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Ich erinnerte mich, erinnerte mich an mein früheres ich. Einst war ich ein Gott, mächtiger als alle Könige und Krieger der Erde, doch nun war ich zum Schattenläufer geworden, zum Nachtwandler, zu einem Geist, der sich im Halblicht der Dunkelheit verbarg und deren Schutz suchte. Ich war nichts weiter als ein Mythos, eine Legende, ein Märchen, obwohl ich wirklich hier war, tatsächlich existierte und von den Dächern der Städte durch ihre Fenster sah, ihren Gesprächen lauschte und in ihr Leben blickte. Seit ein paar Monaten jedoch blickte ich allein in das Leben einer Person, die mir mehr als all die anderen würdig schien, an meiner Seite durch die Nacht zu wandeln, würdig gemeinsam mit mir den Tag zurück zu erobern, damit all meine Kinder aus dem Schatten der Nacht treten konnten und ich somit nicht mehr Legende für die Menschen sein würde, sondern Realität. Ich war alles und würde alles sein.
Er war genau wie ich, verloren, besessen und gepeinigt von einem einzigen Wunsch, der immer mehr und immer hektischer zu einem Verlangen wurde, welches keinen anderen Gedanken mehr in ihm zuließ und ihn an unsichtbaren Fäden, wie ein Puppenspieler zu sich zog. Dabei er konnte nicht einmal ahnen, dass mich das Ruckeln der Fäden, wie eine Spinne zu ihn locken würde, mich wie ein Raubtier, das die Witterung aufgenommen hatte zu ihm trieb, beinahe wie ein Vampir auf der Suche nach frischen Blut. Wie wild er seinen Koffer packte, wie verbohrt er mitten in der Nacht über seinen Bücher hing, in der Hoffnung er hätte ein jahrhunderte altes Rätsel gelöst, eine spektakuläre Entdeckung gemacht, die die Welt aus den Fugen reißen könnte, das alles schien mir, wie eine Neuverfilmung meiner Erinnerung, wie ein Gemälde aus meinen Gedanken, dass nun einen Weg aus der Vergangenheit in die Gegenwart gefunden hatte. Ich hatte gar keine andere Wahl, als mich unter die Menschen zu mischen, denn mit seiner Besessenheit hatte mich dieser Mann förmlich selbst zu einem Besessenen gemacht. Ich musste ihm nach Glastonbury folgen.
Noch in derselben Nacht schlich in seine Wohnung, überwand mühelos die Dächer, die mich von seinem Haus trennten und kroch, wie ein Dieb durch das offene Fenster. Neugierig schaute ich mich um, betrat jeden Raum, schritt durch jedes Zimmer und ließ seinen unzähligen Notizen im Bruchteil einer Sekunde Zutritt zu meinen Gedanken. Es waren Ansätze, Indizien, aber keine wirkliche Spur, keine Beweise dafür, dass er den Heiligen Gral gefunden hatte, was zugegebener Maßen auch nicht mehr möglich war. Dennoch hätte ich es diesem Menschen zu getraut ihn zu finden, immerhin benahm er sich weniger wie einer von ihnen und handelte gefesselt von seinem Zwang eher nach dem Muster meiner Rasse. Ich muss zugeben, dass mich kaum ein Mensch in einen solch starken Bann gezogen hatte und ich mit diesem Gefühl nicht wirklich umzugehen wusste. Als ich vor seinem Bett stand und seinen schlafenden, schwachen Körper beim Atmen beobachtete, spielte ich mit einem Gedanken, den nicht einmal ich in die Tat umsetzen konnte. Ich wollte ihn leer trinken, jeden einzelnen Tropfen Blut aus seinem Körper saugen, wie ich es schon bei hunderten, tausenden Menschen getan hatte, doch als ich mich über seine Kehle beugte und ich meine Reißzähne mit einem Hieb in sein Fleisch stoßen wollte, unterbrachen mich seine Gedanken, die lauter schienen als meine eigenen. Ich konnte jeden seiner Einfälle vor mir sehen, als wären alle zusammen ein riesiger Flickenteppich, der mich einrollte und nicht mehr los ließ, mich dazu zwang ihn am Leben zu lassen, damit er schließlich mein Gefährte werden konnte, meine Verbindung zur Menschenwelt.
Ich verschwand wieder, verließ die Wohnung mit einem kleinen Hechtsprung aus dem Fenster um meinen Plan fortsetzen zu können. Eilig machte ich mich auf den Weg, kehrte in meine animalische Gestalt und eilte flügelschlagend durch die Nacht auf der Suche nach einem Freund des Mannes. Seine Notizen hatten mir verraten, wer alles an der Gralssuche beteiligt war und ich tat nichts weiter, als sie alle zu finden, jeden einzelnen von ihnen.

Am nächsten Tag nahm ich zum ersten Mal seit Jahrtausenden eine menschliche Gestalt an und mischte mich mit diesem Kostüm, dieser falschen Hülle unter die Sterblichen, die meine wahre Schönheit nicht zu erkennen vermochten. Um mich herum roch es nach Tod, nach Krankheit und immer älter werdenden Zellen, die nach und nach der Lebenshauch verließ. Es roch nach Schwäche und ich begann mich, wie beinahe jeden Tag zu fragen, wie es möglich sein konnte, dass eine so schwache Rasse an der Spitze der Nahrungskette stand, wenn es doch Geschöpfe, wie mich gab, Geschöpfe, die fähig waren dem Leben und sogar dem Tod zu trotzen. Doch ich kannte die Antwort auf diese Frage schon zu genüge, der Tag hielt länger als die Nacht und solang wir ihn nicht unterwarfen, blieben wir Gespenster, die im Schatten der Menschen existierten.
" Hallo Robert," rief plötzlich eine Stimme aus dem Getümmel, derweil ein Mann auf mich zu kam," Ich dachte wir fahren zusammen," hechelte er, während er die Hände auf die Knie stützte und ich ihn ansah," Ich habe vor deinem Haus gewartet bis die Vermieterin kam und meinte du seiest schon los!"
Nachdem er seinen Satz beendet hatte, sah ich ihn noch eine Weile an und verlor mich wieder in seinen Gedanken, die noch immer so laut schienen, wie am Vorabend.
" Hörst du mir eigentlich zu, Robert", meckerte er erbost", Ich hätte wegen dir den Flieger verpassen können."
Hastig antwortete ich:" Ja, ja natürlich, das tut mir sehr leid."
" Du weißt ganz genau, wie wichtig dieser Tag für mich ist und dann so was! Naja ich habe es ja noch rechtzeitig geschafft", sprach er weiter und begann plötzlich sich umzuschauen", Sag mal, wo sind denn die anderen? Der Prof und Simon?"
Ich zuckte mit den Schultern und warf Sam einen fragenden Blick zu.
" Oh man, das kann doch nicht sein! Wir müssen zum Gate und die beiden sind noch nicht da! Verdammt!", brüllte er wutentbrannt und trat gegen seinen Koffer, der sogleich auf die Seite fiel.
" Krieg dich mal wieder ein, Sam," redete ich ihm zu," Mach dir mal keinen Kopf, dann nehmen sie halt den nächsten Flieger und alles ist gut, vielleicht sind sie ja auch schon am Gate," meinte ich weiter und legte ihm zur Beruhigung väterlich meine Hand auf die Schulter," Lass uns gehen!"
Er nickte, in der Hoffnung seine Kollegen würden noch auftauchen- Er hatte ja keine Ahnung, worauf er sich einließ.
Nachdem wir bereits im Flieger saßen, wurde Sam immer ungehaltener. Er wurde nervös, zitterig, knabberte an seinen Fingernägeln, wie ein Affe, kratzte sich beständig am Kopf und stammelte nervös irgendwelchen Unsinn. Er machte mich wahnsinnig mit seinen Kratzgeräuschen, mit seinem hin und her Gerutschte und den ständigen erwartungsvollen Blicke, die er über die Sitze hinweg warf.
" Ihnen ist sicher etwas passiert", stammelte er haareraufend", Ich kann es spüren? Kannst du es nicht spüren?"
" Was?!", brummte ich angewidert von seiner Menschlichkeit.
" Das ihnen etwas passiert ist!", sprach er weiter, sodass ich ihn erneut zu ignorieren begann. Nicht nur, das mich dieser Körper erdrücke, mich einschloss, als wäre ich in einem Gefängnis, als wären seine Rippen Gitterstäbe, die meinen Geist gefangen hielten- Nein, der Junge trieb es auch noch auf die Spitze und stärkte damit jedes Verlangen in mir, mich doch noch an ihm zu nähren.
Wie er da saß , nach und nach eine Erdnuss nach der anderen in seinen Mund schob, sie knisternd aus der Tüte nahm, schmatzend in Stücke biss und dabei so laut schien, wie ein Biber, der an einem Baum nagte, das alles konnte ich nicht länger ertragen. Die Frau vor mir, die bei jeder Wolke aufschrie und ihren Mann dazu nötigte aus dem Fenster zu schauen, um die "ach so tolle" Wolke zu begutachten. Das Kind, das die ganze Zeit über mit seinem Miniaturflugzeug durch die Gänge rannte und Motorengeräusche nachzuahmen versuchte und zu guter Letzt noch das Pärchen, welches seitdem wir abgehoben waren, nichts anderes im Sinn hatte, als sich zu streiten, das alles trieb mich in den Wahnsinn, wecke in mir einen Blutdurst, wie ich ihn seit Jahrtausenden nicht verspürte und erinnerte mich daran, warum ich es solange vermieden hatte mich in einen Menschen zu verwandeln oder zusammen mit ihnen zu existieren. Ich hatte es einfach verlernt menschlich zu rein.
" Sam, lässt du mich mal bitte durch", hechelte ich fahrig, da ich mich kaum noch in Zaum halten konnte. Eilig ging ich den Gang entlang, stieß gegen einen der Sitze, konnte kaum noch geradeaus gehen, während meine wahre Gestalt, meine Natur immer mehr von mir Besitz ergriff und ich bereits spüren konnte, wie meine Eckzähne ihre wahre Form zurück erhielten. Ich war wie ein Tier, eine Bestie, willenlos und schliff meinen Körper auf die Toilette, derweil er sich gegen meine Fassung zu wehren versuchte. Er wollte umdrehen, ein Blutbad anrichten, an dem ich mich stärken konnte, doch ich konnte nicht riskieren, dass ich Sam verlor, jedenfalls noch nicht. Ich schloss mich in der Toilettenkabine ein, überhörte das Klopfen, Drohen und Geschrei der anderen Passagiere, ignorierte die Beleidigungen, das Gemecker und versuchte wieder auf den Boden zurück zukommen. Doch als nach einiger Zeit der Stille der Duft einer Frau durch die winzigen Ritzen der Tür drang, verließen mich meine guten Vorsätze. Ich sprengte die Ketten, die ich um mich gelegt hatte, vergaß Sam für einen winzigen Augenblick, ignorierte meinen Verstand und folgte den Gesetzen, die mich geschaffen hatten, indem die Tür einen wimpernschlaglang öffnete und die Frau rasant in die Kabine zog.
" Sir, Sie müssen zurück auf ihren Platz, wir landen in wenigen Minuten", stotterte sie und verlor sich in meinen Augen, die auf sie wirken mussten, wie das Paradies auf Erden. Im Bruchteil einer Sekunde war sie mir verfallen, nur noch eine Sklavin ihrer Sinne, der Sinne, die nun außer mir nichts anderes mehr wahrnehmen konnten. Sie fiel in meine Arme, als hätte ich sie hypnotisiert, ihr mit meinem Antlitz den Verstand geraubt, sie mit meiner Schönheit verzaubert. Ich half ihr wieder auf die Beine, nahm ihr behutsam die Stewardess Mütze vom Kopf und strich ihr sacht eine ihrer Haarsträhnen aus dem Gesicht. Ihre Knie wurden weich, ihr Herz schlug schneller, das Blut in ihren Adern pulsierte, tanze, forderte mich geradezu auf, es aus ihren Venen zu kosten. Rasant fiel sie mir um den Hals und küsste mich zärtlich. Sie verlor sich, verfiel meinen Reizen mit Haut und Haar, verirrte sich in der Illusion, die ihre Gelüste geschaffen hatten, wie ein Labyrinth und vergaß alles, sodass sie den Weg zurück in die Wirklichkeit nicht mehr finden konnte. Ihre Küsse brannten auf meinem Fleisch, trafen mich wie Pfeile mitten in meine schwarze Seele und spülten alle Hemmungen, jede Gnade weg von mir.
" Ich will bei dir bleiben, für immer, " sprach sie wirr, geblendet vom grellen, heftigen Schein, den mein Wesen für sie geschaffen hatte. Ich hob sie hoch, nahm diese willenlose Hülle, setzte sie auf das Waschbecken und liebkoste vorerst zaghaft ihren Hals.
" Du wirst bei mir sein, bis in die Ewigkeit", schwor ich und setzte meinen Eid sogleich in die Tat um, indem ich meine Reißzähne mit einem heftigen Stoß in ihre Adern schlug und genüsslich das Blut verschlang, welches an ihrer Kehle hinunterlief. Sie schmeckte süß, samtig, frisch, wie die Erinnerung an eine Frucht und hinzu geradezu unvergleichlich rein, klar, so sauber, als hätte sie in ihrem Leben nicht einen einzigen bösen Gedanken gehegt, nicht eine einzige schlechte Tat vollbracht, nicht einmal darüber nachgedacht etwas unrechtes zu tun. Das war ein Festmahl, delikat, ergreifend, so überwältigend, dass es mich förmlich hinfort spülte und ich so hastig von ihr trank, dass ich letztlich nicht einmal bemerkte, wie ihr lebloser Körper auf mich hernieder fiel, sodass ich erschrocken zurück wich und der Leib der Frau bleischwer auf den Boden sank. Sie war wunderschön, als sie so da lag, regungslos und tot, blasser noch, als der sauberste Schnee, den ich in meinem Dasein gesehen hatte und blutleer, mit einem Herzen in der Brust, das nicht mehr schlug, genauso wie ich. Doch es gab eine Sache um die ich sie trotz aller Ähnlichkeiten beneidete: Sie wachte nicht mehr auf.
Nachdem ich noch ein paar Minuten auf der Toilette verharrte, genüsslich das restliche Blut von meinen Lippen leckte und nur langsam aus dem Rausch wieder zu mir kam, fiel mir erst auf, dass der Pilot bereits zur Landung ansetzen wollte und wir mittlerweile Paris erreicht haben mussten. Ich hatte noch keine Ahnung, wie ich die Lage erklären sollte, aber zunächst verließ ich die Toilettenkabine, woraufhin mich sogleich eine weitere Stewardess auf meinen Platz jagte.
" Warst du etwa die ganze Zeit auf dem Klo?", fragte Sam verwundert, noch ehe ich mich setzen konnte.
Ich nickte und ließ mich wortlos auf den Sitz fallen, beobachte danach jedoch fortwährend das restliche Flugpersonal, welches anscheinend nach der Frau von der Toilette Ausschau hielt. Ich blieb äußerlich ruhig, wartete jedoch gespannt und hörte kaum, was Sam mir währenddessen alles erzählte.
" Hallo!", rief er schließlich und fuchtelte mit seiner Hand vor meinem Gesicht umher, woraufhin ich ihm einen fragenden Blick zu warf.
"Hörst du mir eigentlich zu!", brummte er weiter und verschränkte die Arme vor seiner Brust.
Ich blieb weiterhin ruhig und antwortete bedrückt:" Es tut mir sehr leid, Sam. Ich war gerade etwas abgelenkt."
" Echt, ist mir gar nicht aufgefallen!", murrte er erbost und fuhr fort," Da du mir ja jetzt endlich mal zuhörst, ich wollte dir nur sagen, dass Simon und der Professor nicht im Flugzeug sind. Ich habe versucht sie anzurufen, aber ich konnte sie nicht erreichen. Naja, mein Handy hat jetzt das Flugpersonal, aber vielleicht sollten wir zurückfliegen, vielleicht ist ihnen wirklich etwas zugestoßen."
Seine Fürsorge hätte mir beinahe alles verdorben, daher ließ ich mir eine Lüge einfallen um Sam vorerst zu beruhigen.
" Hör zu Sam, ich wollte es dir eigentlich nicht sagen," murmelte ich vorsichtig," Aber der Professor und Simon haben mir gegenüber erwähnt, dass sie sowieso nicht vom Erfolg der Expedition überzeugt sind, sie waren sich nicht sicher, ob sie mitkommen. Ich wollte dich nicht beunruhigen und sie waren zu feige es dir zu sagen!"
Man konnte in seinem Gesicht sehen, wie sein Traum zerbrach, wie sein Herz in Millionen Teile zerfeil und tiefe Risse in seinem Gesicht hinterließ, als wäre er überzogen von einer Zuckerglasur, welche durch meine Worte zu bröckeln begann. Er schien getroffen, mehr als das, er war verletzt und ich begann mich fragen, wie sehr ihn wohl der Tod seiner Freunde verletzten würde, wenn er schon jetzt derart niedergeschmettert war.
Er sprach kein Wort mehr, nervte nicht mehr, kaute nicht mehr auf den Nägeln, sondern schritt nur neben mir her, lief wortlos, wie ein Hund dicht neben mir, während wir in ein anderes Flugzeug stiegen. Das Flugpersonal hatte nicht in die Toilettenkabine gesehen. Sie suchten noch immer nach der fehlenden Angestellten, rannten durch das ganze Flugzeug, nachdem die Passagiere ausgestiegen waren und übersahen glücklicherweise die Toilette, auf der ich mich eingeschlossen hatte. Ich hoffte, dass wir es unbemerkt in die Maschine nach Bristol schaffen würden und so war es auch.
Als wir in England ankamen, verließen wir ungehindert den Flughafen, gingen noch immer schweigend nebeneinander her, weshalb ich mir sicher war, dass sich die Nachricht noch nicht bis zum Flughafen in Bristol verbreitet hatte und die Polizei wahrscheinlich noch im Dunkeln tappte. Ich konnte also weiterhin als Mensch an Sams Seite bleiben, mit ihm an seinen Forschungen arbeiten, sein Wissen für mich nutzen- Die Gralssuche konnte beginnen!

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Tag der Veröffentlichung: 28.07.2011

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