Der Wind zerrte wild an seinen Haaren und jagte ein unangenehmes Kribbeln durch die Nerven seiner Kopfhaut, doch er genoss es. Er genoss all die vielen Eindrücke, die gerade auf seine Sinne einstürmten. Ja stürmen, genau das tat es. Unter ihm brauste das Meer und spritzte wieder und wieder Gischt in sein Gesicht, obgleich es etliche Meter bis zur tosenden Brandung waren. Wild und gefährlich, das Wetter wie das Meer. So mancher arme Seemann war in einem solchen Orkan gestorben; so mancher würde auch sicher jetzt da draußen vor Furcht zittern und sich womöglich sogar den Elementen ergeben müssen.
Es war eigenartig über so etwas nachzudenken; er konnte im Augenblick einfach nicht nachvollziehen wie es war, die Sturmflut oder den Tod zu fürchten. Er hatte keine Furcht.
Dabei sah das Wasser tatsächlich unheimlich aus. In der Finsternis dieser Nacht, in der graue Wolken die Welt unter einem fahlen Leichentuch aus gedämpftem Vollmondlicht begruben, war das Wasser nur eine schwarze Fläche, aus der sich die weißen Schaumkronen der meterhohen Wellenberge erhoben. Wie Zähne wirkten sie; viele Mäuler, nebeneinander aufgereiht um alles zu verschlingen, das so dumm war sich in die tobende See zu wagen - oder einfach nicht genug Furcht besaß um es nicht zu tun.
Wie konnte man nur keine Angst haben, im Angesicht dieser Naturgewalten? Das war nicht möglich. Er hatte welche. Doch sie hatte nichts zu melden. Im Körper eines Menschen fand ein ewiger Kampf stand. Emotionen bekämpften sich, Liebe oder Nachsicht gegen Hass, Freude gegen Trauer oder Ärger, Wut gegen Liebe oder Freude. Ein Gefühl war nie fort; es war nur, je nach Situation, unterschiedlich stark. Das Stärkste konnte dominieren und die Oberhand gewinnen, wobei es die anderen Gefühle nicht selten niederrang. Und genau das war hier der Fall. Die Angst war da, sie war sogar unglaublich stark, aber sie war bezwungen worden von einem schlimmen Cocktail anderer, fatalerer Gefühle. Schmerz, Selbsthass, Trauer. Die beherrschten diesen ausgezehrten Körper; ausgezehrt von dem, was er in den letzten Tagen durch eigene Schuld hatte erdulden müssen.
Der Wind schickte eine neue heftige Böe, die genauso schnell sein musste wie das Auto, das er vorgestern gefahren hatte, Sekunden bevor es geschah...
Der Windstoß rüttelte an dem Gipsverband, der seinen rechten Arm einschloss und er genoss den Schmerz. Auch er war eine der letzten Wahrnehmungen die er haben würde, also wollte er auch sie noch voll auskosten. Ja, bald würden die gierenden Gischt-Zähne etwas zu fressen bekommen.
Er würde jene wiedersehen, die er in ein anderes zu Hause gefahren hatte als er es hätte tun sollen. Er hoffte nur, dass sie ihm verzeihen würden.
Draußen auf See blinkte etwas, offenbar der Signalscheinwerfer eines Schiffes. Er glaubte ein Nebelhorn zu hören; aber es konnte ebenso der Wind gewesen sein, der seines Heulens überdrüssig gewesen war und nur kurz einen neuen Tonfall antesten wollte.
Dann platschte etwas auf sein Gesicht, das mehr war als die üblichen Spritzer des Meeres. Noch einmal. Und nochmal. Es begann zu regnen. Nein, es begann nicht, es war als hätte man eine Schleuse geöffnet. Das Unwetter peitschte ihm den Wolkenbruch gegen den Leib und unwillkürlich musste er denken: 'In diesem Krankenhaushemdchen wirst du dir noch den Tod holen.'
Das war der Fall der Front im Gefühlskrieg seines Inneren. Ein anderes Gefühl brach durch und überwältigte die zerstörerischen Triebe, die ihn zur Flucht aus der Unfallklinik und zum Erklimmen dieser Klippe geführt hatten: Er begann zu lachen.
Er lachte wild und unbeherrscht, lachte über das Meer hinaus und in die stürmische Nacht hinein. Diese Fluten würden sich ohne Abendessen schlafen legen müssen.
Er drehte sich um und machte sich auf den Rückweg. Bis zum Hospital hatte er noch eine halbe Stunde Fußmarsch vor sich.
Tag der Veröffentlichung: 24.07.2010
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