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Wunschträume

Sie saß hinter dem Lenkrad ihres alten Zweiergolfs und gähnte. Es war eine dieser nächtlichen Fahrten auf denen man sich stets wünschte, der Fahrersitz sei das eigene, gemütliche Bett und die Fahrt nur ein Traum im erholsamen Schlaf.
Die Wärme der aufgedrehten Fahrzeugheizung lullte sie ein und wurde in ihrer Vorstellung zu einer Daunendecke, welche sie sanft umschmiegte, um sie über die Nacht wohlig warm zu halten. Die sanften Vibrationen und das monotone Brummen des Motors wollten sie hinforttragen, ins Land der Träume, fernab von allen Sorgen und den Restriktionen unserer harten Welt. Ja, dorthin wo es so schön und friedlich war...
Als sie bemerkte wie ihr Geist davonzuschweben begann, schüttelte sie ruckartig den Kopf. Schon wieder war sie am Einschlafen gewesen! Und auf dieser finsteren, kurvenreichen Strecke – eine Qual für Fahrzeug und Fahrer - konnte ein Sekundenschlaf üble Folgen haben.
Mit neuer Wachsamkeit lenkte sie den VW in die nächste Serpentine.

Er saß am Steuer seiner E-Klasse und dirigierte den Wagen Kurve um Kurve in den nächtlich dunklen Schwarzwald hinauf. Der kraftvolle Sechszylinder Diesel ließ den Benz so mühelos über den Asphalt gleiten, daß man richtig unbeschwert darin saß; als sei es der Sessel im heimischen Wohnzimmer, oder gar das eigene Bett, wohin er sich im Augenblick wünschte. Die Wärme der Sitzheizung, welche unter einem schwarzen Lederbezug ihren Dienst verrichtete, vertrieb auch die letzten Kältereste, die eventuell der elektronisch geregelten Fondheizung - sie war auf 26°C eingestellt - entgangen waren. Das Display am Armaturenbrett zeigte eine Außentemperatur von minus vier Grad an. Er wollte nur bald im Hotel ankommen, wo er die nächsten Tage wohnen sollte; solange wie es nötig sein würde um die Verhandlungen mit dem Sägewerk abzuschließen. Fünfhundert Kilometer in sechs Stunden, das sollte zu schaffen sein. Deshalb war er erst am späten Nachmittag losgefahren in der Erwartung, zwischen zehn Uhr und Mitternacht anzukommen. So konnte er noch zur Schulaufführung seines Sohnes gehen, der in dem Theaterstück eine der Hauptrollen gespielt hatte. Er hatte in seinem erst sieben Jahre währenden Leben noch nie so hart für etwas gearbeitet und wäre äußerst enttäuscht gewesen, hätte er seinen Vater nicht im Publikum gesehen.
Doch er hatte sich gewaltig verschätzt. Das Sägewerk lag tief im Schwarzwald; das bedeutete Landstraße, über hundert Kilometer enger Serpentinen, überwiegend bei starker Steigung: Schneckentempo. Jetzt war es zwei Uhr und er hatte immer noch knapp zwanzig Kilometer Motorquälerei vor sich.

Sie warf einen Blick auf die analoge Uhr neben dem Tachometer: Zwei Uhr.
Ein neues Gähnen entfuhr ihr. Sie war jetzt seit einer halben Stunde unterwegs. Damit hatte sie etwa die Hälfte geschafft.
Ihre Freundin Bettina hatte ihren zwanzigsten Geburtstag gefeiert, weshalb sie die Fahrt auf sich genommen hatte - und das obwohl der Wetterbericht eine eiskalte Nacht vorhergesagt hatte. Aber sie hatte Glück: Für Mitte März war es zwar recht kalt, aber da die letzten Tage sehr trocken gewesen waren, hatte sie keine Probleme mit Glatteis.
Sie hatte nichts getrunken - naja, ein Orangensekt, aber das war ja praktisch nichts - hatte sich aber trotzdem ziemlich verausgabt. Sie lächelte. So eine Party hatte dieser Landgasthof sicher noch nicht erlebt. Schade, dass sie bereits so früh hatte gehen müssen...

Seine Firma produzierte Fertighäuser. Das Holzhaus ST-413 war ein wahrer Verkaufsschlager, mit der Produktion kam man kaum noch nach. Um die Kapazitäten zu vergrößern benötigte man allerdings auch mehr Holz. Deshalb sollte er den Vertrag mit diesem Holzkonzern abschließen.
In gewisser Weise würde das hier wie ein Urlaub werden: frische Luft, ein Gasthof mit Fremdenzimmern als Unterkunft - kein städtischer Hotelbunker wie sonst - und nur ein ohnehin so gut wie sicherer Geschäftsabschluss, den es in den veranschlagten drei Tagen zu besiegeln galt.
Ja, die Tage würden regelrecht erholsam werden. Dennoch, er brauchte jetzt Erholung, denn er war hundemüde. Und morgen früh stand um acht Uhr das erste Meeting auf dem Plan.
Frustriert drückte er aufs Gas.

Ihr Wagen schlängelte sich die Kurven hinunter. Außer ihr schien der Schwarzwald in dieser Nacht völlig menschenleer zu sein, sie war die ganze Zeit über noch keinem anderen Fahrzeug begegnet.
Sie hatte auf der Feier einen süßen Kerl kennengelernt, mit dem es sofort gefunkt hatte. Sie hatten wild getanzt, viel gelacht und sich blendend verstanden. Er war ein Jahr älter gewesen als sie, zweiundzwanzig, und hatte klasse ausgesehen. Schlank und muskulös, was vielleicht von seiner Arbeit als Schreiner herrührte; kurze, dunkle Haare. Und dazu bernsteinfarbene Augen, die im Kontrast zu den Haaren und seinem dunklen Teint leuchtend herausstachen.
Sie selbst brauchte sich freilich auch nicht zu verstecken. Wie die meisten Frauen fand sie sich ein wenig zu dick, was aber objektiv unsinnig war. Sie war eins sechzig groß, war wohlproportioniert und kurvenreich. Sie hatte langes, glattes Haar von der Farbe frischer Nougatpralinen. Ihre Augen waren tiefschwarz, als seien sie bodenlose Abgründe, die ins tiefste Innere ihrer Seele führten. Sie war außergewöhnlich hübsch, das stand außer Frage. Dennoch, oder vielleicht gerade deshalb, hatte sie noch nie einen festen Freund gehabt. Trotz zahlreicher Verehrer war ihr bislang keiner begegnet, der ihre Liebe wert gewesen wäre. Dieser Jörg allerdings...
Sie geriet ins Träumen und malte sich bereits in Gedanken aus, wie sie aneinanergekuschelt in ihrem schönen, weichen, warmen Bett lagen...
Nicht schon wieder! Sie war erneut am Einnicken gewesen.
Ihre rechte Hand tastete nach dem Drehknopf des Autoradios, wurde fündig und schaltete das Gerät ein. Allerdings erfüllte keine wachhaltende Musik das Auto, wie sie sich das erhofft hatte, sondern verstümmelte Musikfetzen, vermischt mit dem kratzenden Rauschen des Äthers. Schnell drehte sie den anderen Knopf, um den Sender zu wechseln, aber auf allen Frequenzen erklang nur die selbe Ohrentortur. Die Granitberge um sie herum schirmten die Radiowellen zu gut ab, sie bekam keinen Sender rein. In der Hoffnung, dass es im Mittelwellenband besser aussehen könnte schaltete sie den Empfänger um. "Aujourd' hui le premier ministre à annoncé un nouveau..."
Frustriert stellte sie das Radio wieder ab. Sie wünschte sie hätte eine Kassette mitgenommen. CDs hatte sie zur Genüge dabei, sie hatte auf der Party zur musikalischen Unterhaltung beigetragen; aber das Radio war genauso alt wie diese Karre. Von einem CD-Player konnte sie daher nur träumen; was aber erfordert hätte, dass sie einschlief. Und eben davon sollte die Musik sie ja abhalten.
Wurde Zeit, dass sie nach Hause kam. Sie trat aufs Gas, und der alte Golf gehorchte.

Die Xenonscheinwerfer des Benz durchschnitten mit ihrem bläulich weißen Schein die Nacht, während sich der Geschäftswagen, etwas schneller als empfehlenswert, den Berg hinaufwandt.
Der Fahrer starrte unverwandt auf die durchgezogene Mittellinie, wie sie sich immer wieder hypnotisch krümmte, mal nach links, mal nach rechts, stets Synchron zum Verlauf der Straße.
Er betätigte zwei Tasten und warf einen kurzen Blick auf den Bildschirm des GPS Satellitennavigationssystemes. Noch zwölf Kilometer.
Er hatte schon vor einer Stunde versucht dort anzurufen, um Bescheid zu geben, dass er sich verspätete, aber sein Mobiltelefon bekam hier draußen, trotz der externen Antenne an der Außenseite des Fahrzeuges, keinen Empfang.
Die Chance, sich durch Radiohören abzulenken bestand ebenfalls nicht, denn trotz aller High-Tech war das Audiosystem des Mercedes nicht in der Lage, hier draußen einen UKW-Sender zu empfangen. Abgelenkt durch die Theateraufführung, hatte er glatt vergessen CDs mitzunehmen. Im Handschuhfach lagen noch ein paar Kassetten, die er von seinem alten Geschäftswagen übernommen hatte. Er hatte aber schon auf der ersten Fahrt festgestellt, dass diese neue Anlage über kein Kassettendeck mehr verfügte. Seither lagen die alten Bänder eben hier herum.
Aber was sollte es bringen jetzt noch zu die Nerven zu verlieren, es dauerte voraussichtlich keine zwanzig Minuten mehr, bis er sein Ziel erreichen würde.
Der GPS-Monitor sagte ihm nach Vollendung der Rechtskurve, die er gerade durchfuhr, eine Serpentine nach links voraus. Und tatsächlich, da lag sie vor ihm. Zu seiner rechten war ein Abgrund, der nicht durch Leitplanken gesichert war. Lediglich rot-weiße Tafeln wiesen unmissverständlich darauf hin, dass es nicht ratsam wäre, eine andere Richtung als die des Straßenverlaufes einzuschlagen.
Die scharfe Kurve führte um eine mächtige Felsformation herum, die ihm zu seiner Linken den Blick auf alles nahm, was ihn im weiteren Verlauf des Weges erwarten würde. Aber da ihm die Computerkarte seines Navis dies verriet, bremste er kaum ab. Um diese Zeit würde wohl kaum jemand außer ihm in dieser gottverlassenen Gegend unterwegs sein...

Sie flitzte um eine Kurve und sah sofort die nächste vor sich. Eine scharfe Serpentine, die nach rechts um einen großen Felsen herumführte. Sie verspürte keinerlei Lust, ihrem Auto den Schwung zu nehmen, schließlich wollte sie schnellstens nach Hause. Somit lenkte sie ihren Wagen, nur minimal gebremst, in die Biegung. Erst jetzt realisierte sie den Abgrund zu ihrer Linken, und die Tatsache, dass die Fliehkraft sie bedenklich nahe an den Rand brachte. Sie zog wieder nach rechts, um die Kurve etwas enger zu nehmen, und trat dabei leicht auf die Bremse. Doch sie sollte dieses Manöver nie beenden, denn plötzlich wurde sie von grellem, blauweißem Licht geblendet.

Gerade in die Kurve eingefahren, bemerkte er einen gelblich weißen Lichtschimmer, kurz bevor die zwei leuchtenden, runden Augen eines alten VW um den Felsen herumgeschossen kamen.
Aber was war das? Der Golf kam auf seiner Spur und hielt frontal auf ihn zu!
Er riss sein Lenkrad nach links, doch beide Autos fuhren zu schnell. Der fremde Wagen krachte in die rechte Seite des nach links ziehenden Daimlers, die nun, wie eine Schiene, schräg zum Abgrund führte. Der Golf glitt daran entlang und wurde zur Außenseite der Kurve gedrängt. Bevor der Benzfahrer jedoch mitbekam was geschah, sah er die Felsformation im Kurveninneren vor sich.
Ein gewaltiger Knall erfüllte die Kabine des Autos, als sechs Airbags zündeten und dem Fahrer jede weitere Handlungsmöglichkeit nahmen. Dann zersplitterten die vorderen Scheiben, und er wurde hart in seinen Sicherheitsgurt und die Luftkissen geworfen, während sein Untersatz abrupt von der unglückbringenden Felswand abgebremst wurde.

Ab diesem Moment war ihr klar, dass sie ihren Schwarm nie wieder sehen würde. Das Heck des Mercedes bewegte sich wie in Zeitlupe an ihrem spinnwebenartig gesprungenen Beifahrerfenster vorbei. Es gab einen leichten Ruck, als die Vorderräder über die Kante hinausrasten.
Plötzlich war sie wieder ein Kind. Sie spielte mit ihrer Sandkastenfreundin Lisa in der Puppenecke, damals im Kindergarten. Dann plötzlich war sie sechs Jahre alt und erlebte erneut ihre Einschulung mit.
Der Golf, dessen Schwung ihn zweieinhalb Meter weit getragen hatte, seit die Vorderräder die Bodenhaftung verloren hatten, kam nun dicht vor den Hinterrädern auf der Straßenkante auf. Ein kurzes, metallenes Kreischen erklang, als das Fahrzeug funkenschlagend aufsetzte.
Sie spürte einen Schmerz im Bauch, als ihr der, unglücklicherweise verdrehte, Beckenteil ihres Sicherheitsgurtes hineinschnitt.
Das brachte ihren schnell ablaufenden Lebensfilm im Eiltempo zu der Passage, als sie mit vierzehn ins Krankenhaus kam, um sich ihren Appendix entfernen zu lassen.
Dann senkte sich die Nase des VWs und das Fahrzeug rutschte über den Rand.
Mit der Haube voraus stürzte der Golf dem Boden entgegen, schlug dabei auf einem Vorsprung auf, was ihn eine Sekunde lang wie ein Zirkustier auf der Nase stehen ließ, und kippte dann wieder von der Felswand weg, sodass er mit dem Dach voraus ins Verderben stürzte.
Zwanzig Meter weiter unten erfolgte der finale Aufprall.
Zu diesem Zeitpunkt hatte das Mädchen bereits sein aktuelles Alter von einundzwanzig Jahren erreicht und sich schweren Herzens von Jörg verabschiedet; mit dem Trost ja wenigstens im Besitz seiner Telefonnummer zu sein.
Dann passierte alles auf einmal. Die Scheiben implodierten, das Dach senkte sich auf sie nieder, Reifen flogen davon, die Karosserie wurde zerrissen und die Lenksäule zerbarst. Alles weitere wurde von einer Explosion aus Schmerz verschluckt, als sich die mörderisch spitz gesplitterte Lenksäule in des Mädchens Brust bohrte. Der Baumstumpf, auf welchem das Auto gelandet war, war ebenso zersplittert und trieb jetzt einen zehn Zentimeter dicken, hölzernen Dolch in ihren Bauch.

Die Airbags waren erschlafft, unter der demolierten Haube quoll weißer Dampf hervor; aus den Überresten des Kühlers, der in Folge der Bergerklimmung noch ziemlich heiß war.
Er löste seinen Sicherheitsgurt und stieg unter Schmerzen aus dem Wrack.
Aber als er sich nach dem anderen Auto umsah war nichts davon zu sehen. "Auch das noch...", brummte er und rieb sich den Nacken. "Fahrerflucht."
Aber dann bemerkte er die metallisch glänzenden Schleifspuren am Fahrbahnrand.
"Oh, mein Gott..." Langsam näherte er sich dem Abgrund, unschlüssig, ob er es wirklich wagen sollte einen Blick hinunterzuwerfen. Aber sein Verantwortungsbewusstsein war stärker als die Angst.
Etwa dreißig Meter unter ihm lag ein Totalschaden. Ein Trümmerfeld zerfetzter Autoteile, und mittendrin die völlig zerdrückte Fahrgastzelle. Es war unwahrscheinlich, dass darin jemand überlebt hatte.
"Oh, mein Gott!", wiederholte er. Er schlug sich die rechte Hand vor die Stirn und begann hektisch auf und ab zu gehen. "Was soll ich tun, was soll ich nur tun?"
Panik stieg in ihm auf. "HIIIILFEEE!!!", brüllte er in den nächtlichen Wald hinaus. "Ich brauche Hilfe!" Aber der Einzige, der seinen verzweifelten Schrei beantwortete war ein Waldkauz, der sich vielleicht ärgern mochte, weil das Gebrüll seine Beute verjagt hatte.
Er war wieder an der Kante angekommen, sah zu dem Wrack hinunter und fasste den Entschluss zu retten, was noch zu retten war.
Er rannte zurück zu seinem havarierten Mercedes und öffnete eine der hinteren Türen. Unter dem Fahrersitz zog er das Verbandskissen hervor. Dann wollte er sein Handy aus der Halterung der Freisprecheinrichtung lösen, musste aber feststellen dass das Gerät, welches ohne Netzempfang ohnehin nutzlos gewesen wäre, in Folge des Aufpralles schwerstens beschädigt worden war; es funktionierte nicht mehr.
Darum machte er sich, ausgerüstet allein mit dem Erste-Hilfe-Set und einer Taschenlampe, die ebenfalls unter dem Sitz gelegen hatte, daran eine Abstiegsmöglichkeit zu finden.
Er musste zweihundert Meter weit laufen, bis er eine Stelle fand, an der er sich, mit gewissem Risiko, den Hang hinunterwagen konnte. Zum Glück war vor zwei Tagen Vollmond gewesen, es war eine klare Nacht und entlang der Straße waren die Bäume gerodet worden, sodass er genug Licht hatte um seine Umgebung deutlich wahrzunehmen. Und die Reste des anderen Autos.
Er brauchte eine Viertelstunde um zu dem zu gelangen, was einmal ein VW Golf II gewesen war, wie er jetzt erkannte.
Er atmete einmal tief durch, biss die Zähne zusammen und näherte sich vorsichtig der Stelle, wo sich einmal die Fahrertür befunden hatte. Er schloss die Augen und hyperventilierte. Er konnte es einfach nicht. Aber verdammt noch mal, er musste. Mit einem geistigen Kraftakt überwand er sich, bückte sich und warf einen Blick ins Innere des Wracks. Sofort bereute er seinen Mut. Blitzschnell wandte er sich ab, taumelte zwei Schritte von dem Auto fort und übergab sich.
Das Wageninnere war in Blut getränkt. Die Fahrerin, eine junge Frau, war von mehreren Gegenständen durchbohrt, ihr Gesicht von herumfliegenden Splittern zerschnitten. Ein furchtbarer Tod. Und das Schlimmste: ihre Augen waren offen gewesen, sie hatte ihn angestarrt!
Er bildete sich schon ein sie sprechen zu hören. Sie würde ihn anklagen, ihn verfluchen!
Aber halt - hatte er sie womöglich wirklich gehört?
"Sehe ich wirklich so furchtbar aus?" Es war kaum mehr als ein Flüstern, aber dennoch, sie lebte!
"Was?" Er sprang zurück zu ihr. "Oh, Scheiße!"
Er riss das Verbandspaket auf und wollte etwas herausholen, aber dann verharrte seine Hand. Was sollte er wohl am ehesten auspacken, die Thermodecke, einen Verband oder ein Pflaster? Er ließ den Beutel fallen. "Scheiße.", stammelte er.
Sie lachte leise, aber nur für eine Sekunde. Dann wurde ein schmerzerfülltes Stöhnen daraus, als ihr die Lenksäule in ihrer Brust ihre Gegenwart in Erinnerung rief. "Ja, wirklich Scheiße. Wir können ja einen Verband drumwickeln..." Erneut wollte sie lachen, aber eine neue Welle von Pein erstickte die Idee im Ansatz.
"Es tut mir Leid." Brachte der Mercedesfahrer hervor. "Großer Gott, es tut mir so Leid!"
"Wie heißen Sie?"
"Wa-Was?"
"Wie heißen Sie?"
"Meier. Frederik Meier."
"Ich werde es ihm sagen."
"Was? Wem sagen?"
"Ihm. Ich werde ihn für Sie um Vergebung bitten..."
Er konnte nicht mehr. Er hatte sich immer für einen starken Mann gehalten. Doch trotz allem, was sein Vater ihm gepredigt hatte, fing er jetzt an zu weinen.
"Es ist gut..." Ihre Stimme war kaum noch zu hören. "Es war auch meine Schuld."
Er nahm ihre Hand.
"Danke, dass sie bleiben..." Das waren die letzten Worte, die sie über ihre Lippen brachte. Zehn Minuten später verließ ihr letzter Atemzug ihren Mund.
Herr Meier aber blieb noch lange bei ihr und hielt ihre Hand. Solange, bis am nächsten Tag der erste Holz-LKW die Straße benutzte und am demolierten Benz, der dort stand, anhielt. Über seinen CB-Funk war bald Hilfe herbeigeholt.
Doch als das Rettungspersonal zu Herrn Meier herabstieg murmelte er nur noch: "Sie hat mir vergeben."
Der Rettungsassistent und sein Kollege sahen nur kurz die Leiche, dann einander an und notierten sich in Gedanken, in der Klinik den Hinweis weiterzugeben, dass ein Psychiater hinzugezogen werden sollte. Niemals hatte sie ihm vergeben können: diese Frau musste sofort tot gewesen sein...

Impressum

Texte: Seth Rock
Bildmaterialien: Cover vollständig selbst erstellt von Seth Rock
Tag der Veröffentlichung: 25.07.2010

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Für alle Opfer von Verkehrsunfällen.

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