingsbeschäftigung.

Die vierte Füllung der bernsteinfarbenen Flüssigkeit findet ihren Weg in mein Glas. Ohne zu zögern, nehme ich einen kräftigen Schluck und fange grundlos einfach zu lachen an. Chris schaut mich ganz entgeistert an, als ob ich jetzt vollkommen den Verstand verloren hätte.

Sein fragendes Gesicht allerdings regt meine Lachmuskeln nur noch mehr an. Ein infernalischer Lachflash schüttelt mich kräftig durch. Irgendwann liege ich erschöpft auf dem Sofa und japse nur noch nach Luft, als der Anfall vorbei ist. Eine bleierne Müdigkeit ergreift von mir Besitz und ich möchte nur noch schlafen, kuschle mich an meinen besten Freund.
„Komm Rocky, ich bring dich ins Bett. Hier kannst du nicht liegenbleiben, sonst spürst du morgen jeden einzelnen Knochen.“ Mit letzter Kraftanstrengung und der Hilfe von Chris schaffe ich es tatsächlich nochmals in die Senkrechte, allerdings schwanke ich mittlerweile bedenklich. Mit der tatkräftigen Unterstützung von meinem besten Freund schaffe ich es, mich wankend bis zu meinem Bett durchzukämpfen.

Wie ein nasser Sack falle ich auf die Matratze und will nur noch schlafen … am liebsten für die nächsten zehn Jahre oder so. Zärtliche Hände streichen mir meine widerspenstigen Haarsträhnen aus dem Gesicht. Ein wohliges Gefühl von Zuhause durchströmt mich. Dieser frische Duft von Minze und Zitrone hüllt mich ein – unverwechselbar Chris. Was würde ich nur ohne ihn machen?

Entschlossen zieht er meine Jeans nach unten und hat erhebliche Mühe damit. Ich hingegen liege wie ein Stein im Bett und kann mich nicht bewegen. Einzig in meinem Kopf dreht sich alles, wenn ich die Augen schließe. Öffne ich sie allerdings, dann bewegen sich Möbel und Wände. Einzig Chris ist meine Konstante, wie immer. Mein Anker in diesem beschissenen Leben.

„Chris, wo bist du?“, frage ich panisch, da er aus meinem Sichtfeld verschwunden ist. Ich will jetzt nicht allein sein und brauche seine Nähe, die mir ein Gefühl von Sicherheit gibt.
Warum zur Hölle steht der Kerl nur auf Frauen? Er wäre perfekt für mich. Er würde mich niemals so hintergehen. Jedenfalls war er seiner eigenen Schilderung nach immer treu. Alles andere passt auch nicht zu ihm. Seine Loyalität seinen Freunden gegenüber ist außerdem unerschütterlich.
„Ich bin hier, Rocky. Hab nur schnell einen Eimer aus dem Bad geholt, falls du dich übergeben musst.“ Sein Lächeln taucht in meinem Blickfeld auf und sofort werde ich wieder ruhig.
„Bleibst du bei mir, Prinzessin? Ich will jetzt nicht allein sein.“ Die Worte kommen nur noch schleppend über meine Lippen und diese unsägliche Schwere legt sich auf meinen Körper.
„Na klar, mein Großer. Rutsch mal rüber“, erwidert er nach kurzem Zögern. Die Matratze neben mir senkt sich und ich spüre seinen warmen Körper neben mir.
„Darf ich deine Hand halten, Chris?“, frage ich mit schläfriger Stimme und habe mittlerweile Mühe, die Augen zu öffnen. Als er meine Hand mit der seinen umschließt, atme ich erleichtert aus. Er ist immer da, hat einen festen Platz in meinem Leben … und in meinem Herzen.

„Ich hab dich lieb ...“, flüstere ich nur noch, denn die Müdigkeit holt mich endgültig ein. Der Griff um meine Hand wird kurzzeitig etwas fester und sein warmer Körper schmiegt sich noch enger an mich. „Ich dich auch, Rocky ...“, höre ich von ganz weit her und mit diesem warmen Gefühl in meiner Brust schlafe ich augenblicklich ein.

 

***

 

Der nächste Morgen lässt sich mit einem einzigen Wort beschreiben – grausam. Mein Kopf dröhnt wie mit einem Vorschlaghammer bearbeitet. Meine Haarwurzeln fühlen sich an wie tausende Nadeln, die in meinem Kopf stecken. Mein Mund ist so trocken wie die Sahara und meine Zunge hat die gefühlte Größe eines Tennisballs.
Mein gesamter Körper ist eine einzige Schmerzzone und ich fühle mich so mies, dass ich wahrscheinlich den Tag nicht überlebe. Alles andere würde an ein Wunder grenzen. Ich werde hier ganz einfach ruhig liegenbleiben und mich meinem Schicksal ergeben. Ade, du schöne Welt.

Die Kopfschmerzen sind mörderisch, aber jetzt meldet sich zu allem Überfluss auch noch meine Blase und das kann ich nicht ignorieren, selbst wenn ich wollte. Mühsam setze ich mich auf und ein leichtes Schwindelgefühl erfasst mich, bevor das Hämmern in meinem Kopf noch stärker wird. Verdammt.

Ich hätte gestern nicht so viel Whiskey trinken sollen, da ich zuvor in der Pizzeria bereits einige Bierchen hatte. Mit der sinnlosen Sauferei habe ich alles nur noch schlimmer gemacht und das ist die ganze Sache nicht wert. Der Kerl hat mich nur verarscht und ich habe es zu spät herausgefunden. Ende der Geschichte.

Deshalb muss man sich allerdings nicht halb ins Koma saufen, denn das ist zu viel der Ehre für das Arschloch. Egal. Jetzt geht’s ans Überleben, also einen Schritt nach dem anderen. Erst mal pinkeln und dann brauche ich unbedingt Kaffee.

Als ich in die Küche komme, erwartet mich schon eine dampfende Tasse Kaffee. Chris steht am Herd und brutzelt etwas. „Guten Morgen, Rocky. Du siehst echt scheiße aus. Pancakes?“

Schwerfällig lasse ich mich auf dem Stuhl vor der Tasse nieder und greife nach dem lebensrettenden Gebräu. Gott, tut das gut. Kaffee am Morgen ist immer mein Muntermacher, aber heute rettet er mir praktisch das Leben. Ich kann förmlich spüren, wie das Koffein in Höchstgeschwindigkeit durch meinen Körper rauscht und damit auch die letzte Zelle aus dem Tiefschlaf holt.

Chris lächelt mich an und stellt mir wortlos einen gefüllten Teller vor die Nase. Pancakes mit Blaubeeren, viel Sahne und dick mit Puderzucker bestreut. Ein Zuckerschock heute Morgen und genau das Richtige für mich. „Danke Prinzessin, du bist meine Rettung und nicht nur heute.“ Halb verhungert mache ich mich über mein Frühstück her und esse so lange, bis ich fast platze.

Als ich mich im Stuhl zurücklehne, schaut mich Chris besorgt an. Zeit für eine Erklärung. „Danke, dass du gestern für mich da warst. Allein wäre das vermutlich wieder ziemlich übel ausgegangen.“ Wie immer winkt er beschwichtigend ab. „Kein Thema,. Wir sind Freunde, schon vergessen?“ Er sagt das so leicht, aber es ist nicht selbstverständlich.

„Ich will nicht leugnen, dass mich die Sache mit Martin hart getroffen hat, aber ich weigere mich, jetzt in Selbstmitleid zu zerfließen. Die letzten Wochen habe ich meine Freunde arg vernachlässigt, dich am allermeisten. Um das halbwegs wieder auszugleichen, werde ich dich jetzt tatkräftig bei deinen Prüfungsvorbereitungen unterstützen.“ Noch ist er nicht ganz überzeugt, aber er unterbricht mich nicht.

„Ich werde mir alle deine Stücke anhören, gebe dir Ratschläge, wenn du sie möchtest. Außerdem bekommst du täglich eine Massage zur Entspannung, ich erledige den Einkauf und kümmere mich auch ums Abendessen. Das Komplettpaket also. In Ordnung?“ Er sieht mich erstaunt an, aber die anfängliche Skepsis weicht einem freudigen Lächeln.

„Klar doch. Ich freu mich wirklich, aber du musst das nicht machen.“ Typisch Chris. Nur keine Umstände, seinetwegen schon gar nicht. „Ich will es aber genau so. Punkt. Am besten fangen wir gleich damit an. Hol deine Gitarre, Prinzessin.“

Mein Tatendrang ist endlich wieder erwacht und dank jeder Menge Kaffee samt Schmerztabletten bin ich auch wieder ein Mensch. Jetzt werde ich für Chris der Freund sein, den er verdient hat, auch wenn ich den Mann niemals haben kann.

Wenigstens beste Freunde ...

10 - Christian

Whiskeyatem, Schnarchgeräusche und ein Arm, der über meine Brust gelegt ist, sind das Erste, was mir am nächsten Morgen auffällt. Mit der Erkenntnis, dass ich bei Elias im Bett liege, kehrt auch die vollständige Erinnerung an gestern Abend zurück. Sofort erinnere ich mich an den Schmerz, den ich in Rockys Augen gesehen habe. Sofort verschiffe ich Martin gedanklich, in seinen Flügel gesteckt, nach Sibirien. Die Idee hatte ich gestern schon kurz, wurde dann aber von Elias abgelenkt.
„Ich hab dich lieb.“
Hat er das wirklich gesagt?
„Ich hab dich lieb, Chris.“
Ein kleiner Satz, der mich vollkommen verwirrt. Ich meine klar, wir sind Freunde. Man mag seine Freunde. Aber ist mögen das Gleiche wie lieb haben? Es hört sich jedenfalls nach mehr an. Andererseits ist Rocky mir auch wichtiger, als der Rest der Clique. Was nicht bedeutet, dass ich Armin, Theo, Levi oder Carsten nicht mag. Es ist nur eben anders. Dabei habe ich mir geschworen, dass mir das nie wieder passieren wird. Nie wieder solche Gefühle. Nicht mal ansatzweise.
Es ist für mich keine Frage, dass ich für Elias da bin. Er wird dringend Ablenkung brauchen, so viel ist klar. Auch wenn dieser Arsch nicht eine einzige seiner Tränen verdient hat. Eigentlich denke ich, dass hinter dem Ausbruch gestern sowieso mehr steckte, als der Betrug von Martin. Das gedankliche „Hab ich gleich gewusst“ schlucke ich schnell hinunter. Erneut spiele ich kurz mit dem Gedanken, in die Frachtkosten eines Flügels, von mir aus auch nach Australien zu investieren.
Elias murmelt etwas Unverständliches an meine Schulter.
„Ich hab dich lieb.“
Es lässt mich einfach nicht los. Sachte winde ich mich aus Elias' Umarmung und lehne mich mit dem Rücken an die Wand, um meinen schlafenden Freund zu betrachten. Sogar jetzt im Schlaf kann ich seinen Schmerz sehen und wünschte, ich könnte ihm wenigstens einen Teil davon abnehmen. Aber vielleicht kann ich das sogar. Wie ich ihn kenne, werden wir über diese Sache kaum oder gar nicht mehr reden. Mein Rocky wird tun, was er immer tut, wenn er seine Gefühle gerade nicht brauchen kann. Er wird sich jemanden suchen, den er mit seiner Aufmerksamkeit überschütten kann. Also wahrscheinlich mich. Wenn ich ehrlich bin, freue ich mich sogar darauf, endlich wieder mehr Zeit mit ihm zu verbringen. Die Wochenenden im Schlafanzug - oder in Rockys Fall Shorts und T-Shirt - auf der Couch zu verbringen, Playstation spielen, Filme anschauen, die wir schon auswendig kennen. Haufenweise Süßigkeiten – wobei dazu bei ihm auch Bananen und Äpfel zählen - vertilgen und am Abend glücklich und zufrieden ins Bett fallen. Wahrscheinlich muss ich auch die eine oder andere Runde durch den Park oder um den See joggen. Wenn nicht gar mit ins Studio kommen.
Bis es soweit ist, muss ich aber diese blöde, vermaledeite, scheiß Zwischenprüfung hinter mich bringen. Viel Zeit habe ich sowieso nicht mehr und in den letzten Tagen habe ich das Gefühl, von Tag zu Tag schlechter zu werden, statt besser. Wahrscheinlich habe ich es mal wieder übertrieben und zu viel gearbeitet. Deswegen geht jetzt gar nichts mehr. Bei Sportlern würde man es „Overreaching“ nennen.
„Ich hab dich lieb.“
Hab ich das je zu einer meiner Ex-Freundinnen gesagt? Ich glaube nicht. War das vielleicht der Fehler? Hat es deswegen nie länger als ein paar Wochen funktioniert? Was bedeutet es dann, dass es mir bei Rocky so leicht fiel, diese Worte zu erwidern? Eine andere Stimme drängt sich in den Vordergrund.
„Kannst du mal was anders als diesen Tuckenkram anschauen?“
„Was kommt nach dem Tanzen? Häkeln und Stricken für Anfänger? Werd endlich ein Mann.“
Brummend schüttele ich leicht den Kopf. Schon wieder mein Vater. Er hat an mir niemals ein gutes Haar gelassen. Nach dem Weggang meiner Mutter erst recht nicht. Aber was kann ich denn dafür, dass ich ein künstlerischer Typ bin? Ich mochte Musik schon immer. Bedeutet ja nicht, dass ich deswegen weniger ein Mann bin. Aber für meinen herrischen Vater natürlich absolut untragbar einen solchen Sohn zu haben. Einen Sohn, der lieber Musicals ansieht als Actionfilme, der die Theater AG dem Fußballverein vorzieht. Wobei ich die zwei Jahre Tennis noch heute in guter Erinnerung habe. Natürlich nahm er mir auch das weg, als er merkte, dass ich zu viel Spaß daran hatte. Einen funktionierenden Vereinsbetrieb gab es zu der Zeit bei uns nicht. Björn und ich verstanden uns prächtig. Er war nur ein paar Jahre älter als ich. Immer gut gelaunt, niemals laut oder barsch. Auch beim tausendsten Mal hat er mir meine Fehler geduldig erklärt und Bewegungsabläufe mit mir trainiert. Nach den Musikstunden meine liebste Zeit als Teenager.
Ich reibe mir die Augen, schüttele den Kopf. Mein Vater hat hier absolut nichts zu suchen. Auch die Erinnerungen an Björn kann ich überhaupt nicht gebrauchen. Das ist alles längst vorbei. Vorsichtig klettere ich über Elias aus dem Bett. Ich beschließe, gleich heute mit meinem Ablenkungsprogramm gegen Liebeskummer anzufangen. Mir helfen da ja immer leckere Kuchen, vorzugsweise von Charlie. So gut wie sie bin ich allerdings nicht. Vom letzten Einkauf habe ich noch zwei Flaschen Backmischung für Pancakes in der Speisekammer. Ein Gelee für oben drauf wird auch aufzutreiben sein. Außerdem brauche ich Kaffee. Und Elias kann eine Tasse davon sicher auch nicht schaden.
Im Bad lege ich die Aspirinpackung auf die Ablage über dem Waschbecken, damit Elias nicht lange suchen muss. Dann schwinge ich mich in die Küche. Eine glückliche Fügung sorgt dafür, dass wir sogar noch genügend Milch vorrätig haben. In einem Anfall von Wagemut gebe ich noch Blaubeeren in den Teig und backe die kleinen Teilchen. Natürlich gibt es noch Sprühsahne und in der hintersten Ecke des Gewürzschrankes finde ich den Puderzucker. Wahrscheinlich ein Überbleibsel von Rahel. Leichte Wehmut überkommt mich. Wir hatten eine schöne Zeit. Nach wie vor ist sie eine meiner liebsten Freundinnen. Wir sehen uns oft an der Fakultät, wenn ich etwas Zeit habe, schleiche ich mich in die Ballettklasse und sehe ihr beim Training zu. Dass sie mit ihrem Freund – auch ein Tänzer – glücklich ist, freut mich ungemein. Die beiden sind ein tolles Paar, auf dem Parkett und auch außerhalb. Allerdings bin ich auch ein bisschen neidisch.
In derartige Gedanken versunken und dem vagen Vorsatz, mir dringend eine Freundin zu suchen, kann ich die erste Ladung Pfannkuchen so gerade vor dem Verbrennen retten. Während ich den Rest sorgsamer behandele, vernichte ich die halbverkohlten Teile. Für Rocky gibt es nur die goldbraunen, abgetropft auf dem Küchenkrepp, damit er nicht gar so wegen der Kalorien jammert. Als er jedoch die Küche betritt, lässt er sich nur völlig fertig auf seinen Stuhl fallen. Er hebt nicht mal missbilligend die Augenbraue, als ich großzügig Sahne auf seinen Teller sprühe.
Er sieht traurig und verletzt aus. Logischerweise. Aber natürlich reden wir nicht mehr über gestern, oder heute Nacht. Viel zu privat. Wahrscheinlich bereut er sogar, dass er sich mir gegenüber so hat gehen lassen. Dankbar nehme ich zur Kenntnis, dass er mich nicht um Verschwiegenheit unseren Freunden gegenüber bittet. Er weiß, dass ich kein Wort darüber verlieren werde. Wir vertrauen uns gegenseitig, von Anfang an.
Er versucht, zuversichtlich zu klingen, als er mir eröffnet, dass er in den nächsten Tagen zu meinem persönlichen Stalker werden wird. Wenn es das ist, was ihm hilft, dann nur zu. Ich werde mich nicht beschweren. In den letzten Wochen hat er mir einfach zu sehr gefehlt.

Nach dem Frühstück hole ich jedoch nicht meine Gitarre, sondern schlüpfe in meine Sportsachen. Noch ist es draußen nicht zu heiß und eine lockere Joggingrunde wird sicher den Rest seines Katers vertreiben. Außerdem bietet eben jener mir die Möglichkeit, mit Elias mithalten zu können, wozu ich unter normalen Umständen keine Chance habe. Mein Ausgleichssport ist Schwimmen, was ich aber seit Monaten schmählich vernachlässigt habe. Elias ist gelinde gesagt überrascht, als ich ihm so gegenüber trete, fügt sich jedoch relativ schnell und zieht sich um. Zwei Runden um den See später frage ich mich, was mich zu der irrigen Annahme gebracht hat, heute als Erster zurück am Auto zu sein. Keuchend und mit einem leichten Anflug von Sternchen vor den Augen schleppe ich mich den letzten Anstieg hoch. Elias steht grinsend, nicht im Geringsten außer Atem, da und hält mir eine Wasserflasche entgegen. Davon ausgehend, dass er sich vielleicht den schlimmsten Frust von der Seele gelaufen hat, gebe ich meinem Plan trotzdem fünf Punkte. Einen Extrapunkt für das Grinsen, das mir durch Mark und Bein geht, weil es sogar aus seinen blauen Augen blitzt. Ein bisschen von dem „Vor-Martin-Gefühl“ stellt sich zwischen uns ein.
„Ich hab dich lieb“, spult mein Hirn erneut die Erinnerung ab. „Ich dich auch“, antwortet die andere Hälfte dieses seltsamen Organs. Ich denke einfach nicht weiter darüber nach. In Krisenzeiten ist eben alles ein bisschen extremer als sonst. Auch die Gefühle, die man für seine Freunde hat.

 

11 - Elias

Chris überrascht mich immer wieder aufs Neue. Er ging am Morgen nach meinem Absturz mit mir joggen. Noch dazu absolut freiwillig und das Ganze war sogar seine Idee. Kein Witz. Mir ist durchaus klar, dass er solche Dinge nur mir zuliebe tut und sich regelrecht opfert. Danach war er natürlich fix und fertig, aber ebenso lag ein gewisser Triumph in seinen Augen. Er will mir über meinen Schmerz hinweghelfen und da ist ihm jedes Mittel recht.

Wenn das nur so einfach wäre. Die Geschichte von damals wiegt noch immer schwer und die Erinnerungen an Hagen holen mich im Moment wieder verstärkt ein. Belogen, benutzt, verletzt und weggeworfen. Diese Worte beschreiben im Groben mein Verhältnis zu Hagen. Es gab seitdem niemanden mehr, dem ich mich so sehr geöffnet habe. Nur darum konnte er damals mein Vertrauen so schändlich missbrauchen und mich schutzlos treffen, fast vernichten.

Aber aus Fehlern lernt man irgendwann. Meine Schutzmauer steht seitdem perfekt, nur bei Martin war ich wieder etwas unvorsichtig. Vielleicht auch einfach nur zu ausgehungert nach körperlicher Nähe und sicher auch entsprechend notgeil. Ich habe mir etwas vorgemacht und mir deshalb eine blutige Nase geholt. Auch diese Enttäuschung werde ich überleben und schon bald sind es hoffentlich nur noch kleine Narben, die an diese Episode erinnern. Das macht mich nicht kaputt. Diesmal nicht.
Schließlich habe ich Chris an meiner Seite und er glaubt an mich, weckt meine innere Stärke. Er ist ein echter Kämpfer, auch wenn er auf andere sehr verletzlich wirkt. Das kleine Kerlchen bedeutet mir mittlerweile sehr viel und ist ein wichtiger Teil in meinem Leben.

Zugegeben. Ich war an besagtem Abend sehr betrunken und man kann meine motorischen Fähigkeiten durchaus als eingeschränkt bezeichnen. Trotzdem habe ich meine letzten Worte nicht vergessen und auch das Gefühl nicht, dass sie in mir ausgelöst haben.

Ich hab dich lieb …

Noch niemals zuvor gingen mir diese Worte so leicht über die Lippen wie bei Chris. Dieses tiefe Empfinden kam von ganzem Herzen, auch wenn ich sturzbetrunken war. Ich habe es in dem Moment so empfunden.

Ich dich auch, Rocky …

Seine Antwort darauf war ebenfalls keine Einbildung, sondern ganz real. Geflüstert oder nicht – ich habe sie verstanden. Zufrieden und glücklich wie selten bin ich eingeschlafen.

Nur der höllische Kater am Morgen danach passte nicht ganz in mein Weltbild. Ich hasse es einfach, wenn ich mir wieder unkontrolliert die Kante gebe, und schwöre mir jedes Mal, es nicht mehr zu tun. Leider war das wieder so ein beschissener Ausnahmetag und dann muss ich eben dafür büßen. Eine andere Entschuldigung dafür habe ich nicht.

Genug trübe Gedanken. Jetzt heißt es erst einmal, schnell etwas zu essen besorgen und dann ab nach Hause. Meine Vorlesung war wieder ziemlich anstrengend, da ich mich momentan nur sehr schwer konzentrieren kann. Trotzdem wollte ich sie nicht sausen lassen. Wer feiert, der kann auch arbeiten. Ein weiser Spruch meines Großvaters. Ich war zwar nicht feiern, aber schließlich habe ich mir das alles selbst eingebrockt. Außerdem ist es nicht einfach, wenn man von seiner Familie so geprägt wird und in vielen Dingen genauso tickt wie die Älteren. Gradlinig und ehrlich. Kneifen gilt bei mir nicht. Aber man kann eben nicht aus seiner Haut und wahrscheinlich ist das gut so.

Zügig fahre ich mit dem Bike zum Chinesen ein paar Straßen weiter. Lian, ein guter Freund von mir, betreibt mit seinen Brüdern ein kleines Lokal, das Orchid Dragon, in Uninähe und packt für Chris wie immer noch einen extra Nachtisch ein. Wir sind sehr oft hier, da sich die Preise in Grenzen halten und es trotzdem sehr lecker schmeckt. Lian ringt mir noch das Versprechen ab, demnächst mit Chris wieder an einem privaten Testessen teilzunehmen, was mir nicht besonders schwerfällt. Die Brüder Chen sind wahre Meister am Herd und ich esse für mein Leben gerne chinesisch.

Dick bepackt mache ich mich auf den Weg nach Hause, nachdem ich die Köstlichkeiten sicher verstaut habe. Chris dürfte mittlerweile zuhause sein, denn er hat heute nur eine kurze Übungseinheit mit Armin und sicher schon entsprechend Kohldampf. Mal sehen, wie es für ihn gelaufen ist. So wie ich meinen Chaoten kenne, macht er sich nur selbst wieder total verrückt. Er ist wirklich gut und sein Spiel berührt mich auf einer ganz anderen Ebene. Fast so, als würde er nur für mich spielen und seine Gefühle in Töne kleiden, um sie für mich hörbar zu machen.

Vermutlich hört sich das total verrückt an, aber ich kann die Hoffnung nicht aufgeben, dass ich ihn vielleicht doch irgendwann ganz für mich haben kann.

… ich dich auch, Rocky …

Es sind diese paar Worte, an denen ich mich verzweifelt festhalte und die mir nicht mehr aus dem Kopf gehen. Trotzdem muss ich vorsichtig sein, darf nicht ungestüm vorpreschen und ihn damit überrumpeln. Schließlich will ich nicht nur den Mann für mich, sondern ich möchte auch meinen besten Freund behalten. Ich will beides, das ist mir inzwischen klar geworden. Das Gesamtpaket Chris mit all seinen Verrücktheiten und Macken. Niemand kennt mich besser als er. Ich vertraue ihm. Uneingeschränkt.

Als ich die Wohnungstür aufschließe, kann ich ihn schon hören. Abrupt unterbricht er sein Spiel und schimpft vor sich hin. „Verdammter Mist … das klappt nie … ich kann es einfach nicht … Scheiße …“

Das letzte Wort wird bereits von einem herzzerreißenden Schluchzen begleitet und versetzt mich in Alarmbereitschaft. Schnell stelle ich die Tüten vom Chinesen ab und eile in sein Musikzimmer. Wie ein Häufchen Elend lehnt er in der Ecke an der Wand und lässt seinen Tränen freien Lauf. Er wird heftig durchgeschüttelt und zitternde Schluchzer verlassen seine Kehle.

„Hey Kleiner, bitte nicht weinen. Komm her und erzähl mir, was los ist.“ Immer noch schluchzend und mit tränennassem Gesicht wirft er sich in meine Arme. Ich drücke ihn an mich und bette seinen Kopf auf meine Schulter. „Ganz ruhig, Chris, ich bin ja da.“

Eine Welle des Mitgefühls strömt auf mich ein. Es tut mir in der Seele weh, dass er so sehr an sich und seinen Fähigkeiten zweifelt. In Wahrheit ist er wirklich gut, geradezu brillant, aber er macht sich selbst und sein Spiel andauernd schlecht.

Aber Mitgefühl ist nicht das Einzige, das ich empfinde. Mein Beschützerinstinkt springt bei ihm voll an und ich streiche ihm tröstend über den Rücken. Das fühlt sich fantastisch an und eine Sehnsucht kriecht langsam in mir hoch, die ich seit Langem zu verdrängen versuche. Es wäre perfekt, er wäre perfekt. Sein unverwechselbarer Duft hüllt mich ein und lässt mich für einen Moment träumen.

Ohne darüber nachzudenken, hauche ich ihm einen Kuss auf die Stirn und besiegle damit meinen Untergang. Ich bin verloren, gefangen in diesen Gefühlen für einen Kerl, der nur mit mir befreundet sein will. Bittersüß und hoffnungslos. Irgendwie verliebt in meinen besten Freund. Scheiße.

Schlagartig wird mir klar, dass diese Episode mit Martin nichts anderes war, als eine Ablenkung von meinem eigentlichen Problem. Meinen Gefühlen für Chris, die wohl niemals erwidert werden. Sollte ich ihn je verlieren, dann bringt mich das um. Die Erkenntnis ernüchtert mich wieder, aber sie erdet mich auch. Jetzt gilt es erst einmal, den lieben Chris aus seinem emotionalen Tief zu holen und die eigenen Problemchen zur Seite zu schieben.

„Lass uns was essen, Prinzessin und dann erzählst du mir alles. Lian hat für dich einen extra Nachtisch eingepackt.“ Ich setze mein Pokerface auf und lächle ihn an. Mag ja sein, dass er mich durchschaut, aber beim Wort Nachtisch reißt er freudig die Augen auf. Mein Kleiner ist eine echte Naschkatze und Süßes hilft eben gegen sehr viele Wehwehchen.

„Karamellbananen?“, fragt er jetzt hoffnungsvoll und mein Nicken zaubert ihm wieder sein unwiderstehliches Lächeln auf die Lippen. Ja, so gefällt er mir eindeutig besser, auch wenn es meinen Herzschmerz ein klein wenig vergrößert. „Mit extra Honigsauce, nur für dich“, antworte ich lächelnd.

Dank Mikrowelle ist das Essen im Nu wieder aufgewärmt und wir schaufeln uns einträchtig die Köstlichkeiten in den Mund. Essen hält Leib und Seele zusammen. Wieder so ein blöder Spruch, aber er trifft es einfach. Chris blüht mit jedem Bissen vor meinen Augen förmlich auf und sein anschließendes Vorspielen ist wieder absolute Meisterklasse. Es ist einfach sein angeknackstes Selbstvertrauen, das ihn regelmäßig umwirft und an allem zweifeln lässt. Ich bin froh, dass ich ihm auch diesmal helfen konnte.

„Mensch, Rocky, was würde ich nur ohne dich machen? Kaum bist du hier, läuft es und alle Schwierigkeiten sind wie weggeblasen. Danke Mann. Du rettest mir mal wieder den Arsch.“ Er verwuschelt mir die Haare und schenkt mir ein Lächeln, das mich in echte Schwierigkeiten bringt. Wird wohl erneut eine kalte Dusche werden, aber man gewöhnt sich schließlich daran. Mist ...

12 - Christian

 

In der Nacht ereilt mich ein leicht verwirrender Traum über meinen Vater, Björn und Elias, der auf mich aufpasst, während die beiden anderen an mir zerren. Elias nimmt mich einfach an der Hand und zieht mich weg. Ohne zurückzublicken, folge ich ihm. Wir setzen uns zusammen auf meinen Lieblingsfleck im Park. Dort packe ich meine Gitarre aus und als ich fertig bin, küsst Elias mich zärtlich. „Ich liebe dich“, sage ich, bevor wir aneinandergekuschelt schweigend in den Himmel sehen und Elias meine Hand hält.

Nach dem Duschen und Frühstück verziehe ich mich in mein Musikzimmer. Das Gefühl des Traums muss ich schnellstens abschütteln. Nicht darüber nachdenken. Ich habe es schon einmal geschafft und kann es ganz sicher wieder. Diesen Triumph werde ich meinem Vater nicht gönnen. Obwohl er es niemals erfahren würde. Ich bin für ihn mit meinem Auszug und der Unterschrift unter der Übertragungsurkunde gestorben. Und doch begehrt etwas in mir auf, zwingt mich dazu, so zu handeln, wie ich es tue.
Der leere Schaukelstuhl erinnert mich an Elias. Macht mir deutlich, wie sehr er mir fehlt, obwohl ich genau weiß, dass er in ein paar Stunden wieder hier sein wird. Trotzdem nehme ich das Möbelstück und stelle es außerhalb meines Sichtbereiches ab.

Bis Elias am Nachmittag nach Hause kommt, bin ich soweit mit mir im Reinen, dass ich ihn zu einem Spaziergang im Park überrede. Rein zufällig wählt Rocky den Rückweg so, dass wir bei „Pino“ vorbei kommen. Der beschriftet gerade die Tafel mit den „Spezialitäten des Tages“ und wir können seiner 'Einladung' nicht widerstehen. Natürlich denke ich sofort an die letzte Gelegenheit, die wir hier verbracht haben. Das Ende des Abends sehe ich noch deutlich vor mir. Auch Elias fällt das anscheinend gerade ein, denn ein Schatten liegt auf seinem Gesicht, der erst bei der überschwänglichen Begrüßung durch den Chef persönlich verschwindet. Seine Augen blicken jedoch trotzdem noch eine ganze Weile ziemlich traurig in die Welt. Für den Heimweg nehmen wir einen kleinen Umweg.

Zuhause angekommen lasse ich mich müde auf die Couch fallen. Ich stehe total unter Strom, habe eine Heidenangst zu wenig zu üben. Gleichzeitig weiß ich jedoch, dass ich mich zurückhalten muss. In einem Moment denke ich, dass ich es locker schaffe und Sekunden später bin ich ebenso felsenfest überzeugt, dass ich die Prüfung in den Sand setzen werde.
„Zeit für deine Massage“, verkündet Elias grinsend. Grundsätzlich mag ich seine Fürsorge. Jetzt gerade wäre ich aber lieber alleine. Dann sehe ich ihn an und kann einfach nicht nein sagen. In Elias' Augen steht so viel Sorge und Traurigkeit, dass ich nicht der Grund dafür sein möchte, dass es nur noch schlimmer wird. Außerdem habe ich von meiner sehr optimistischen Sporteinlage noch immer ein fieses Ziehen in den Oberschenkeln.
Weil es zu unserem Ritual gehört, widerspreche ich seinem Ansinnen natürlich trotzdem. Mein sowieso nur halbherziger Protest wird durch sanfte Gewalt erstickt und ehe ich mich versehe liege ich bäuchlings auf der Couch und Rocky kniet über mir. Seine Hände machen sich vorsichtig an meiner Kleidung zu schaffen. Das Shirt ziehe ich mehr oder weniger freiwillig aus, als er es langsam nach oben schiebt. Als meine Jogginghose nach unten wandert werde ich nervös. Trotzig ignoriere ich das warme Gefühl, das sich bei jeder kleinen Berührung durch meinen Körper zieht. Ergeben seufzend schließe ich die Augen und lasse mich fallen. Elias wird sowieso nicht aufgeben, bis er seinen Willen hat. Seine Hände gleiten sanft über meinen Rücken, massieren sachte die Verspannungen im Schulter- und Lendenbereich weg, bevor er sich um meine Oberschenkel kümmert. Überdeutlich spüre ich das Gewicht seines Körpers auf meinen Beinen. Mein Magen beginnt zu flattern und in meinem Kopf breitet sich eine angenehme Leichtigkeit aus. Wohlig brummend lasse ich Elias gewähren.
Bereits halb weggedämmert spüre ich noch, dass die Entspannung nicht alle Körperteile erreicht hat, denn mein Schwanz drückt sich ziemlich nachdrücklich in die Couch und verlangt dringend nach Aufmerksamkeit. Wie damals ...
Langsam beginnen meine Gedanken abzuwandern. Zurück in lang vergangene Zeiten, die ich für immer vergessen wollte. Aber die Situation hier, erinnert mich einfach zu sehr an eine ähnliche, vor nunmehr fast zehn Jahren …

Björn und ich hatten hart trainiert, da ein Turnier anstand, das ich laut meinem Vater besser gewinnen sollte, sofern Björn etwas an seinem Nebenjob läge und mir an meinem großzügigen Taschengeld. Meine Mutter war ein halbes Jahr vorher einfach über Nacht abgehauen. Björn war der einzige Halt in meinem Leben. Für meinen Vater war ich schon immer zierendes - jetzt eher störendes - Beiwerk gewesen. Müde hatte ich meine Tasche zusammengepackt und mit Björn die Halle verlassen. In den Umkleidekabinen war ich auf die Bank gefallen und hatte mich eine Weile nicht rühren können. Björn zog mich hoch und schleppte mich in die Dusche, nachdem ich mich ausgezogen hatte. Das warme Wasser prasselte auf mich herab. Mit geschlossenen Augen stand ich, die Stirn an die Wand gelehnt, da, als mich plötzlich Hände zärtlich an den Schultern zu massieren begannen. Da außer uns niemand um diese Zeit trainierte, konnte es nur Björn sein. Ich vertraute ihm ohne jegliche Zurückhaltung und ließ ihn gewähren. Es fühlte sich gut und richtig an. Langsam lockerten sich meine verspannten Schultern. Björns Hände wanderten langsam weiter nach unten, streichelten meinen Rücken, wanderten langsam über meine Hüfte nach vorne, während sein Körper sich an meinen drückte. Irgendwann begann Björn Duschgel über meinen Körper zu verteilen, zwar nicht weniger zärtlich als die Berührungen zuvor, aber die Distanz war deutlich zu spüren. Die Stimmung zwischen uns veränderte sich merklich und nahm mir damit die Spannung, unter der ich plötzlich stand.
Wir gingen schweigend in die Kabine zurück, zogen uns an und verließen das Gebäude. Zuhause setzte Björn mich wie nach jedem Training ab. „Bis morgen“, sagte er dieses Mal lediglich leise zum Abschied und ich konnte nur nicken. Schwach hob ich die Hand zu einem Winken, da war er aber schon weiter gefahren. In den nächsten Wochen hatten wir uns einander angenähert. Es begann mit immer wieder kleinen Massagen meiner verspannten Muskulatur, gemeinsamen Duschen und vorsichtigen Küssen, wenn niemand uns sehen konnte. Fast täglich trafen wir uns irgendwo für ein paar Minuten, immer darauf bedacht, nicht gesehen zu werden.
Das Turnier gewann ich nicht, aber ich konnte meinen Vater überzeugen, mir eine weitere Chance zu geben. Ich fühlte mich wohl mit Björn. Hin und wieder holte er mich von der Schule ab, und wir gingen in seine Studentenbude. Mehr als gemeinsames Wichsen passierte anfangs nie, bis Björn begann, meinen Schwanz zu blasen. Das erste Mal kam ich fast sofort und Björn lächelte mich zufrieden und glücklich an, während er sich selbst Erleichterung verschaffte, da ich dazu nicht in der Lage war. Dass wir uns strafbar machten, erfuhr ich erst später. Selbst wenn ich es gewusst hätte, hätte ich nicht darauf verzichten wollen.
Dann verschwand Björn plötzlich aus meinem Leben. Er schrieb mir zum Abschied einen Brief, in dem er behauptete, mich zu lieben. Schrieb, dass er nicht gegangen wäre, hätte er eine Wahl gehabt, aber er sei nur ein armer Student und auf einen guten Leumund angewiesen. Dass er es sich nicht leisten könne, irgendwie ins Gerede zu kommen.
Immerhin hatte er sich im Gegensatz zu meiner Mutter von mir verabschiedet, auch wenn ich damals nicht verstand, wohin und warum er so plötzlich gegangen war und warum er mir das nicht bei unserem letzten Treffen gesagt hatte. Da war er unbeschwert und fröhlich wie immer gewesen. Wir hatten im Park hinter einer Hecke gelegen und uns geküsst und gekuschelt. Einer der Momente, an die ich mich gerne erinnere, weil ich mich so leicht gefühlt hatte, wie noch nie zuvor.
Der Schmerz traf mich körperlich und seelisch. Allerdings interessierte sich dafür niemand. Ich ging in die Schule, erledigte meine Hausaufgaben, flüchtete mich in jeder freien Minute in meine Musik. Das Tennisspielen gab ich auf. Damals wunderte ich mich, dass mein Vater nicht sauer war. Irgendwann hörte es auf, jede Sekunde wehzutun. Die Erinnerung an Björn verblasste, verließ mich aber nie ganz. Als ich mit siebzehn noch immer keine Freundin mit nach Hause gebracht hatte, begann mein Vater mich mit zu seinen Geschäftsessen zu nehmen und sorgte dafür, dass ich mich mit den Töchtern verabredete. Zu meinem achtzehnten Geburtstag ließ mein Vater eine große Fete steigen, zu der all seine Freunde samt Familien eingeladen waren, netterweise war es auch ein paar meiner Schulkameraden gestattet, daran teilzunehmen. Richtige Freunde hatte ich zu der Zeit schon nicht mehr. Alles organisierte mein Vater, nur meine Musik, die gehörte mir. So sehr ich sie liebte, so sehr verabscheute mein Vater sie. Den Unterricht zahlte ich von meinem Taschengeld, die Instrumente zahlten meine Großeltern.
Meinen ersten Sex mit einer Frau hatte ich noch in der Nacht meines Geburtstages. Vivien schleppte mich in unser Gartenhaus und verführte mich, während die Erwachsenen tanzten. Danach waren wir ein paar Wochen zusammen, bevor es ihr mit mir zu langweilig wurde, weil ich statt in die Disco lieber Konzerte oder das Theater besuchte. Dieses Muster setzte sich dann irgendwie bis heute fort. Es ist lange her, dass ich derart intensiv an Björn und mein pubertäres Experiment gedacht habe. Normalerweise verdränge ich jeglichen Gedanken an ihn und unsere Beziehung ziemlich vehement. Aber die sanfte Behandlung von Elias erinnert mich einfach zu sehr an das, was wir hatten, als dass ich es ignorieren könnte. Auch den Aufstand meines Schwanzes schiebe ich auf die damaligen Erfahrungen und die damit zusammenhängenden Erinnerungen.
Seit Rocky bei mir eingezogen ist, habe ich meine mehr oder weniger sinnlosen Versuche der Suche nach einer Partnerin aufgegeben. Warum meine Zeit mit kichernden Weibern verbringen, die in ein paar Monaten sowieso Geschichte sind? Wenn ich die Richtige finde, werde ich es schon merken.
Elias beendet die Behandlung meiner Kehrseite mit einem leichten Klaps auf meinen nackten Hintern. „So Prinzessin, du darfst den Film aussuchen“, verkündet er fröhlich auf dem Weg ins Bad.
In angenehmes Schweigen gehüllt sitzen wir gemeinsam auf der Couch und gehen nach dem Actionfilm schlafen. Viel gesprochen haben wir heute nicht mehr. Trotzdem ist alles Wichtige zwischen uns gesagt. Er braucht mich, ich brauche ihn. So einfach ist das. Oder eben auch nicht. Aber diesen Gedanken schiebe ich auch ganz schnell wieder weg. Auch die leise Stimme meines Vaters, der behauptet, dass er es schon immer gewusst habe, ersetze ich durch das „Ich hab dich lieb, Chris“ von letzter Woche.

 

13 - Elias

Die Tage seit der Trennung von Martin sind für mich Himmel und Hölle zugleich. Chris und ich verbringen jede freie Minute zusammen und ich konnte ihn sogar von einer gesünderen Ernährung überzeugen. Er achtet jetzt mehr auf sich und bietet seinem Körper nicht ausschließlich Fast Food an. Es gibt tatsächlich auch frische Lebensmittel auf seinem Speiseplan und sogar Obst oder Nüsse lehnt er jetzt nicht mehr kategorisch ab. Ein echter Fortschritt.

Allerdings arbeitet er sehr hart und zweifelt nach wie vor an sich oder seinen Fähigkeiten. Vor allen Dingen dann, wenn er allein zuhause ist. Leider lässt mein Studium keinen größeren Spielraum zu und ich kann nur hoffen, dass meine Teilzeitbetreuung trotzdem ausreicht.

Zur Entspannung verpasse ich ihm jeden Tag eine ausgiebige Massage, die er sichtlich genießt und auch nicht mehr ablehnt. Mich jedoch bringt das täglich in echte Schwierigkeiten und vom vielen Duschen müssten mir inzwischen eigentlich Schwimmhäute wachsen.

Chris hat seidenweiche Haut, die sich unter meinen Händen einfach nur fantastisch anfühlt. Auch diese kleinen Seufzer, die er während der Massage von sich gibt, sind echte Folter für mich. Wäre er nicht mein bester Freund, dann würde ich einfach abhauen. Aber genau das wird nicht passieren. Chris ist ein wichtiger Teil in meinem Leben. Er braucht mich ebenso wie ich ihn. Keiner kann ohne den anderen. Es ist irgendwie total verrückt.

Seitdem ich weiß, wie sich sein Körper unter meinen Händen anfühlt, läuft nicht nur mein Untergeschoss regelmäßig Amok, sondern auch dieses stetige Pochen in meiner Brust verschwindet nicht mehr. Es ist diese Sehnsucht nach Nähe, das blinde Vertrauen und ich denke dabei nicht nur an Sex. Da ist mittlerweile so viel mehr und ich wünschte mir, er würde ebenso empfinden. Alles wäre so einfach.

Die Episode mit Martin habe ich größtenteils schon abgehakt. Gut, ich war heftig verknallt in ihn und meine Hormone spielten verrückt. Trotzdem gingen die Gefühle nie so tief, dass ich hier von Liebe sprechen möchte. Ich habe es mir kurzzeitig eingebildet und nur deshalb tat es anfangs ziemlich weh. Im Nachhinein muss ich mir allerdings eingestehen, dass es wohl mehr verletzter Stolz war, der mich vorübergehend die Fassung verlieren ließ. Welchem Ego schmeichelt es schon, wenn der derzeitige Lover einen anderen abknutscht? Keiner will durch die kalte Küche verabschiedet werden.

„Erde an Eli … hallo ...“ Ein Rütteln an meiner Schulter bringt mich schlagartig in die Realität zurück. Verdammt, schon wieder komplett abgetaucht. „Sorry Levi, war mit den Gedanken ganz woanders.“ Schuldbewusst schaue ich meinem Kumpel in die Augen und habe ein schlechtes Gewissen. Er ist immer für mich da, hört mir geduldig zu und was mache ich? Ich hänge in meinen Tagträumen fest und ignoriere ihn einfach. Er sollte mich zum Teufel jagen, denn irgendwie habe ich ihn derzeit nicht verdient. Ich verdanke ihm schließlich mein Leben. Wer weiß, wo ich ohne ihn heute wäre.

„Geschenkt. Sag mir lieber, was los ist. Immer noch Frust wegen Martin? Ganz ehrlich, Eli, der Kerl ist keinen weiteren Gedanken wert. Vergiss ihn einfach.“ Was soll ich darauf sagen? Klar habe ich Liebeskummer, aber eben nicht mehr wegen Martin. Der hat mich schließlich nur verarscht und mein Ego ist ein bisschen angeknackst. Die Erfahrung ist nicht schön und ich hätte mir das Ganze gerne erspart, aber das verschwindet von alleine wieder. Der Mist ist nur, dass diese ganze Geschichte mit Martin meine Gefühle für Chris so richtig an die Oberfläche gespült hat. Jetzt kann ich nur hilflos zusehen, wie mein dummes kleines Herz sich hoffnungslos verrennt. Chris ist unerreichbar für mich und je eher ich das endlich begreife, desto besser.

„Nein, es ist nicht wegen Martin. Dieses traurige Intermezzo versuche ich lediglich zu vergessen. Es ist etwas anderes und da gibt es für mich keine Lösung.“ Mit der rechten Hand winke ich ab und möchte das Thema gerne beenden. Auch mein Kumpel kann mir hier nicht helfen, also wozu darüber reden?
„Für wie blöd hältst du uns eigentlich? Ich weiß genau, was mit dir los ist und leugnen hilft dir jetzt auch nicht weiter. Es geht um Chris und ja, auch Armin und Theo ist das schon aufgefallen. Nur du bist wohl zu dämlich, um es endlich zu kapieren. Du bist verliebt und musst hier den ersten Schritt tun. Chris wird für sich selbst noch einige Zeit brauchen, um aus dem Schatten ins Licht zu treten. Hilf ihm dabei, hilf euch beiden und steh endlich zu deinen Gefühlen für ihn. Du musst ja nicht gleich mit der Tür ins Haus fallen, aber etwas mutiger solltest du schon werden. Bist doch sonst auch nicht so schüchtern. Außerdem glaube ich, dass er nur halb so hetero ist, wie er immer tut.“

Er zwinkert mir frech zu und bringt mich damit zum Lachen. Klingt in der Theorie sehr einfach, nur in der Praxis dürfte die Umsetzung etwas schwierig werden. Erst einmal hat jetzt sowieso Chris' Prüfung oberste Priorität, alles andere muss warten. Er arbeitet so hart für seinen Erfolg und ich möchte ihn hier nicht mit gefühlsduseligen Offenbarungen torpedieren. Mein Kleiner ist im Moment so schon genug durch den Wind. Außerdem habe ich keine Ahnung, wie es jetzt weitergeht, geschweige denn, wie ich das anstellen soll.

„Na, komm. Lass uns noch schnell einen Kaffee trinken und dann muss ich auch schon los.“ Damit lotst er mich in das Café gegenüber der Uni und wir reden zum Glück über andere Dinge. Er ist ein guter Kumpel und ich weiß, dass er mich nie hängen lässt. Als er kurze Zeit später aufbricht, bleibe ich noch einen Moment sitzen und trinke in Ruhe meinen Kaffee aus. Levi hat noch einen Zweitjob und ich bewundere ihn dafür, wie er das alles auf die Reihe kriegt. Ich habe ja so schon meine Probleme, mit allem klarzukommen.

Ganz in Gedanken versunken verlasse ich das Café und stoße mit jemandem zusammen, den ich lieber nicht getroffen hätte: Hagen. Im ersten Moment bin ich nur geschockt und starre ihn einfach nur an. Mein Körper allerdings ist sofort in Alarmbereitschaft und signalisiert mir, dass Flüchten jetzt definitiv eine Option wäre. Unbehagen macht sich in mir breit, aber eben auch diese perverse Faszination des Schrecklichen, die ich nur mit Hagen gleichsetze. Kein Mensch löst so viele widersprüchliche Empfindungen in mir aus und lässt mich wie eine Marionette agieren. Wie immer er das macht, er hat noch nichts von seiner Präsenz verloren und ist nach wie vor gefährlich für mich.

„Elias Sebastian Berg, wie schön dich so unverhofft wiederzusehen. Du siehst noch begehrenswerter aus als früher, ich bin beeindruckt.“ Er lässt jede Silbe meines Namens über seine Zunge rollen und ein eiskalter Schauer jagt mir über den Rücken. Einzelne Fragmente aus unserer gemeinsamen Zeit zucken wie Blitze durch mein Gehirn. Es war nicht alles schlecht, aber unterm Strich hat es mich fast zerstört. Diese Beziehung war eine einzige große Lüge, denn er hat mich nie wirklich geliebt und nur für seine Spielchen benutzt. Ich war einfach jung, naiv und dumm genug, ihm all seine schönen Worte zu glauben. Ein kleiner unbedeutender Teil eben in seiner perversen Welt, in welcher er der uneingeschränkte Herrscher ist und den alle förmlich anbeten. Niemand stellt sich ihm in den Weg oder hinterfragt seine Handlungen. Eine Heerschar von willigen Idioten, zu denen ich auch eine Weile gehörte.

„Begrüßt man so einen alten Freund, Elias? Wo sind nur deine guten Manieren geblieben? Du hast wohl wieder etwas Unterricht nötig, wie mir scheint. Hier fehlt eindeutig eine harte Hand, die dir wieder etwas Respekt beibringt.“ Sein langer schlanker Finger fährt an meinem Kinn entlang und eine eiskalte Faust legt sich um mein Herz. Oh nein, bitte nicht! Hagen sieht aus wie ein Engel, wunderschön und anbetungswürdig. Im Inneren allerdings ist er der leibhaftige Teufel höchstpersönlich und ich will nicht noch einmal in seine Fänge geraten. Das würde ich diesmal wohl nicht überleben.

Äußerlich völlig unbeeindruckt, gebe ich einen verächtlichen Laut von mir und hoffe, ihn so hinters Licht zu führen. Würde er jetzt alle Register ziehen, dann hätte ich vermutlich keine Chance mich zu wehren. Schneller als mir lieb wäre, würde ich mich vor ihm auf den Knien wiederfinden und ihn gleich hier bedienen. Er ist ein abartiger Psychopath und hat schließlich niemals eine Gelegenheit ausgelassen, mich zu erniedrigen oder zu demütigen. Und trotzdem. Gerade, als mich bereits leichte Panik erfasst, klingelt mein Handy und bricht seinen Bann. Ein Blick auf das Display rettet mich aus dieser Situation. Chris … mein Rettungsanker. „Fick dich, Hagen.“ Mit diesen Worten lasse ich ihn einfach stehen und eile weiter. Ich brauche dringend frische Luft.

„Na Prinzessin, was ist passiert? Ich bin schon auf dem Weg nach Hause und bringe was zu essen mit, okay?“ Das Kichern, das durch die Leitung kommt, wärmt mir im wahrsten Sinne des Wortes das Herz. Das war echt knapp. Ich muss vorsichtiger werden. Hagen hätte leichtes Spiel bei mir, wenn ich nicht aufpasse. Das darf nicht passieren, denn diesmal bringt er mich um.

„Rocky, kannst du mir ein Stück Himbeer-Sahnetorte aus dem „Kuchenhimmel“ mitbringen? Ich bin total unterzuckert und brauche außerdem eine Belohnung“, schnurrt er jetzt regelrecht ins Telefon und ich kann die Zuckerschnute meiner Naschkatze direkt vor mir sehen. Chris ist ein hoffnungsloser Zuckerholiker. „Nur ein Stück? Bist du sicher?“, feixe ich jetzt ins Telefon und habe die Begegnung mit Hagen fast schon vergessen. „Du hast recht, Rocky. Bring mir zwei, nein, drei Stück mit. Ich brauche Nervennahrung und außerdem war ich heute verdammt fleißig.“ Gut gelaunt kichert er mir wieder ins Ohr und meine Laune erreicht wieder ihr positives Level. „Was immer du willst, Prinzessin. Dein Wunsch ist mir Befehl. Bis gleich.“

Chris schafft es einfach mit Leichtigkeit, mich aus den düsteren Schatten meiner Vergangenheit ins helle Licht zu holen.
Diese kleine verrückte Naschkatze … mein Glückskeks eben.

 

 

14 - Christian

Nach den letzten Tagen, die dank Elias so entspannt und ruhig wie nur möglich waren, bin ich am Donnerstag das reinste Nervenbündel. Ich wache bereits um vier Uhr auf, weil ich denke, verschlafen zu haben. Danach kann ich natürlich nicht mehr einschlafen, weil mein Kreislauf auf Hochtouren läuft. Um halb sechs gebe ich den Kampf auf und trotte ins Bad. Optimale Prüfungsvorbereitung sieht anders aus. Während der ausgiebigen Dusche fällt mir mehrfach die Flasche mit dem Duschgel bzw. dem Shampoo aus der Hand. Ganz abgesehen von dem Schaum, der in meinen Augen landet und wie Feuer brennt. Zu allem Überfluss fällt mir der Duschkopf auf den großen Zeh. Zur Krönung des Ganzen ramme ich mir die Zahnbürste so dermaßen ins Zahnfleisch, dass es blutet.
Elias erwartet mich bereits in der Küche. Der Kaffee riecht verführerisch und ich nehme dankbar eine Tasse entgegen. Mein Mitbewohner sieht noch ziemlich zerknautscht aus. Die Haare verstrubbelt, lediglich in Shorts und Shirt wuselt er geschäftig durch die Küche, auch wenn der Rest von ihm anscheinend noch halb schläft. Nur aus diesem Grund esse ich wenigstens eins der Brötchen, die er extra für mich aufgebacken hat. Als ich nach dem Marmeladenglas greife, berühren sich unsere Finger kurz. Es funkt im wahrsten Sinne des Wortes und ich sehe erschrocken zu Elias, ziehe meine Hand aber nicht weg. Rocky grinst schief und schiebt das Glas in meine Richtung. „Du zuerst.“ Schlagartig erinnere ich mich an das Gefühl seines Körpers ganz nah an meinem. Letzte Woche, als er nicht alleine schlafen wollte. Oder während der allabendlichen Massage auf der Couch. Erneut fühle ich das sanfte Kribbeln, das seine Lippen auf meiner Stirn ausgelöst haben, als ich am Montag verzweifelt in seinen Armen lag. Energisch schiebe ich die Erinnerungen und Gedanken beiseite. Ich kann und vor allem will nicht weiter darüber nachdenken, was sie bedeuten.

Ich habe zu lange gekämpft, um jetzt aufzugeben. Denn dann hätte mein Vater doch noch gewonnen. Hätte am Ende recht behalten, dass ich eine kleine Musiktunte bin. Nicht Kerl genug, um eine Frau glücklich zu machen. Zu schwach, um mich gegen die primitiven Instinkte zu wehren, die Björn in mir ausgelöst hatte. Erst bei diesem Vortrag am Tag meines achtzehnten Geburtstages war mir klar geworden, dass nur er hinter dem plötzlichen Verschwinden von Björn stecken konnte. Ab diesem Tag versuchte ich, ihm zu beweisen, dass er sich in mir getäuscht hat. Dass ich besser bin, als er denkt. Fast gewaltsam hatte ich versucht, die Erinnerungen an Björn und unsere gemeinsame Zeit mit diversen Affären loszuwerden. Bis gestern war ich auch überzeugt davon, dass das weit hinter mir liegt. Das sanfte Brummen in meinem Körper, wenn Rocky nur in meiner Nähe ist, sagt etwas ganz anderes.
Nach dem Frühstück überprüfe ich zum tausendsten Mal meine Gitarre und die Notenblätter. Selbstredend hat sich, seit ich sie gestern – ebenfalls nach eingehender Prüfung - eingeräumt habe, nichts geändert. Elias sieht mir von der Tür aus zu. Die Schulter an den Türrahmen gelegt, die Arme vor der Brust verschränkt, schaut er lächelnd zu mir rüber.
„Können wir los?“, fragt er vorsichtig.
Er hat sich heute noch nicht rasiert. Der leichte Bartschatten lässt ihn älter wirken. Die eisblauen Augen blitzen fröhlich. Ein sanftes Lächeln liegt auf seinen Lippen. Noch immer sind seine Haare ein einziges Chaos, aber gerade finde ich, dass er nie besser ausgesehen hat. Schnell schüttele ich den Kopf, was er jedoch vollkommen falsch versteht.
„Wieso, was fehlt denn noch?“, will er wissen.
Mit dem Gitarrenkoffer in der Hand erhebe ich mich, seufze innerlich. „Doch, wir können. Ist alles da ...“, erkläre ich. Leicht verwirrt sieht er mich an, gibt aber dann den Weg in den Flur frei. Damit nicht noch in letzter Sekunde etwas passiert, fahren wir mit dem Auto. Wir haben einen ordentlichen Zeitpuffer eingebaut, falls wir eine Panne oder einen Unfall haben sollten, sodass ich fast eine Stunde zu früh ankomme. Rocky überredet mich, meine Sachen im Auto zu lassen und mit ihm einen Kaffee im „Vis à Vis“ zu trinken, eine Studentenkneipe ganz in der Nähe. Dort ist es um diese Zeit noch sehr ruhig. Bis auf uns sind lediglich zwei weitere Gäste anwesend. Da ich meinem Magen nicht traue, entscheide ich mich für Kräutertee. Eine richtige Unterhaltung kommt nicht zustande. Erstens bin ich viel zu aufgeregt und zweitens bin ich die meiste Zeit damit beschäftigt, mir nicht vorzustellen, wie es wäre, wenn Elias mich im Arm halten würde.
Fürsorglich wie er ist, liefert Elias mich zehn Minuten vor der Zeit samt meinem Instrument vor dem Prüfungszimmer ab. „Ich würde sagen - Viel Glück - aber das brauchst du nicht, du schaffst es ganz sicher“, sagt er so leise, dass nur ich es hören kann. Kurz nimmt er mich in den Arm. Ich glaube, dass ich mich eher an ihn drücke, als dass er mich an sich zieht. Ist auch egal. Es fühlt sich gut an. Eigentlich will ich gar nicht mehr losgelassen werden. Stumm nicke ich und sehe ihm noch eine Weile hinterher, obwohl Elias schon längst um die Ecke verschwunden ist.
„Na Hoffmann, hast du ihn schön getröstet? Ihr seht ja zu süß zusammen aus“, höre ich da plötzlich die mir schon so lange vertraute und ebenso verhasste Stimme von Martin. Wütend fahre ich herum und sehe mich ihm und seinem Freund gegenüber, den er demonstrativ an sich zieht und küsst. Wut kocht in mir hoch. Das Blut rauscht in meinen Ohren, mein Blick fokussiert sich auf den Kerl, der am derzeitigen Elend meines Freundes schuld ist. Ich balle die Hände zu Fäusten und trete näher an das sich noch immer küssende Paar heran.
„Verschwinde einfach, Arschloch, und lass mich in Ruhe. Was zwischen mir und Elias ist, geht dich nicht das Geringste an. Wenn es nach mir ginge, wärst du schon längst auf Nimmerwiedersehen verschwunden“, presse ich heraus und muss mich tatsächlich beherrschen, ihm nicht eine runter zuhauen. Nur am Rande erkenne ich, dass es schon wieder ein anderer Kerl ist als letzte Woche vor dem Pub. Elias darf das niemals erfahren. Martin lacht gehässig und geht dann Hand in Hand mit seinem Spielzeug weiter.
Bis die beiden um die Ecke verschwunden sind, die auch Elias meinem Blick entzogen hat, bleibe ich noch stehen. Der Schwindel, der mich plötzlich erfasst, lässt mich schwanken. Ich versuche noch, zu dem Stuhl zu kommen, bei dem Elias meine Gitarre abgestellt hat. Aus dem Augenwinkel erkenne ich, dass sich die Tür öffnet. Ich stolpere vorwärts, bleibe mit einem Fuß irgendwo hängen und falle. Mein Kopf prallt auf einen Stuhl, den ich noch umfallen höre, bevor mich die Dunkelheit umfängt.
„Herr Hoffmann? Herr Hoffmann hören sie mich?“
Der Nebel in meinem Gehirn lichtet ich langsam. Ich spüre die kalten Fliesen unter mir. Mit der Kälte und der Erkenntnis, warum ich hier liege, kommt auch der Schmerz. Meine linke Schulter pocht, ebenso das Handgelenk. In meinem Kopf hat eine Percussionscombo den Dienst angetreten. Vorsichtig öffne ich die Augen. Über mir erkenne ich meinen Professor sowie einen meiner Kommilitonen. Meine Sicht ist jedoch stark eingeschränkt. Bis auf einen kleinen Fleck ist alles vollkommen verschwommen. Eine Hand streckt sich mir entgegen, die ich vorsichtig ergreife und mich aufsetze. Eine warme klebrige Flüssigkeit läuft mir über die Schläfe und ins Auge. Ich taste mit der Hand nach der Ursache und zucke erschrocken zurück. Scheiße, tut das weh.
„Ich rufe einen Krankenwagen“, erklärt Professor Schremmer und verschwindet aus meinem Sichtfeld. Ich will protestieren, den Arm heben und abwinken. Ein scharfer Schmerz fährt durch meinen Arm. Macht meinen Plan zunichte, die Prüfung doch irgendwie spielen zu können. Verdammter Mist. Mein Magen zieht sich krampfhaft zusammen, ich würge. Andreas – glaube ich zumindest, sicher bin ich mir bei dem Namen gerade nicht – wischt die schlimmste Sauerei weg, legt mir die Beine auf einen Stuhl und bleibt bei mir, bis der Krankenwagen eintrifft. Ich bin nicht mal in der Lage, mich ohne Hilfe auf die Krankentrage zu legen. Am Rande bekomme ich noch mit, wie mein Helfer den Gitarrenkasten in Verwahrung nimmt und auch meinen Rucksack mit in den Krankenwagen trägt. Die Fahrt zum Krankenhaus verschwindet wieder in einem Nebel. Der Arzt fragt mich verschiedene Sachen, die ich wahrscheinlich auch beantworte. Keine Ahnung, ob es stimmt, was ich da von mir gebe, ich höre meine eigenen Worte nicht richtig. Allein der Gedanke an die vermasselte Prüfung und dass Elias jetzt umsonst auf mich warten wird, sind noch da, bevor auch diese im Nebel verschwinden.
Kurzfristig kehrt die Panik im Krankenhaus zurück, wird aber durch eine Spritze bekämpft. Die Schmerzen im Arm sind auf ein fast erträgliches Maß geschrumpft. Während der Untersuchungen verliere ich jegliches Zeitgefühl. Als feststeht, dass meine Schulter und das Handgelenk nur übel geprellt sind, und meine Platzwunde an der Stirn genäht wurde, werde ich auf ein Stationszimmer verlegt. Eine Schwester hängt einen Tropf an. Irgendwas ist auch zusätzlich zu der Kochsalzlösung drin. Aber was und warum habe ich schon vergessen, bevor sie auch nur den Tropf an die Kanüle angeschlossen hat, die in meinem Handrücken steckt.
„Weiß ihre Familie, dass sie im Krankenhaus sind?“, fragt sie, während sie ihrer Tätigkeit nachgeht.
Siedend heiß fällt mir ein, dass Elias im „Vis à Vis“ auf mich warten wollte. Eigentlich hatte er angekündigt, vor dem Prüfungsraum zu warten, was ich ihm jedoch ausgeredet habe. „Nein“, antworte ich daher. Elias ist meine Familie, wird mir da klar. So gerne ich meine Großeltern habe, das hier geht nur Elias was an. Morgen vielleicht auch Armin und den Rest der Truppe. Aber jetzt brauche ich Elias. Meine Kopfschmerzen sind mörderisch, ich habe Angst, dass ich die Prüfung als „durchgefallen“ gewertet bekomme. Vielleicht ist das mit meinem linken Arm doch schlimmer, als es derzeit aussieht. Und ich bin alleine. Mir wird schlecht. Anscheinend sieht mir die Schwester das alles an und hält mir geistesgegenwärtig eine Nierenschale entgegen.
„Soll ich jemanden für Sie anrufen?“, fragt sie, als ich erschöpft auf das Bett zurücksinke. Ich lasse mir den Rucksack geben, suche mein Handy heraus. Zwinkernd erlaubt sie mir, es ausnahmsweise zu benutzen, und verlässt mit dem Hinweis, dass der Stationsarzt gleich noch nach mir sieht, das Zimmer. Mehr als ein zustimmendes Brummen kriege ich nicht hin.
Als die Netzverbindung steht, verkünden diverse Symbole vier verpasste Anrufe und eine Unzahl von Nachrichten, fast alle von Rocky. Ich halte mich nicht mich dem Lesen der Nachrichten auf, sondern wähle direkt seine Nummer. Noch während des ersten Klingelns geht er ran.
„Chris, verdammt wo bist du?“, brüllt er ins Telefon.
„Krankenhaus, bin umgekippt“, erkläre ich kurz. Denken und Sprechen ist unheimlich anstrengend durch das Gewabere in meinem Kopf.
„Du bist was? Welches Krankenhaus? Ich komme, so schnell ich kann.“
Irgendwo in meinem Hirn ist die benötigte Information und ich gebe sie an Elias weiter, der sofort auflegt. Vollkommen fertig lasse ich die Hand mit dem Handy einfach sinken und schließe die Augen. Ich will nur noch schlafen und mich in meinem Elend verkriechen.
Nach einem recht forschen Klopfen wird jedoch die Tür meines Zimmers erneut geöffnet und ein weiß gekleideter Mann tritt ein. Bis meine Augen ganz geöffnet sind, steht er schon neben mir und streichelt mir über die Wange. Ich blinzele irritiert und halte gleich darauf die Luft an.
„Höffchen, du bist groß geworden“, sagt er mit seiner sanften Stimme, die ich schon damals mochte, wenn wir uns über Top-Spin-Aufschläge oder Flops unterhalten haben. Trotzdem braucht mein Hirn ein paar Sekunden, um seinen Namen hervorzukramen. „Björn“, flüstere ich leise, als die Verbindungen stehen und sehe in sein lächelndes Gesicht.

15 - Elias

Ich bin wirklich froh, dass ich die Uni heute sausen lasse, denn Chris war schon früh morgens ein richtiges Nervenbündel. Beim Duschen hat er einen solchen Lärm veranstaltet, dass ich dachte, er zerlegt das Badezimmer. Er war heute ganz schön blass um die Nase und hat nur mir zuliebe etwas gegessen. So früh aufzustehen ist eine echte Herausforderung für mich, aber für meinen besten Freund mache ich das gerne. Er war so neben der Spur, dass man ihn unmöglich alleine auf die Straße lassen konnte, geschweige denn hinters Steuer eines Wagens.

Als ich ihn zum Abschied in den Arm genommen habe, hat er sich verzweifelt an mich gedrückt, als ob ich ihm Schutz bieten könnte. Sein Zittern ist mir nicht entgangen und ich hoffe, er hat das noch in den Griff bekommen. Schließlich arbeitet er jetzt seit Wochen wie ein Irrer auf diesen Tag hin und sollte sich heute selbst dafür belohnen. Verdient hätte er es allemal. Er ist so gut, geradezu brillant und er schafft es mit seinem ausdrucksvollen Spiel, mich in eine andere Welt zu entführen. Die Töne, die er seiner Gitarre dabei entlockt, klingen wie ein sehnsuchtsvolles Seufzen und streicheln meine Sinne immer wieder aufs Neue. Er ist ein wahrer Künstler und ich bin sein größter Bewunderer, aber ganz sicher nicht der Einzige.

Nur zu gerne würde ich seinem Vater, diesem arroganten Idioten, mal gewaltig in den Hintern treten. Allein schon für seine heroische Tat, seinem einzigen Sohn jegliches Selbstvertrauen zu nehmen und ihn nur verächtlich zu beleidigen. Was ist das nur für ein Mensch, der sein eigenes Kind mit all seinen Sorgen, Ängsten und Nöten alleine lässt? Chris musste schließlich schon sehr früh auf seine Mutter verzichten, die es mit seinem Vater nicht mehr ausgehalten hat und wohl als letzte Möglichkeit nur noch die Flucht sah. Auf einen anderen Kontinent in den entlegensten Winkel der Erde. Das stellt die beiden irgendwie auf die gleiche Stufe. Sie sind lausige Eltern und haben bei ihrem Sohn auf ganzer Linie versagt. Was für ein Mist und mein Kleiner kann es ausbaden.

Nervös blicke ich zum gefühlten hundertsten Mal auf die Uhr, aber die Zeit kriecht wie eine Schnecke dahin. Vielleicht hätte ich doch vor dem Prüfungszimmer warten sollen, aber dafür ist es jetzt zu spät. Mittlerweile dürfte er fast fertig sein, das heißt weiter warten. Das muss ich allerdings nicht hier machen, denn dieses untätige Sitzen macht mich total verrückt. Eilig packe ich meine Sachen in den Rucksack und mache mich auf den Weg zurück an die Uni.

Im Flur vor dem Prüfungszimmer laufe ich nervös auf und ab. Meine Güte, wie lange dauert das denn noch? Da würde doch wohl jeder vor Aufregung kurz vorm Durchdrehen sein. Eine mir nur zu bekannte Stimme holt mich aus meinen Gedanken und auf diesen Anblick hätte ich gerne verzichtet. Martin. „Na, das ist ja süß. Holst du deinen kleinen Gitarrenjungen ab? Der wird deinen Trost bestimmt brauchen, denn der hat es ganz sicher vergeigt.“ Innerlich koche ich vor Wut und muss alle Selbstbeherrschung aufbieten, um dieses Arschloch nicht auf der Stelle krankenhausreif zu prügeln.

„Halt dein dummes Maul, Martin, bevor ich es dir stopfe. Du bist Abschaum in meinen Augen, durch und durch verdorben. Das kann auch das viele Geld von Daddy und der Adelstitel nicht ausgleichen. Verschwinde von hier, verschwinde aus unserem Leben … endgültig“, blaffe ich ihn an. Überrascht reißt er die Augen auf und schnappt nach Luft, sagt aber kein Wort mehr. Das ist auch besser für ihn. Angewidert lasse ich ihn stehen. Mittlerweile verstehe ich nicht mehr, wie er mich so blenden konnte. Aber das ist Geschichte.

Jetzt geht es nur noch um Chris. Wo bleibt der Kerl eigentlich? Als die Tür des Prüfungsraums sich öffnet, bin ich erst einmal erleichtert. Doch es ist nicht mein bester Freund, der den Raum verlässt, sondern jemand ganz anderes. Was ist hier eigentlich los? „Hör mal, ich warte hier auf Chris Hoffmann. Wann ist er denn fertig?“ Fragend sehe ich den Typen an und kann mir keinen Reim darauf machen. Wo zum Henker ist er? Der Kerl allerdings zuckt nur mit den Schultern und lässt mich einfach stehen. Was für ein Honk. Egal.

Ich schreibe meinem Kleinen eine SMS, denn inzwischen ist er längst überfällig. Natürlich kommt keine Reaktion, also wiederhole ich das Ganze noch ein paar Mal. Immer noch nichts. Langsam mache ich mir wirklich Sorgen. Kurzerhand rufe ich ihn an und werde auf die Mailbox weitergeleitet. Auch das wiederhole ich immer wieder, ebenfalls erfolglos. Fuck! Chris, wo zur Hölle bist du? Inzwischen bin ich total durch den Wind. Ich schwanke zwischen Sorge, Angst und Panik. Okay, ein bisschen angepisst bin ich auch. Dieser Gefühlscocktail macht mich wahnsinnig und ich bin kurz vorm Ausflippen.

Als er sich nach einer gefühlten Ewigkeit endlich meldet, knurre ich ihn erst etwas an. Allein die Tatsache, dass er im Krankenhaus liegt und diese piepsige Stimme von ihm, machen mich schlagartig wieder butterweich. Verdammt. Ich muss zu ihm. Als er mir den Namen des Krankenhauses und die Zimmernummer nennt, bin ich auch schon unterwegs. Mit heißen Reifen lenke ich Chris' Auto durch den dichten Stadtverkehr und ermahne mich selbst, es jetzt nicht zu übertreiben. Schließlich will ich heil ankommen und ganz sicher nicht als Patient in der Notaufnahme landen. Gefühlte Stunden später bin ich endlich am Ziel und eile zu seinem Zimmer. Ungeduldig stürme ich in den Raum und sehe nicht nur Chris im Bett liegen, sondern auch einen Kerl im weißen Kittel bei ihm sitzen. Der liebevolle Blick, den er meinem Kleinen zuwirft, gefällt mir überhaupt nicht.

Chris hingegen strahlt mich an und seine Augen beginnen regelrecht zu leuchten, als er mich sieht. Er wirkt etwas mitgenommen und auf einer Seite der Stirn prangt ein riesengroßes Pflaster. Ich eile an sein Bett, beuge mich zu ihm herunter und hauche einen Kuss auf die unverletzte Seite. „Chris ...“ Für einen Augenblick schließe ich die Augen und versuche, meine überquellenden Gefühle in den Griff zu kriegen. Nur zu gerne würde ich jetzt sein Gesicht mit zärtlichen Küssen bedecken, aber notgedrungen muss ich mich beherrschen. Stattdessen sehe ich ihn wieder an und setze mich zu ihm aufs Bett. Wie einen wertvollen Schatz nehme ich seinen Kopf in meine Hände und streiche mit den Daumen sanft über seine Wangen. Mit seinen großen Augen sieht er mich einfach nur an und für einen Moment steht die Welt still.

„Prinzessin, du hast mir einen schönen Schrecken eingejagt. Ich hab mir echt Sorgen gemacht.“ Sein schüchternes Lächeln, das er mir schenkt, lässt die Schmetterlinge in meinem Bauch flattern. Levi hat recht. Ich bin verliebt und das nicht nur ein bisschen. Im Gegenteil. Mich hat es voll erwischt und ich bin so was von geliefert. Ein Räuspern zerstört jedoch diese wundervollen Schwingungen zwischen uns. „Ich lass euch beide allein, Chris. Wenn du was brauchst, dann klingelst du einfach. Ich komm später noch mal vorbei.“ Mit einem Zwinkern macht er sich endlich vom Acker und ich sehe ihm misstrauisch hinterher. Mach 'ne Fliege! Also wegen mir braucht der Kerl überhaupt nicht mehr wiederzukommen. Außerdem bin ich ja jetzt hier und kümmere mich um meinen Kleinen. Jawohl. Meiner. Komm mir bloß nicht in die Quere, sonst kann ich sehr ungemütlich werden.

Mittlerweile halte ich Chris' Hände und verschränke unsere Finger miteinander. Mir ist durchaus klar, dass dies eigentlich so ein Pärchendings ist, aber ich brauche das jetzt. Außerdem geistern die Worte von Levi immer noch durch meinen Kopf. Mutiger werden und nicht so schüchtern sein. Ich werde ihm mit kleinen Gesten zeigen, wie sehr ich ihn mag. Ob das funktioniert, wird sich erst mit der Zeit zeigen, aber ich habe sowieso keine andere Wahl.

„Was ist passiert, Chris? Vorhin war doch noch alles in Ordnung und nun besuche ich dich im Krankenhaus.“ Abwartend sehe ich ihn an und er beginnt zu erzählen. Dass er vor der Prüfung nervös war, ist mir klar. War ja nicht zu übersehen. Die unerfreuliche Begegnung mit Martin allerdings schürt meine Wut auf diesen Kerl von Neuem. Vielleicht hätte ich ihm vorhin doch ein Paar servieren sollen, rein präventiv versteht sich. Der glaubt tatsächlich, er kann sich alles erlauben. Das wird zu gegebener Zeit noch ein Nachspiel für den sauberen Freiherrn von und zu haben … egal.

Chris schildert mir den Sturz und ich bin wirklich froh, dass nicht mehr passiert ist. Das hätte auch übel ausgehen können und ich habe ihn zuvor auch noch allein gelassen. Künftig werde ich hier wieder verstärkt auf mein Bauchgefühl hören. „Ich bin so müde, Rocky und ich möchte noch ein bisschen schlafen. Ist das okay für dich?“ Er wirkt erschöpft und ich streiche ihm eine widerspenstige Haarsträhne aus dem Gesicht. „Schlaf ein bisschen. Ich bleib so lange hier, okay?“ Sein zaghaftes Lächeln und die Müdigkeit, die ihn bereits übermannt, lassen meinen Beschützerinstinkt zur Höchstform auflaufen.

Sein schlafendes Gesicht strahlt so viel Ruhe aus, die sich augenblicklich auf mich überträgt. Mein Leben hat sich sehr verändert, seit wir uns kennen und ich kann es mir ohne ihn nicht mehr vorstellen. Die düsteren Schatten der Vergangenheit haben mich kurzzeitig wieder eingeholt, als mir Hagen so unverhofft begegnet ist. Er ist immer noch wunderschön und diese geheimnisvolle Aura, die ihn umgibt, hat von ihrer Anziehungskraft nichts verloren. Trotzdem kann er mich nicht mehr blenden, denn ich habe auch seine hässliche Seite gesehen. Mir ist endlich klar geworden, dass er keinerlei Macht mehr über mich besitzt, wenn ich es nicht will. Ich bin um ein vielfaches stärker als noch vor einigen Jahren. Von dem naiven Jungen von damals ist nichts mehr übrig.

Das Leben hat mich einerseits sehr hart und misstrauisch gemacht, geradezu übervorsichtig in manchen Dingen. Aber andererseits sehe ich auch die kleinen Feinheiten und lese zwischen den Zeilen. Ich bin empfänglicher für die schönen Dinge und umgebe mich nur noch mit Menschen, die gut für mich sind. Die Neider und Parasiten habe ich komplett ausgeschlossen und mich von ihnen distanziert. Bis auf das Zwischenspiel mit Martin.
Auch Hagen ist nur noch eine Erinnerung, die mehr und mehr verblasst. Sie hat ihren Schrecken verloren, aber mahnt mich auch gleichzeitig zur Vorsicht. Auch vermeintliche Liebe macht blind und endet nicht selten im Chaos. Meine Zukunft liegt vor mir und wenn ich Chris so ansehe, dann ist er hoffentlich der Hauptbestandteil davon.

16 - Christian

Irgendwie riecht es seltsam, und mein Bett fühlt sich komisch an. Außerdem stimmen die Geräusche um mich herum nicht. Ein leises Klackern und Schritte erklingen. Im Halbschlaf versuche ich, diese Laute zuzuordnen, bis mir klar wird, dass ich im Krankenhaus bin. Gleich darauf wird mir bewusst, dass ich meine Prüfung in den Sand gesetzt habe, weil ich sie nicht spielen konnte. Außerdem schmerzt mein Kopf übel. Ich stöhne leise, weil ich die Augen öffnen muss, um diese verdammte Klingel zu finden. Oder ich warte einfach, bis eine Schwester auftaucht. In meiner rechten Hand spüre ich den Druck der Kanüle, meine linke Hand wird von etwas festgehalten. Angenehm warm und fest, fast als hielte jemand meine Hand in seiner. Vielleicht ist Björn wieder da. Bevor Rocky gestern wie von der Tarantel gestochen in mein Zimmer gestürmt ist, hatte er auch meine Hand gehalten. Keine Ahnung, ob Elias es gesehen hat. Er will mit mir reden, wenn es mir besser geht. Bevor ich nach Hause darf. Wann auch immer das sein wird. Darüber wollte er erst mal nichts sagen und auf die Röntgenbilder warten.
Die Combo in meinem Kopf nimmt vorerst noch schwach ihre Arbeit auf. Ich stöhne leise. Also doch die Augen aufmachen und den Notfallknopf drücken. Es hilft ja nichts. Schmerzmittel sind grundsätzlich nicht so mein Ding, aber Björn hat mir gestern klar gemacht, dass es kein Zeichen von Schwäche ist, wenn ich mal für einige Tage ein paar mehr davon nehme. „Ich kenn dich doch. Es hilft keinem, wenn du den starken Mann markierst, Höffchen“, hatte er gesagt. Mein alter Spitzname kam liebevoll und leise über seine Lippen. Stumm hatte ich genickt. Zu überrumpelt war ich noch von seinem plötzlichen Auftauchen, der Situation und den kleinen liebevollen Gesten, die er mir zukommen ließ. Es schien irgendwie, als hätte es all die Jahre der Trennung nie gegeben. Als wäre es erst gestern gewesen, dass er mich nach Hause gefahren hatte, um mich schnell und heimlich im Schutz des Autos noch mal zu küssen. Ein Auto, das er vom Geld meines Vaters direkt nach seinem achtzehnten Geburtstag gekauft hatte.
Das seltsame Gewicht auf meiner Hand verschwindet nicht. Ich muss also dringend mal nachsehen, nicht dass die Rechte auch was abbekommen hat. Langsam öffne ich die Augen, allerdings ist es nicht so hell, wie ich befürchtet hatte. Allerdings weiß ich jetzt auch, was mich geweckt hat. Lässig an die Tür gelehnt steht Björn und sieht lächelnd zu mir und Elias, der meine Hand hält. Okay, diese Situation ist total abgefahren. Vor mir steht mein Ex, meine erste Liebe. Der Mann, der für mich da war, als es sonst keiner sein wollte. Der mich auffing, wenn mein Vater mal wieder seine schlechte Laune an mir ausgelassen hatte oder mich einfach grundlos beschimpfte.
Mit dem Kopf auf dem Bett und meine Hand haltend schläft Elias. Mein bester Freund. Mein Halt in stürmischen Zeiten, seit ich vor – wie mir scheint - einer Ewigkeit mein Mittagessen über ihm verteilt habe. Den ich vermisse, sobald sich nach dem Frühstück unsere Wege trennen. Für den ich diesem Arsch Martin so ziemlich alle Gemeinheiten antun würde, die mir gerade einfallen und noch viel mehr. Der Anblick meines schlafenden Mitbewohners lässt die Mauer bröckeln, die ich seit Björn so krampfhaft versucht habe aufrecht zu erhalten. Ich habe sie verstärkt, geflickt und einen Maschendrahtzaun darauf gebaut. Aber trotz allem ist Elias drum herum geschlichen. Hat meine Abwehrmechanismen überwunden, ohne dass bei mir auch nur der kleinste Alarm losgegangen wäre. Hat sich einen Platz in meinem Herzen gesucht und es sich gemütlich gemacht. Ich merke es in dem Moment, als Björn mir zunickt, und gleich darauf das Zimmer so leise wie nur möglich verlässt. Vorsichtig streiche ich durch Elias Haare. Er verzieht das Gesicht im Schlaf und lächelt ein ganz klein wenig, als er sich in meine Hand schmiegt.
Es dauert noch eine Weile, bis er aufwacht und ich genieße einfach seine Nähe. Das Gefühl zu wissen, dass er da ist. Solange er schläft, habe ich Zeit, mir zu überlegen, wie ich mit dieser Situation umgehen soll. Nachdem ich meinem Vater nach unserem letzten und wirklich üblen Streit über meinen „Lebenswandel“ den Rücken gekehrt habe, besteht meine Familie nur noch aus mir und meinen Großeltern. Sowohl mein Vater als auch meine Mutter sind Einzelkinder. Außer dem Eingeständnis, dass er eben doch teilweise recht hatte, habe ich also nicht viel zu verlieren. Diese Erkenntnis tut mit Elias an meiner Seite nur noch halb so weh wie noch vor ein paar Tagen unter der Dusche. Viel zu lange habe ich trotz allem noch unter seiner Fuchtel gestanden, obwohl ich mir einbildete, frei zu sein. Doch richtig werde ich es erst sein, wenn ich so lebe, wie ich es will und mit wem ich will. Die letzten drei Jahre waren eher eine Flucht vor mir selbst, die an Rockys Brust vor dem Verwaltungsgebäude ein Ende fand. Keine Ahnung, warum ich das nicht eher gesehen habe. Allein meine Kotzattacken während der Wochen, die er mit Martin verbracht hat, hätten mir ein deutlicher Hinweis sein sollen. Allerdings war meine Selbstverleugnung so meisterhaft ausgebaut, dass ich sogar vor mir selbst die Wahrheit verstecken konnte. Dass Björn so viel mehr war als nur ein Experiment und dass Elias viel mehr ist als nur ein Freund. Alles liegt klar vor mir.


Irgendwie fühle ich mich plötzlich leichter. Obwohl die Combo in meinem Kopf noch immer trommelt, ist es nicht mehr so schlimm wie gleich beim Aufwachen. Außerdem will ich Elias nicht wecken. Ein kleines bisschen Angst habe ich auch. Denn zu wissen, was man fühlt und darüber zu reden, sind noch immer zwei paar Schuhe. Hinzu kommt, dass ich mir absolut nicht sicher bin, wie er meine Erklärung aufnehmen wird. Bisher funktionierte bei uns alles einfach problemlos. Unsere Freundschaft will ich nicht riskieren. Aber noch mal zusehen, wie Elias mit einem anderen Kerl abzieht, kann ich auch nicht. Zu deutlich erinnere ich mich an das letzte Mal …
Elias murmelt etwas und regt sich leicht. Kurz überlege ich, meine Hand von seiner Wange zu nehmen, entscheide mich dann aber dagegen. Einen kleinen Augenblick nur noch. Er öffnet die Augen und sieht zu mir hoch. Das sonst helle und strahlende Blau ist wie von Wolken überschattet, als er zu mir hochsieht. Etwas verlegen lässt er meine Hand los und setzt sich auf. Sieht auf meine Hand, die kraftlos von seiner Wange rutscht und auf dem Bett liegen bleibt.
„Wie geht es Dir?“, fragt er mit leicht kratziger Stimme. Verschlafen wischt er sich durchs Gesicht, versucht sich an einem Lächeln, das gründlich misslingt.
„Beschissen wäre geprahlt, aber du bist ja da. Dann ist alles nur halb so schlimm“, erkläre ich. Elias zieht eine Augenbraue nach oben und sieht mich an.
„Und für den Fall der Fälle hast du ja noch diesen kleinen Schleimer von Arzt“, erwidert er brüsk und dreht sich von mir weg. Die zwei Schritte zum Fenster stapft er missmutig und brummelt etwas in seinen Dreitagebart, das ich nicht verstehe.
„Björn ist kein Schleimer. Wir … äh kennen uns … äh von früher“, stottere ich und spüre, wie mir heiß und kalt gleichzeitig wird. Elias wirft mir über die Schulter einen Blick zu, den ich nicht so ganz deuten kann.
„Wie schön, dass ihr euch hier wiedergetroffen hat. Dann hatte es ja was Gutes, dass ich zwei Stunden halb krank vor Sorge um dich war, während du hier Händchen gehalten hast.“
In diesem Moment bin ich froh, dass wir uns noch nie ernsthaft gestritten haben. Das zornige Funkeln in seinen Augen jagt mir tatsächlich ein bisschen Angst ein. Gleichzeitig verleiht es mir aber auch den Mut, einfach weiter zu reden. Wenn ich Rocky nicht verlieren will, muss ich ihm zumindest bis zu einem gewissen Punkt die Wahrheit sagen.
Die Schwester die hereinkommt, verschafft mir einen kleinen Aufschub, in dem ich meine Gedanken notdürftig sammeln und ordnen kann. Elias steht regungslos am Fenster und sieht hinaus. Anscheinend findet er Backsteinmauern seit Neuestem äußerst interessant oder er zählt die Steine in jeder Reihe, so angestrengt starrt er darauf.
„Elias?“
Langsam dreht er sich um, bleibt jedoch noch immer am Fenster stehen.
„Kannst du mal bitte herkommen und dich zu mir setzen. Bitte.“ Es ist unfair und ich weiß das auch, aber gerade muss ich ein bisschen übertreiben, lasse meine Stimme ein bisschen schwächer klingen, als ich mich eigentlich fühle. Ich fürchte jedoch, dass ich den wütenden Elias sonst nicht gebändigt bekomme. Für einen ausgewachsenen Streit habe ich sowieso keine Kraft. Viel mehr will ich das Gefühl vom Aufwachen zurück. Das Gefühl endlich daheim zu sein. Er kämpft sichtlich mit sich, sieht zwischen mir und der Tür hin und her. Ein weiteres leises „Bitte“ bringt ihn dann doch dazu, wieder zum Bett zu kommen. Allerdings lässt er sich auf den Stuhl sinken und sieht mich nur abwartend und nach wie vor stumm an. Ich räuspere mich, überlege, wo ich am besten anfange, ohne dass er gleich wieder ausflippt.
„Ich muss dir da was erklären“, erwidere ich. „Weil ich ein Idiot bin ...“, setze ich nach und schließe die Augen. Noch ein paar Mal tief durchatmen und die Augen wieder auf machen. Vorsichtig taste ich nach Elis' Hand, die mir auf der Matratze entgegenkommt. Den fiesen Druck der Infusionsnadel ignorierend verschränke ich meine Finger mit seinen, drücke sie leicht.
„Willst du mir nicht widersprechen?“, frage ich frech und endlich verschwindet der letzte Rest Härte aus seinem Blick und ich ertrinke. Versinke im Blau, in Wärme und Geborgenheit.
„Kommt drauf an … Warum bist du ein Idiot?“, will er wissen und legt den Kopf schief.
Ich versuche mich aufzusetzen, was ziemlich schwierig ist, weil mein Kopf anscheinend mit Zusatzgewichten ausgestattet wurde, während ich geschlafen habe. Aber Elias wäre nicht er selbst, würde er mir nicht helfen. Mit ein paar Handgriffen stellt er das Kopfteil hoch.
„Also, ich warte ...“, meint er. Die Sternchen vor meinen Augen verschwinden langsam. Ich greife nach seiner anderen Hand, ziehe ihn zu mir und hoffe, dass er versteht.
„Björn und ich … Wir waren mal zusammen. Ist ewig her ...“, meine Stimme ist nur noch ein Flüstern. Jedes Wort fällt mir extrem schwer und doch muss es jetzt raus. Elias atmet zischend ein und sieht mich fassungslos an. Ich habe die Hand, bedeute ihm, mich aussprechen zu lassen. „Das ist auch der Grund, warum mein Vater mich letztendlich rausgeschmissen hat. Und weil ich ihm beweisen wollte, dass er sich geirrt hat, dass ich nicht schwul bin, habe ich seitdem nur noch was mit Frauen gehabt … Leider habe ich dabei übersehen, dass man seine Gefühle nicht ewig unterdrücken kann. Dass es einfach nicht gut geht, wenn man gegen seine Natur lebt. Bei Armin und Theo sieht es immer so einfach aus.“ Die vorhin noch gespielte Schwäche ist nun Realität. Meine Gedanken verwischen irgendwo im Schwindel, der mich erfasst hat. Gehen unter im Hämmern in meinem Kopf. Ein paar Mal durchatmen, das hier zu Ende bringen und dann schlafen. Ich hoffe, ich schaffe das irgendwie. Das hier kann eine ziemliche Katastrophe werden. Nur weil mein Herz ihm gehört, heißt das ja nicht automatisch, dass es umgekehrt auch der Fall ist.
„Aber ich habe mich verliebt. Sogar, ohne es zu merken. Und ich habe keine Ahnung, ob ich das Richtige tue, wenn ich es ihm sage ...“ Verdammt, das ist so unheimlich schwer und ich habe so überhaupt keine Erfahrung darin, meine Gefühle vor jemandem auszubreiten. Elias kneift die Augen zusammen und sieht mich mit einer seltsamem Mischung aus Sorge und Wut an. Seine Hand zerquetscht meine fast. Dann lässt er mich plötzlich los, marschiert wieder zum Fenster und starrt die Backsteinmauer an. Mir ist plötzlich eiskalt, ohne ihn. Und obwohl er immer noch im selben Raum ist, spüre ich eine Entfernung, die es zwischen uns noch nie gegeben hat. Ruckartig dreht Rocky sich um, sieht mich an und schnaubt.
„Chris, ich …“
Gespannt halte ich die Luft an.
„Dann viel Glück mit dem Schleimer, ich geh dann jetzt besser. Sicher wartet er schon draußen, bis ich weg bin.“
Seine Worte bohren sich einzeln schmerzvoll in mein Herz.
Er hat die Tür schon geöffnet, bis ich kapiere, was er da gesagt hat.
„Eli?“
Leise rufe ich nach ihm. Zum Glück hört er mich und bleibt stehen. Sieht über die Schulter zu mir zurück.
„Du hast mich noch nie Eli genannt“, sagt er leise. Ein kleines vorsichtiges Lächeln stiehlt sich in sein Gesicht.
„Nein, hab ich nicht.“ Ich krame verzweifelt nach den Worten, die ihn dazu bringen zurückzukommen. Mich nicht alleine zu lassen. Jetzt, wo ich endlich kapiert habe, dass es so nicht weitergehen kann mit mir. Immerhin schließt er die Tür wieder und bleibt abwartend stehen.
„Kannst du einfach wieder meine Hand halten? Ich glaub, dann ist es einfacher ...“, bitte ich vorsichtig. Elias nickt und kommt zurück, setzt sich neben das Bett, hält meine kalte Hand in seinen Händen, streichelt vorsichtig mit dem Daumen über meinen Handrücken.
„Also, wer hat dir so dermaßen den Kopf verdreht, und macht dir gleichzeitig Angst?“ Elias klingt beherrscht, aber ich kann darunter den Zorn hören, überhaupt funkeln seine Augen extrem angriffslustig. Trotz der Schmerzen und der Medikamente, die mein Hirn benebeln, des Schwindels, der permanent schlimmer wird, erkenne ich in dem Moment, dass Elias eifersüchtig ist. Auf Björn und sogar auf den vermeintlichen Unbekannten. Fast muss ich kichern.
„Lass mich nachdenken, er sieht verdammt gut aus. Manchmal ist er ein bisschen starrköpfig und schwer von Begriff, aber tief in seinem Herzen ein lieber Kerl.“ Elias versteift sich und ich beende das Spiel, bevor er doch noch aus dem Zimmer rennt. „Du kennst ihn sogar recht gut. Er heißt Elias … Für mich bisher Rocky – meistens. Aber ab heute, wohl besser Eli.“ Am Ende meiner Rede angekommen, sehe ich zu ihm rüber. Elis' Mund steht offen, die Augen sind weit aufgerissen und sehen mich fragend an.
„Scheiße“, flüstert er heiser. Sekundenbruchteile später spüre ich warme Lippen, die sich auf meine legen. Leise seufze ich. Ich hatte total vergessen, wie das ist, einen Mann zu küssen. Elias schmeckt besser als meine geliebten Torten, besser als Eiscreme mit Schokosauce. Er schmeckt nach purer Versuchung und Zuhause. Ich beschließe, mein Glück direkt herauszufordern, streife sanft mit der Zunge über seine Unterlippe. Elias antwortet mit einem unterdrückten Stöhnen, lässt mich aber ein und unsere Zungen spielen ein aufregendes Spiel, das mich sämtliche Schmerzen vergessen lässt. Lediglich der Schwindel nimmt zu. Ich ignoriere es einfach. Mein Körper sieht das aber irgendwie anders und ich falle kraftlos zurück in mein Kissen.
Besorgt sieht Elias mich an. „Gehts dir gut? Soll ich den Schleimer rufen?“, will er wissen.
„Er ist kein Schleimer! Und nein, es ging mir nie besser“, erwidere ich noch schwach und außer Atem, aber total glücklich. Von meinem Magen aus breitet sich ein wohliges Gefühl in mir aus und ich grinse wie ein Honigkuchenpferd. Wieder ergreife ich Elis' Hand und halte mich an ihm fest. Er schnaubt, teils belustigt teils bockig, sagt aber nichts, sondern legt einfach seinen Kopf an meine Schulter.
 

 

17 - Elias

Seit beinahe einer halben Stunde liege ich wach und beobachte ihn im Schlaf. Seine Gesichtszüge sind entspannt und die Atmung geht gleichmäßig, aber unter den Augen liegen leichte Schatten. Das war in letzter Zeit alles ein bisschen viel für ihn. Dann auch noch der Sturz und die damit verbundenen Verletzungen haben ihm den Rest gegeben. Mein Kleiner ist an seine Grenzen gestoßen und braucht jetzt ganz dringend eine Pause.

Ihr habt schon richtig gehört … mein Kleiner. Wir sind jetzt endlich ein Paar.

Nachdem er mir im Krankenhaus sagte, dass er in mich verliebt ist, konnte ich mein Glück kaum fassen. Manchmal geschehen eben doch noch Wunder und die Glücksfee kippte diesmal ihr komplettes Füllhorn über meinem Kopf aus. Mein sehnlichster Wunsch ging damit in Erfüllung und seitdem brauche ich ständigen Körperkontakt zu ihm. Kleine sanfte Küsse, liebevolle Umarmungen oder ich sehe ihn einfach nur an.

Irgendwie hatte ich schon fast nicht mehr damit gerechnet. Als dieser Weißkittel an seinem Bett saß und seine Hand hielt, da sah ich meinen Traum schon wie eine Seifenblase zerplatzen. Kurzzeitig hat die Eifersucht so sehr in mir gewütet, dass ich schon drauf und dran war, einfach abzuhauen. Meinen Chris, in Liebe vereint mit diesem Arzt zu sehen, hätte ich nicht ertragen können.

In dem Augenblick, als er mir jedoch sagte, dass er in mich verliebt ist, brachen bei mir alle Dämme. Der Kuss war nicht nur das Verschmelzen unserer Lippen, sondern das Betreten einer komplett anderen Welt und schmeckte nach mehr. Es war wie ein Versprechen. Ein Ankommen an einem Ort, den jeder Mensch braucht und nach dem sich jeder sehnt: Zuhause. Ich bin endlich da, wo ich hingehöre.

Er ist mein letztes Puzzleteil, dieses kleine Stückchen Chaos, das mir in meinem Leben vor Chris gefehlt hat und es jetzt perfekt macht. Meine Gefühle für ihn gehen in eine Tiefe, die ich bisher nicht kannte und dennoch habe ich keine Angst davor. Instinktiv weiß ich einfach, dass ich bei ihm sicher bin. Im Gegenzug dazu werde ich alles tun, um ihn vor den Widrigkeiten des Lebens zu beschützen. Ich brauche ihn einfach und er braucht mich. Wir gehören zusammen und ich lasse ihn nicht mehr los. Plötzlich ist alles so einfach.

Gestern musste ich diesen Arzt noch davon überzeugen, dass Chris bei mir zuhause besser aufgehoben ist. Zuerst wollte ich dem Kerl am liebsten an die Gurgel gehen und konnte mich nur mühsam zurückhalten. Nach kurzem Zögern hat er dann dennoch zugestimmt und mir das Versprechen abgenommen, mich um Chris zu kümmern. Als ob das nötig gewesen wäre. Ich werde meiner kleinen Prinzessin jeden Wunsch von den Augen ablesen und ihn auf Händen tragen. Er hat keine Chance, auch nur einen Finger krumm zu machen.

Der Arzt hingegen entpuppte sich als echt netter Kerl und ich dachte nicht, dass ich das mal sagen würde. Er grinste mich frech an und bot mir das Du an, nahm mir damit jeglichen Wind aus den Segeln.
Björn.
Den Familiennamen habe ich schon wieder vergessen. Zu aufregend waren die restlichen Ereignisse des Tages. Nachdem alle Formalitäten geregelt waren, durfte ich meinen Schatz endlich nach Hause bringen. Wir saßen noch ein bisschen auf dem Sofa und redeten, aber Chris war ziemlich erschöpft. Zwischendurch schlief er immer wieder ein und so bettete ich ihn in meine Arme, bewachte seinen Schlaf.
Seine Lippen waren leicht geöffnet und führten mich in Versuchung, aber ich widerstand. Er braucht jetzt vor allen Dingen Ruhe und dafür werde ich sorgen.

Bereits gestern habe ich alles organisiert, sodass ich mich in nächster Zeit ausschließlich um ihn kümmern kann. Mein Kumpel Levi wird die Übungsgruppe für die nächsten Wochen übernehmen und ich bekomme außerdem seine Notizen aus den Vorlesungen. Den Stoff kann ich mir zuhause auch aneignen und er wird mich hierbei unterstützen. Auf Levi kann ich mich verlassen, er lässt mich nie hängen.

Chris kann ich die nächsten zwei Wochen unmöglich alleine lassen, denn ich kenne ihn einfach zu gut. Wenn ich nicht auf ihn aufpasse, dann übernimmt er sich wieder und das sollte ich unbedingt verhindern. Wenn es sein muss, mit allen Mitteln. Ein Grinsen schleicht sich in mein Gesicht. Ich werde ihn einfach mit meiner Liebe überschütten und liebevoll umsorgen. Er wird überhaupt keine Zeit haben, auch nur einen Moment ans Arbeiten zu denken. Seine Sinne werden vernebelt sein von rosa Herzchenwolken.

Langsam sollte ich aufstehen und mich an die Arbeit machen. Frühstück macht sich schließlich nicht von allein. Unter der Dusche lasse ich meinen Gefühlen freien Lauf und komme bereits nach kurzer Zeit ziemlich heftig. Die Bilder von Chris in meinem Kopf und das Brennen meiner Lippen, wenn ich nur an seine Küsse denke, tun ihr Übriges dazu. Diesmal geschieht dies allerdings ohne schlechtes Gewissen. Schließlich ist er nicht nur mein bester Freund, sondern auch der Mann in meinem Leben. Mein Mann. Scheiße, das hört sich so geil an.

Beschwingt mache ich mich in der Küche an die Zubereitung des Frühstücks für Chris. Heute gibt es was richtig Gesundes für ihn. Joghurt mit frischen Beeren, dazu Haferflocken und jede Menge gehackte Nüsse. Gesüßt mit ganz viel Honig, schließlich liebt mein Kleiner Süßes über alles. Statt Kaffee gibt es heute für ihn Kräutertee, ebenfalls ziemlich süß. Mal sehen, was er dazu sagt.

Gut gelaunt mache ich mich mit dem gefüllten Tablett auf den Weg in sein Zimmer. Heute gibt’s für ihn Frühstück im Bett und eine anschließende Kuschelrunde. Ich werde ihn etwas verwöhnen und darauf achten, ihn nicht zu überfordern. Wir haben schließlich alle Zeit der Welt.
Da ist auch noch die Sache mit Hagen. Chris will Genaueres über meine Vergangenheit wissen und so wie es aussieht, werde ich hier wohl die Hosen runterlassen müssen. Er war ja auch sehr offen zu mir und hat mir alles von sich erzählt. Es ist also nur fair, wenn ich ihm im Gegenzug auch vertraue. Er ist meine Zukunft und ich will mit ihm zusammen sein. Da sollten die schlechten Erfahrungen der Vergangenheit nicht mehr zwischen uns stehen. Vorsichtig stelle ich das Tablett auf dem Tisch ab und krabble wieder zurück ins Bett, kuschle mich an ihn.

„Guten Morgen, Prinzessin.“ Zärtlich küsse ich mich an seinem Hals entlang und ein wohliges Brummen ist seine Antwort darauf. Chris ist wirklich in jeder Beziehung eine Naschkatze und streckt mir seinen Mund auffordernd entgegen. Seine Lippen sind unglaublich weich und öffnen sich bereits bei der kleinsten Berührung für mich.
Kein Zweifel, auch der liebe Chris ist geradezu ausgehungert nach Nähe, tiefen Gefühlen und Liebe. Es ist ein zärtliches Knabbern, ein gegenseitiges Necken mit der Zunge und ein wortloser Austausch von Empfindungen. So fühlt sich Liebe an. Jede kleinste Berührung des anderen setzt neue Reize frei und weckt das Verlangen nach noch mehr Nähe.
Auch wenn ich es sehr genieße, so muss ich jetzt trotzdem vernünftig sein. Schließlich muss sich Chris noch schonen und sollte jetzt erst einmal etwas essen. Nur widerwillig löse ich mich von seinen Lippen und streiche ihm sanft seine wirren Haarsträhnen aus dem Gesicht.

„Zeit fürs Frühstück, Prinzessin. Heute mal ausnahmsweise im Bett.“
Flink stehe ich auf und platziere kurz darauf das Tablett auf seinem Schoß. Skeptisch blickt Chris auf die Müslischüssel und beim Anblick des Tees schmollt er leicht. „Kein Kaffee? Eli, ich habe eine Gehirnerschütterung und kein Magengeschwür. Ich will Kaffee. Jetzt.“ Wild funkelt er mich an und ich trolle mich innerlich grinsend in die Küche. Einen Versuch war es wert. Soll er seinen Willen bekommen, dann eben Kaffee. Als ich zurückkomme, ist er bereits dabei, das Müsli genüsslich zu verputzen.

„Mensch, das schmeckt köstlich. Bekomme ich das jetzt nur, wenn ich krank bin, oder gibt es das auch so?“ Sein verschmitztes Lächeln wärmt mir das Herz und ich muss mich wirklich zurückhalten, jetzt keine überschwängliche Liebeserklärung vom Stapel zu lassen. Alles zu seiner Zeit, ich will ihn nicht schon zu Anfang überfordern. Okay, Schiss hab ich natürlich auch.
„Wenn du willst, kannst du das öfter haben, aber Vorsicht … es ist gesund.“ Breit grinse ich ihn an und ernte dafür einen leichten Schlag auf den Arm, gepaart mit einem verächtlichen Schnauben. „Du wieder.“

Einträchtig löffeln wir unser Müsli, wobei mein Kleiner sich auch hemmungslos an meiner Schüssel bedient. Soll er ruhig, er ist sowieso viel zu dünn. Nach dem Frühstück liegen wir gesättigt im Bett und ich halte ihn einfach nur fest. Chris schmiegt sich wie ein kleines Kätzchen an mich und ich streichle ihm sanft über den Rücken. Ein perfekter Moment. Dieser Augenblick ist viel intimer, als wenn wir jetzt Sex hätten. Manchmal sind es die kleinen Dinge im Leben, die dich fast verrückt machen. Die dir zeigen, wie nahe sich Glück, Wahnsinn und Liebe doch sind. Im positiven Sinne.

Ich spüre seine Wärme durch den Stoff meines Shirts, kann das Heben und Senken seines Brustkorbs unter meinen Fingern fühlen, auch das leichte Zittern entgeht mir nicht. Sein Duft hüllt mich ein und sein warmer Atem streift meinen Hals. Er öffnet sich mir komplett, zeigt sich verletzlich und vollkommen schutzlos. Damit gibt er mir etwas zurück, was ich vor langer Zeit verloren habe. Vertrauen. Es ist die Gewissheit, dass ich es bei ihm uneingeschränkt kann, denn er wird mich nie verletzen, mich niemals hintergehen. Er fordert es nicht ein. Im Gegenteil. Er lässt mich den Zeitpunkt bestimmen, wann immer ich soweit bin, es ihm gleichzutun. Mein Kleiner ist so stark, also sollte ich es auch sein. Für ihn, für uns. Kurz sammle ich meine Gedanken, dann beginne ich mit meiner Beichte.

„Als ich Hagen kennenlernte, war ich noch sehr jung. Außerdem dumm und naiv genug, ihm alles zu glauben.“ Die Erinnerungen holen mich wieder ein. „Geprägt durch mein Elternhaus, die in so tiefer Liebe verbunden sind, war ich ein hoffnungsloser Romantiker. Ich wollte die Wahrheit einfach nicht sehen und habe das Negative sehr lange verdrängt.“ Ich mache noch eine kurze Pause, denn jetzt geht’s ans Eingemachte.

„Zu Anfang hat mich Hagen auf Händen getragen. Es war wie ein Traum, aus dem ich nie mehr erwachen wollte. Er war so souverän, so weltgewandt und so unglaublich schön. Außerdem war er ein Stückchen älter und wesentlich erfahrener. Es war Liebe auf den ersten Blick, zumindest habe ich es mir damals eingeredet. Die rosarote Zeit war irgendwann allerdings vorbei und dann zeigte er sein wahres Gesicht. Seine hässliche dunkle Seite.“ Chris spannt sich unter meinen Händen etwas an und ich küsse ihn auf die Stirn, um ihn etwas zu beruhigen.

„Gleich vorweg, er hat mich niemals geschlagen. Seine Gewalt war nur verbal, die spitzen Waffen waren seine Worte, die mich sehr verletzten. Er hat mich gedemütigt und erniedrigt, je mehr Zuschauer er dabei hatte, desto mehr Spaß für ihn. Ich war ihm hörig und stand unter seinem Bann, keine Ahnung, wie das passieren konnte.“ Vor der letzten Enthüllung hole ich nochmals tief Luft, um nicht daran zu ersticken.

„Irgendwann fing er an, bei einschlägigen Veranstaltungen sexuelle Handlungen vor all den Leuten von mir zu verlangen. Meistens war ich durch irgendwelche Pillen zu benebelt, um mich dagegen zu wehren. Hagen ist ein Narziss und hat sich selbst dann perfekt in Szene gesetzt, als er mich vor all den Leuten gefickt hat. Das war sein größter Triumph und schließlich mein Untergang. Mein Glück war, wenn man so will, dass er daraufhin ganz schnell das Interesse an mir verlor. Er hatte bereits ein neues Spielzeug an der Hand und hat mich weggeworfen. Einfach entsorgt.
In dieser Nacht bin ich endlich aufgewacht und um mein Leben gerannt. Ich hatte nichts mehr und stand auf der Straße. Kein Geld, kein Dach über'm Kopf, keine Freunde mehr. Mein einziger Lichtblick war Levi. Ihn hatte ich kurz zuvor kennengelernt und er nahm mich wortlos bei sich auf. Er hat mich vor dem Schlimmsten bewahrt und keine Fragen gestellt. Ich verdanke ihm mein Leben und würde alles für ihn tun. Das ist meine dunkle Geschichte, Prinzessin … in all ihrer Hässlichkeit.“

Ich drücke ihn verzweifelt an mich, kann die Tränen allerdings nicht mehr zurückhalten und irgendwie will ich das auch nicht mehr. Bei Chris darf ich auch meine schwache Seite zeigen, ohne dass er mich dafür verurteilt oder verspottet. Außerdem weiß ich, dass er dieses Wissen niemals gegen mich verwenden wird. Ich vertraue ihm einfach und das ist ein verdammt gutes Gefühl. Chris löst sich etwas aus meiner Umarmung und sieht mir mitfühlend in die Augen. Er wischt mir zärtlich mit seinen Daumen die Tränen aus dem Gesicht.

„Oh Eli, das hättest du nicht so lange allein mit dir herumschleppen müssen. Aber jetzt hast du ja mich und ich lass dich nie mehr allein.“ Er küsst mich und lässt sich dabei in die Kissen zurücksinken, zieht mich einfach mit sich. Küssen, einfach nur küssen. Das ist eine der schönsten Arten von Unterhaltung, die zwei Menschen führen können und ich verstehe jedes Wort, das er mir sagt. Die Klingel holt uns wieder aus unserer Gefühlsblase und ich löse mich nur widerwillig von ihm.

„Das wird Lian mit unserem Mittagessen sein. Sieht ganz so aus, als hätten wir den kompletten Vormittag im Bett verbracht. Herrlich.“ Mit einem Zwinkern hüpfe ich aus unserer kuscheligen Höhle und spurte zur Tür. Boten mit göttlichen Speisen sollte man schließlich nicht warten lassen. Meine beachtliche Latte versuche ich notdürftig unter dem großen T-Shirt zu verbergen. Ein etwas hilfloses Unterfangen.

Natürlich ist es Lian und er grinst mich an, bevor er sich an mir vorbei drängt. Flink stellt er das Essen in der Küche ab und eilt gleich weiter in Chris' Zimmer. „Na Prinzessin, wie geht’s dir? Was macht dein Kopf?“ Plumpsend lässt er sich auf der Bettkante nieder und schenkt Chris ein strahlendes Lächeln. „Oh bitte, du jetzt nicht auch noch.“ Er macht wieder diesen Schmollmund und sofort kribbelt es wieder in meinem Bauch.

„Euer Hoheit, ich darf das. Schließlich bin ich in nächster Zeit der Hoflieferant und bringe die sündigsten Speisen vorbei. Ihr ergebener Diener, Majestät.“ Er beugt sich übertrieben nach vorne und bringt Chris damit zum Lachen. „Du Spinner.“ Fast schon zärtlich wuschelt er ihm durch die Haare und macht Lian damit tatsächlich etwas verlegen. Die beiden mögen sich sehr und deshalb verwöhnt er meinen Kleinen auch mit allerlei Köstlichkeiten. Für heute verabschiedet er sich allerdings, da er in sein Restaurant zurückmuss, aber für morgen verspricht er uns eine kleine Überraschung. Sein freches Augenzwinkern lässt mich schmunzeln. Mit seiner Hilfe und diesen überragenden Kochkünsten wird Chris sehr bald wieder auf die Beine kommen.

„Hast du Hunger, Chris oder willst du erst etwas schlafen?“ Zärtlich streiche ich ihm ein paar Strähnen aus der Stirn und sehe in seine müden Augen. „Ich glaub, ich mach erst ein Nickerchen, bin doch etwas erschöpft.“ Wie ein kleines Kätzchen rollt er sich unter der großen Decke zusammen und die Augen fallen ihm bereits zu. „Eli ...“, seufzt er ganz leise und die Gesichtszüge entspannen sich. Seine Atmung wird ruhig und gleichmäßig. Er ist eingeschlafen …

18 - Christian

„So ein verfluchter Mist“, schimpfe ich, als mir das Shampoo in die Augen läuft. Das kann doch alles nicht wahr sein. Nicht genug, dass ich schon wieder mitten in der Nacht hochgeschreckt bin, weil ich dachte, meinen Wecker zu hören. Jetzt wiederholt sich das hier auch. Genau wie vor drei Monaten. Björn hatte darauf bestanden, mir noch eine ganze Weile eingeschränkte Belastbarkeit meines Schultergelenks zu attestieren. Auch wenn ich keinen richtigen Schmerz mehr fühlen konnte, spürte ich doch, dass noch nicht alles wieder so war, wie es sein sollte. Zugegeben, die Zeit zwischen Aufwachen und Duschen habe ich dieses Mal wesentlich sinnvoller genutzt. Immerhin ist Elias mit seinen Sachen zwischenzeitlich zu mir umgesiedelt. Und dank meines Fluches, als ich bemerkte, dass ich schon wieder nur geträumt hatte, und dem Sprung aus dem Bett, war auch Elias wach. Aus dem gemurmelten „Komm wieder ins Bett, Prinzessin“, war erst kuscheln, dann knutschen und schließlich leidenschaftlicher Sex geworden. Jetzt habe ich zwar nicht verschlafen, bin aber für mein Gefühl nach trotzdem spät dran. Will heißen, von meinem einstündigen Puffer fehlen mindestens fünf Minuten.


„Lass mich das machen.“ Elias drückt sich an mich und greift nach dem Duschkopf. Vorsichtig spült er mir den Schaum aus den Haaren und dem Gesicht. Dann erst schäumt er meinen Körper sanft ein. Gerne würde ich einfach unter dem warmen Duschstrahl stehen bleiben und mich Elias' Händen überlassen. Dabei ist das letzte Mal gerade eine halbe Stunde längstens her.
„Vergiss es, Süßer. Frühstück ist fertig“, verkündet mein Freund jedoch und schiebt mich rigoros aus der Dusche. Fahrig greife ich nach meinem Bademantel, der natürlich runter fällt und erst im zweiten Versuch gewillt ist, mich aufzunehmen. Mit einem Kuss schickt Elias mich in die Küche.
Der Tisch ist bereits liebevoll gedeckt. In meiner Lieblingstasse dampft der Kaffee, und auch das Müsli wartet nur noch auf die Milch. Wohlig seufzend nehme ich den ersten Schluck und schließe die Augen. Langsam wandern meine Gedanken dahin, wo ich sie für die nächsten Stunden brauche. Die Aufregung ist da, aber sie beherrscht mich nicht. Lediglich ein gesundes Maß schärft meine Konzentration. Hält sie auf einem erträglichen und gleichzeitig notwendigen Level.

Wirklichen Hunger habe ich nicht, esse aber Elias zuliebe etwas. Außerdem hoffe ich auf einen Besuch bei Charlie am Nachmittag. Natürlich mit Kuchen und so. Irgendwas ist nämlich im Busch, denn mein Schatz hat gestern den halben Nachmittag Nachrichten auf dem Handy getippt. Angeblich mit Levi. Wer es glaubt, wird selig.

 

***

 

Leise fällt die Tür hinter mir ins Schloss. Die Damen und Herren von der Prüfungskommission begrüßen mich freundlich. Kurz stelle ich mein Programm vor und beginne dann mit meinem Vortrag. Die Nervosität verschwindet von Note zu Note. Seit ich mit Elias zusammen bin, ist alles so viel einfacher geworden. Natürlich muss ich noch immer viel arbeiten, aber er holt mich runter, wenn ich mal wieder kurz vor dem Durchdrehen bin. Jagt mich eine Runde um den See oder verfrachtet mich auf die Couch um zu „chillen“. Wobei er anscheinend andere Vorstellungen von chillen hat als ich. Aber wenn ich meine Proben sowieso unterbreche, bin ich der Meinung, dass ich die Zeit nicht mit irgendwelchen Filmen oder sinnlosen Reality-Shows vergeuden sollte. Und überhaupt schmeckt Elias mit Sprühsahne einfach lecker.
Schnell bin ich am Ende meines Vortrags angekommen. Die Damen und Herren von der Prüfungskommission verabschieden sich ebenso distanziert und höflich von mir, wie die Begrüßung abgelaufen ist. Ich habe vollkommen vergessen, auf ihre Mienen zu achten, kann daher nicht einschätzen, ob sie es gut fanden oder nicht, was ich abgeliefert habe. Einzig mein Professor reckt den Daumen nach oben, als ich den Raum verlasse.

Vor der Tür ist das Chaos ausgebrochen. Der Prüfling der nach mir dran ist, stürzt mir entgegen und ist augenscheinlich froh, der Szene zu entkommen, die ich erst mal komplett erfassen muss. Rechts steht Elias, der von Levi mehr oder weniger erfolgreich festgehalten wird. Hätte nicht gedacht, dass er dazu in der Lage ist. Zwei Meter entfernt steht Martin und grinst sein süffisantes Grinsen, das ich ihm am liebsten sonst wohin stecken würde.
„Was willst du denn schon wieder hier?“, frage ich ihn genervt.
„Keine Sorge, ich will die kleine Bettflasche nicht zurück. Ich bin nur zufällig vorbeigekommen und dein Stecher ist auf mich losgegangen ...“, erklärt das Arschloch vollkommen ernst.
Ich nicke und stelle meinen Gitarrenkoffer vorsichtig ab. Laut hämmert mein Herz in der Brust, so hart, dass es fast schon wehtut. Erst als ich ganz dicht vor Martin stehe, spreche ich wieder.
„Hör zu. Ich habe es dir schon mal gesagt. Verschwinde ganz einfach aus meinem Leben und lass Elias in Ruhe. Du hast keine Ahnung, was du da aufgegeben hast. Tatsächlich bin ich dir dafür sogar dankbar, denn du hast ihn ganz sicher nicht verdient.“
„Wenn du dich da mal nicht irrst, Kleiner. Mein Kumpel Hagen ist ja überzeugt ...“
Weiter kommt er nicht. Krachend landet meine Faust in seinem Gesicht und mein Knie in seinen Weichteilen. Das Training mit Elias hat sich bereits nach kurzer Zeit bezahlt gemacht. Ich bin froh, dass er nach meiner Genesung darauf bestanden hat, mir ein paar grundlegende Verteidigungsmaßnahmen beizubringen. Es ist genau das, was ich gerade brauche. Außerdem tut es gut, Martins schmerzerfülltes und sicher auch überraschtes Keuchen zu hören. Gerne würde ich den Anblick seines schmerzverzerrten Gesichtes noch eine Weile genießen. Dazu würde ich mich aber dem Risiko einer Retourkutsche aussetzen, und das wiederum halte ich nicht nur für keine gute, sondern sogar für eine ausgesprochen schlechte Idee. Martin und Hagen. Arschlöcher. Alle beide. Levi und Elias stehen still da und sehen zwischen Martin und mir hin und her. Ruhiger als ich eigentlich bin, schnappe ich mir meine Gitarre und gehe an den beiden vorbei. Ich will so viel Platz zwischen Martin und mich bringen, wie ich nur kann, bevor der zur Besinnung kommt.
„Kommt ihr, oder muss ich alleine nach Hause gehen?“, frage ich meinen Freund. Ich drehe mich nicht noch mal um, sondern gehe den Flur runter um die Ecke. Langsam fange ich nämlich an zu zittern. Levi und Elias setzen sich glücklicherweise in Bewegung. Hinter uns knallt ein Stuhl, vermutlich gegen die Wand. Ich grinse. Hat richtig gutgetan. Dabei bin ich eigentlich sonst gegen Gewalt in jeglicher Form. Sie hat noch nie ein Problem wirklich gelöst. Trotzdem befriedigt es mich gerade ungemein. Elias scheint da anderer Meinung zu sein, denn kaum haben wir das Gebäude verlassen, reißt er mir meine Gitarre aus der Hand und drückt sie Levi mit der Bemerkung „Fahr schon mal vor, wir kommen nach“, in die Hand. Der sieht recht verdutzt aus, ist aber wohl der Meinung, dass ich das lieber alleine ausbaden soll, und zieht ab. Vielen Dank auch.

Elias stapft in die andere Richtung davon. Die ganze Zeit murrt und brummelt er vor sich hin. Sieht sich nur hin und wieder um, ob ich ihm noch folge. Erst am „Philosophenpavillon“ wird er langsamer. Zögerlich folge ich ihm ins Innere, wo er mich stürmisch an sich reißt, mein Gesicht und meinen Hals mit Küssen bedeckt und mich so fest an sich drückt, dass mir fast die Luft wegbleibt. So gut ich kann, erwidere ich seine Küsse, halte mich an ihm fest und lasse ihn sich erst mal austoben. Ich genieße es, dass er mich mal unaufgefordert nicht behandelt wie ein rohes Ei. Nur weil ich einen Kopf kleiner bin als er, heißt das ja nicht automatisch, dass ich zerbrechlich bin. Seine Hände schleichen sich unter mein Hemd, die Krawatte verschwindet irgendwo hin, von mir aus ins Nirwana. Ist mir vollkommen egal. Auch dass jederzeit jemand hier auftauchen könnte, im schlimmsten Fall Martin, verdränge ich erfolgreich. Zwischenzeitlich liege ich auf der Bank und Elias bedeckt nun auch meinen Oberkörper mit Küssen. Gleichzeitig befreit er meinen Schwanz aus der Hose, leckt langsam und vorsichtig daran entlang und lässt mich dabei nicht aus den Augen. Erst als er seine Lippen sanft über meine Eichel stülpt, schließe ich stöhnend die Augen. Normalerweise nimmt er sich Zeit, verwöhnt mich, lässt mich ewig lange in diesem Bereich zwischen Himmel und Erde schweben, wo mir alles egal ist, Hauptsache er ist bei mir.

Heute jedoch setzt er seine sehr guten Kenntnisse meiner Vorlieben bewusst ein, um mich schnell zu einem heftigen Orgasmus zu bringen, der mich Sterne sehen lässt. Während ich noch schwer atmend daliege, leckt er sich die Lippen und grinst. „Du bist echt total übergeschnappt, Prinzessin. Was, wenn er dir wehgetan hätte …? Das war das Dümmste und Schönste, was je ein Mensch für mich getan hat“, sind die ersten echten Worte, die er an mich richtet, seit er wie von der Tarantel gestochen losgedampft ist. Meine innere Stimme sagt mir, dass jetzt der Zeitpunkt ist, ihm zu sagen, dass ich zwar klein, aber nicht hilflos bin. Dass ich mich schon wehren kann, wenn es drauf ankommt und ich keinen brauche, der meine Schlachten für mich schlägt. Das liebevolle Funkeln in seinen Augen lässt mich das alles jedoch herunterschlucken.

Gedacht habe ich es ja schon so oft, gesagt aber viel zu selten. Eigentlich fast nie. Es fällt mir immer noch schwer, meine Gefühle einfach anzunehmen, sie nicht infrage zu stellen. Deshalb beschränke ich mich darauf, das Hemd notdürftig in die Hose zu stecken und mich an ihn zu schmiegen, um ihm einen Kuss in die Halsbeuge zu hauchen. „Ich liebe dich auch“, flüstere ich leise. Elias verstärkt den Druck seiner Arme einen Moment. Ist für zwei Gefühlskrüppel gar nicht so einfach, zu sagen, was wir fühlen. Aber es genügt mir, zu wissen, dass es „Ich dich auch“ bedeutet.
„Bringst du mich nach Hause?“, bitte ich. Hand in Hand verlassen wir den Pavillon wieder und gehen zum Auto. Erstaunt stelle ich fest, dass wir nicht die Richtung zu unserer Wohnung einschlagen. Aber Elias meint nur, ich solle mich überraschen lassen. Er habe nicht tagelang durch die Gegend telefoniert, um es mir jetzt zu verraten. Kurz darauf parken wir direkt vor dem „Orchid Dragon“. Den Parkplatz hake ich mal unter glücklicher Fügung ab. Aber um diese Zeit ist noch geschlossen. Ich habe keinen blassen Schimmer, was wir hier sollen. Aber vielleicht schleichen wir uns einfach in die Küche und berauben Lian seiner köstlichen Nachspeisen für das Buffet. Bei dem Gedanken muss ich breit grinsen. Ich liebe dieses in Honig getränkte Zeug einfach. Ich warte, bis Elias um das Auto herumgegangen ist und lasse mich von ihm an der Hand zum Eingang ziehen. Vor der Tür bekomme ich noch einen flüchtigen Kuss. „Nicht böse sein, bitte“, sagt Elias, öffnet die Tür und schiebt mich durch.
Ich habe noch keine zwei Schritte gemacht, da bricht ein Höllenlärm los. Jemand wirft mir Konfetti über den Kopf und alle lachen, weil ich sicher ziemlich dämlich aus der Wäsche schaue.
Carsten, Levi, Theo, Armin, Lian und seine Brüder, sogar Björn und Charlie sind da. Elias umarmt mich von hinten, küsst mich in den Nacken. Ich bin zu erstaunt, um überhaupt was sagen zu können. Lian drückt mir ein Glas Sekt in die Hand und versorgt dann den Rest der Gäste.
„Danke, dass ihr alle gekommen seid. Lasst uns einfach ein bisschen feiern. So ganz ohne wirklichen Grund. Einfach, weil wir uns haben“, verkündet Elias mit fester Stimme. Nur ich kann das Zittern seines Körpers spüren. Ebenso die Verstärkung des Drucks seiner Hand an meiner Hüfte, beim letzten Satz.
Und dann feiern wir. Einfach so und ziemlich lange. Lian hat alle Register gezogen. Die Nachspeisen stammen zum Teil von ihm und zum Teil von Charlie. Nach und nach verabschieden sich die Gäste. Elias und ich sitzen auf der Bank in „unserer“ Ecke und schweigen gemütlich vor uns hin. Genießen es einfach, den anderen zu fühlen. Ich bin vollgefuttert, überzuckert und total geschafft. Dämmere mehr vor mich hin, als wach zu sein. „Lass uns abhauen“, schlägt Elias vor und schiebt mich sanft vor sich her nach draußen. Als die Tür sich hinter uns schließt, glaube ich, Björn in der Küche lachen zu hören, wie ich verdutzt registriere. Lian lässt sonst eigentlich niemanden in die Küche. Auch uns droht er ständig an, uns rauszuwerfen, und wir müssen in der hintersten Ecke stehen bleiben. Weitere Gedanken an Lian, Björn und die Küche werden jedoch von Elias stürmisch weg geküsst, bevor wir tatsächlich nach Hause fahren. Wo ich die Prinzessin bin und er mein Held. Ganz ehrlich will ich es gar nicht anders haben. Mir egal, was die anderen denken. Ich habe mich viel zu lange versteckt, beinahe zu lange. Auch wenn ich es niemals zugeben würde, bin ich froh, dass Martin mich so gereizt hat, sonst wäre das alles ganz anders ausgegangen. Das hämische Lachen meines Vaters, das ich immer wieder höre, wird von Mal zu Mal leiser, wenn ich Elias ansehe.

In unserem Bett kuschele ich mich in die starken Arme meines Mannes. Lasse mich von ihm auch im Schlaf beschützen, weil ich weiß, dass es für ihn wichtig ist. Und so, wie er meinen Körper beschützt, so bewacht er auch mein Herz mit all der Liebe darin, die ich so lange unterdrückt habe. Elias seufzt leise, vergräbt seine Nase in meinen Haaren. „Schlaf gut“, flüstert er und ich küsse ihn bestätigend auf die Schulter. Nie in meinem Leben habe ich mich wohler gefühlt, oder ist es mir besser gegangen als jetzt. Hier mit Elias. Alles ist nun endlich so, wie es schon von Anfang an hätte sein sollen. Glücklich schließe ich die Augen, auch wenn kein Traum jemals besser sein kann als die Realität mit Eli.

 

Impressum

Texte: Ani Rid/ Ellie Sandberg
Bildmaterialien: Caros Coverdesign, pixabay
Lektorat: Sitala Helki
Tag der Veröffentlichung: 01.02.2016

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Ganz lieben Dank an Ani Rid für diese tolle Idee, an Sitala Helki für die schnelle Korrektur und Caro Sodar für das wunderschöne Cover.

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