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Messers Schneide

Er schloss die Augen, lehnte sich zurück und sog die laue Frühlingsluft tief in seine Lungen.

Die goldenen Strahlen der Sonne umhüllten ihn wie eine mollige Decke und der Gesang der Vögel, der sich über das schwache Rauschen des fernen Verkehrslärms erhob, plätscherte auf ihn ein wie eine wohltuende, warme Dusche.

Ein tiefer Seufzer entwich seiner Kehle.

Vor einer knappen Stunde hatte er das nahegelegene Krankenhaus verlassen. Nach dieser Schicht hatte ihn nichts nach Hause, in seine Zweizimmerwohnung gezogen, wo ihn als einzige Gesellschaft sein Kater Leon und sein 50 Zoll UHD-Fernseher erwarteten.

Stattdessen hatte er sich für einen Spaziergang im Park entschieden, wo er schließlich auf dieser Bank gelandet war.

 

Begonnen hatte alles gegen halb sechs an diesem Morgen, in der U-Bahn.

 

Verschlafen wie immer hing er an der Haltestange; umgeben von zahlreichen anderen, müden Gesichtern, espressogedopten Anzugträgern und der üblichen Anzahl menschlicher Wracks, die niemals wirklich wach zu sein schienen, da sie keine Probleme mit Alkohol oder Drogen hatten – nur ohne!

Es musste am Rathausplatz gewesen sein, als es plötzlich wirkte als ob ein Licht in der Kabine entflammt wäre: Die Aura der jungen Frau, die gerade zugestiegen war, hatte den viel zu frühen Morgen für ihn gleich um einiges angenehmer werden lassen.

Sie musste Anfang zwanzig sein. Ihr langes, kastanienbraunes Haar fiel wie ein seidener Schleier über ihren anthrazitfarbenen Mantel, der an der Taille von einem integrierten Gürtel eingeschnürt wurde und somit ihre perfekte Silhouette betonte. Aus ihrem ungeschminkten und dennoch bildschönen Gesicht starrte ein Paar bernsteinfarbener Augen glasig ins Leere.

Irgendwann ließ sie sie über die anderen Fahrgäste schweifen, ihrer beiden Blicke trafen sich und er lächelte sie an – eine Geste die sie nur schwach und scheinbar gezwungen erwiderte.

Vermutlich war ihre Nacht viel zu kurz gewesen, spekulierte er.

Und während er noch Energie aus ihrem atemberaubenden Anblick sog, fuhr der Zug in die Haltestelle Robert-Koch-Klinik ein.

Er stieg aus, und eine Stunde später hatte er die unbekannte Schöne bereits vergessen.

 

Er neigte den Kopf nach links und rechts und ließ seine Halswirbelsäule knacken.

Hätte er etwas erkennen müssen? Es verhindern können?

 

Es war bisher eine gewöhnliche Frühschicht in der zentralen Notaufnahme gewesen.

Arbeitsunfälle, ein paar Rentner die beim Einkaufen gestürzt waren, Jugendliche denen in der Schule schlecht geworden war, und ein Mittvierziger mit Herzinfarkt. Das Highlight war bis elf Uhr eine höchst aggressive Oma mit paranoider Psychose gewesen.

Um elf Uhr neun sprach ihn eine Schwester – Martina war ihr Name – wegen einer hereinkommenden, kritischen Patientin an: „Suizidversuch durch Mischintox, der RTW ist in fünf Minuten da!“

Er eilte in den Schockraum, wo sich das restliche Team bereits am Versammeln war, und begann mit den Vorbereitungen.

Kurz darauf wurde im Eilschritt die Trage hereingerollt, begleitet von drei rot gekleideten Personen: einer Frau und zwei Männern.

„Was hat sie genommen?“, wandte er sich an den ältesten davon, den Notarzt.

„Digoxin, Metoprolol, Citalopram und Enalapril – jeweils alles was noch in der Packung war. Zu Hause bewusstlos aufgefunden, Puls 24, kaum Reaktion auf Adrenalin und Atropin i.V., mit externem Pacer auf 60 stabilisiert. GCS 5, vor Ort intubiert, Sättigung 90 % bei Beatmung mit 100 % O2, letzter Blutdruck war...“ Er warf dem Rettungsassistenten einen Blick zu, der ergänzte: „60 zu 30!“

„Wo hatte sie das ganze Zeug denn her?“, fragte eine Schwester, während Trage und Behandlungstisch nebeneinander geschoben wurden.

„Sie arbeitet im St. Markus Stift, diesem neuen Pflegeheim am Rathausplatz!“, erläuterte die Rettungssanitäterin, während sie eine der Halteschlaufen des unter der Patientin liegenden Tragetuchs ergriff.

Alle packten mit an, und als die junge Frau auf die Stryker-Liege hinübergehievt wurde bemerkte er ihre langen, kastanienbraunen Haare, die über den Rand des Tuches herabhingen. Da erkannte er sie.

 

Nun lag sie auf der Intensivstation. Ob sie es schaffen würde, war noch immer ungewiss. Ganz zu schweigen von der Frage, ob ihr Gehirn durch den Sauerstoffmangel permanenten Schaden genommen hatte.

Während er eine Amsel beobachtete, die neugierig um seine Parkbank herum hüpfte und wahrscheinlich etwas zu fressen suchte, fiel ein Schatten auf ihn.

„Ist da neben Ihnen noch Platz?“

Er kniff die Augen zusammen und erkannte gegen die Sonne eine Frau in den Vierzigern.

Obwohl ihm nicht nach Gesellschaft zumute war – eigenartig, wo es doch die Einsamkeit seiner Wohnung gewesen war, die ihn hierher getrieben hatte – nickte er.

Ein Hauch von Chanel No 5 übertünchte kurz den Frühlingsduft, als sie sich neben ihn setzte.

„Ist nicht so, dass ich mich aufdrängen will“, meinte sie. „Diese Bank hat nur eine besondere Bedeutung für mich, wissen Sie?“

„M-hm“, brummte er. Zwar war er eigentlich nicht an einer Unterhaltung interessiert, doch er wollte nicht unhöflich sein. „Erste Liebe?“, fragte er daher.

Sie lachte. „Nein! Aber vor ein paar Tagen wäre ich hier fast gestorben.“

„Oh?“, fragte er nun interessierter. „Was ist denn passiert?“

Sie griff an die rechte Seite ihres Halses und zog den Kragen ihres grünen Pullovers ein wenig herunter, sodass eine gerötete Einstichstelle zum Vorschein kam.

„Mich hat da so ein Mistvieh gestochen! Und ich bin allergisch, wissen Sie? Mein Hals ist so dick geworden!“ Ihre Hände gaben eine etwas übertriebene Darstellung wieder. „Ich hab gar nicht mehr atmen können, ich wär' fast erstickt! Und dann bin ich ohnmächtig geworden. Die haben mir später gesagt ich hätte einen ano… äh...“

„Einen anaphylaktischen Schock?“, schlug er vor.

„Ja, genau! Die haben gesagt, dass ich gerade nochmal von der Schippe gesprungen bin.“

Er nickte. „Ja, sowas ist wirklich gefährlich!“

„Tja“, fuhr sie fort. „Heute Morgen bin ich aus dem Krankenhaus entlassen worden. Und man sagt doch: Wenn man vom Pferd fällt soll man gleich wieder aufsteigen.“ Sie lachte erneut. „Ich will ja nicht, dass ich jedes Mal Angst kriege, wenn ich rausgehe!“

„Das ist eine super Einstellung!“, lobte er, während es ihm wieder kam: Er hatte sie am vergangenen Dienstag behandelt! Doch ihr Gesicht hatte er vergessen gehabt, wie eine zufällige Begegnung in der U-Bahn.

Es war, als würde die angenehme Wärme der Sonnenstrahlen endlich in ihn hineindringen.

„Nun, dann lass ich Sie mal allein, auf Ihrer speziellen Bank!“, verkündete er. „Mein Kater wartet sicher schon auf sein Futter.“

Sie verabschiedete sich, während er aufstand und leichten Schrittes den Weg zur U-Bahn einschlug.

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 23.06.2016

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
'Für Theresa, Nina M. Janitz und für all die Mediziner da draußen, ob studiert oder erlernt.

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