Es war grau, dunkel und trüb. Die Stadt überschwemmt vom Nebeldunst und gehüllt in ein Bad aus Regen, dessen einzelne Tropfen wie Pfeile aus dem Himmel schnellten und sich beinahe auffordernd auf den Mantel des Mannes legten. Immer wenn es regnete konnte ich ihn sehen. Er stand einfach dort draußen, auf der Brücke vor meinem Fenster und grübelte vor sich hin, verlor sich mit seinen Blicken in dem Glanz der Pfützen und vermischte seine salzigen Tränen mit dem sauren Regen, der auf ihn einprasselte.
Gerade, wenn mir das Wetter äußerst ungemütlich erschien, verharrte er stundenlang an der Seine, bewegte sich dabei keinen Zentimeter, selbst wenn so sehr stürmte, das Äste und Zweige raketengleich durch die Luft schossen.
Sein Name war Seth. Ich kannte ihn, was sage ich: Nahezu jeder kannte ihn- Sein Gesicht, die pechschwarzen Haare, die smaragdgrünen Augen und besonders die schlangenartigen Narben um seinem Hals, die Schnitte an seinem Arm, ja sogar das dunkel pigmentierte Muttermal an seinem Kinn.
Ich stellte mir oft vor, wie es wäre mit ihm zu reden, ihm direkt ins Gesicht zu sehen und ihm sagen zu können, wie sehr er mich faszinierte, doch eben dies wagte ich nicht. Nun, er war bekanntermaßen kein sehr netter Mensch. Mehr noch, er war ein kaltherziger und verbitterter junger Mann, der die Lust und Freude am Leben schon lange verloren hatte. Doch ich konnte mir beim besten Willen nicht erklären, was ihn zu einer solch kümmerlichen Gestalt formte. Im Prinzip hätte er doch jede Frau an seiner Seite haben können: Er war attraktiv, reich und in allen Orten von Paris bekannt und trotzdem wirkte er so verloren, einsam, wie ein Wolf auf der endlosen Suche nach seinem Rudel. Er war allein, allein in dieser Fülle an Menschen, in dieser Hülle der Sehnsucht, die ihn beinahe vollkommen einhüllte, erdrückte, die Luft zum Atem nahm, sowie Hoffnung auf ein erfülltes Leben. Sie stahl ihm die Aussicht darauf, nie mehr, wie ein abgeschiedener Geist auf dieser Brücke zu stehen und sich jeden Tag entscheiden zu müssen, ob sein Dasein noch einen Sinn hatte oder eben nicht. Schon einmal hatte er beschlossen der Welt den Rücken zu kehren, schon einmal erspähte ich ihn plötzlich zwischen dem Geländer und der Seine und beobachtete, wie er sich gedankenlos in die Fluten warf. Es war nur ein Zufall, das ich gerade in diesem Moment hinaus blickte und sah wie er sich fallen ließ, doch dieser Zufall rettete ihm das Leben.
Seit diesem Vorfall schien ich geradezu besessen von Seth Avon Taylor. Ich beobachtete ihn nicht nur, sondern begaffte ihn förmlich, vielleicht allein aus der Angst heraus, er könne erneut versuchen sich das Leben nehmen.
Er schien soweit entfernt zu sein und doch fühlte ich mich ihm so nah, als würde ich ihn schon mein ganzes Leben lang kennen. Als verbrächte ich jede Nacht allein mit ihm und würde nach dem Erwachen direkt in seine schimmernden Augen sehen, hinter welchem intensiven Grünton ich ein wahres Paradies erblicken könnte; einen Dschungel an Blüten und Bäumen, die ein Gestrüpp darstellten, das ich niemals durchdringen würde.
Plötzlich drehte er sich um, sah direkt hinauf zu meinem Fenster, als erspähte er, durch das verregnete, schmutzige Glas mein Gesicht, meine festgefahrenen Augen. Dieser Augenblick erschien mir wie eine halbe Ewigkeit. Es wirkte , als hätte mein Herz für einen Moment aufgehört zu schlagen, als atmete ich nicht mehr und existierte nur noch als ein Teil von ihm. Alsdann hatte er mich noch tiefer in seinen Bann gezogen, meine Neugier nur noch stärker entfacht, sowie das Verlangen danach, an seiner Seite zu sein, wie einen unaufhaltsamen Steinschlag in mir losgerissen.
Was hatte ich schon zu verlieren? Was hielt mich davon ab, ihm nahe zu sein, ihn anzusprechen? - Nichts, nur die Angst vor einer Enttäuschung, doch gerade diese würde ich auch ernten, wenn ich weiter still hinter meinem Fenster auf ihn lauerte, so wie ein ausgehungerter Tiger auf seine Beute lauert, welcher dann plötzlich entschließt, seinen Fang zu verschonen, solange bis er an seinem Hunger zu Grunde geht- elendig, isoliert und feige.
Blitzschnell sprang ich von meinem Bett, stürmte wild die Treppen hinab, schwang mich eilig in meine Jacke und schlüpfte in meine Schuhe um dann wie der Wind nach draußen zu rennen.
Den Regen hatte ich völlig vergessen, selbst den Sturmwind spürte ich kaum auf dem Weg zu Seth. Ich kam mir vor wie Trance, wie betäubt von der Droge, die sich Begierde nannte.
In weniger als ein paar Minuten stand ich bereits auf der Brücke. Ich weiß bis heute nicht, was von mir Besitz ergriffen hatte, was mich dazu trieb, schnurstracks auf den Mann zu zugehen um dann wieder in meine Schüchternheit zurückzufallen und ihn mit großen Augen, schweigend anzustarren.
Seth erwiderte meine Blicke mit Skepsis, fragend hob er seine Brauen und sprach:" Was gibt es denn zu gucken? Willst du 'n Passbild oder was?"
Mit so einer Reaktion rechnete ich bereits, als ich aus dem Haus ging, trotz dessen kränkte sie mich ungemein. Sofort spielte ich mit dem Gedanken wieder zurück zu gehen, mich erneut auf mein Bett zu hocken um mich dort nach ihm zu sehnen, doch gleichzeitig erkannte ich, wie sinnlos meine Kindereien waren, wie bedeutungslos es für Seth sein musste, das es mich gab. Wie sollte er mich sehen, wenn ich mich doch immer vor ihm verbarg, wie sollte er erkennen, was ich bereit war zu geben, wenn ich ihm nicht die Chance einräumte, es zu nehmen, zu ergreifen, mit seinen beiden Händen zu packen und nie mehr loszulassen?
Mein ganzer Körper zitterte, bebte geradezu vor Kälte, während aus meiner Pore meines Körpers Schweiß empor drang und ich unter der Jacke förmlich kochte. Mein Mund war plötzlich vollkommen ausgetrocknet, meine Lippen porös, sodass ich es kaum wagte auch nur ein einziges Wort zu sagen.
Abgeneigt sah Seth mich noch einmal an, wand sich dann aber rasch ab, um die Brücke die verlassen.
Ich hatte es vergeigt, die Gelegenheit, welche sich mir auftat nicht genutzt, wodurch ich nun allein im Regen stand.
Aber so sollte es nicht sein, so durfte es nicht sein! Ohne auch nur ansatzweise nachzudenken, ergriff ich seine Hand, zog ihn zurück zu mir und presste, während er sich zu mir wand, sinnig meine Lippen auf die seinen. Im ersten Moment wirkte er überrascht, schockiert, versuchte mich sanft von seinem Leib zu stoßen, umarmte mich jedoch letztlich, derweil ich ihn mit meinem Armen umschlang. Ich konnte beinahe spüren, wie der Nebeldunst und der Regen ihre graue Gestalt verloren und in leuchteten Farben zu Boden gingen. Ich vernahm das Plätschern der Seine unter meinen Füßen, als wäre sie ein Wasserfall und wir stünden direkt unter den Niagarafällen um uns in ihren reißenden Strömen zu Baden. Selbst unter meinem dicken Pullover konnte ich sein Herz fühlen, jeden Pulsschlag in seinen Adern vernehmen, allein wenn er mit seiner Hand über mein Gesicht fuhr. Ich fühlte mich, als hätte er eine Lawine in mir losgetreten, mich mit einer Flut an Gefühlen überschwemmt, die jeglichen Verstand in mir mit sich rissen, sodass ich mich in diesem Szenario zu verlieren drohte. Ich brannte, verglühte beinahe in dem Feuer, der Hitze meines Verlangens, presste mich immer fester an ihn, meinen Mund heftiger auf seine Lippen, verschlang Seth sogar beinahe in meiner Gier. Doch er bremste mich, schneller als es mir lieb war. Er stoppte plötzlich, unterbrach unsere Liebkosungen, während er einen Schritt zurücktrat und fragend den Fluss beobachtete.
Für einige Zeit blieb ich ratlos vor ihm stehen, verfolgte seine Blicke, versuchte sogar seine Gedanken zu lesen, doch all das nützte mir nichts. Ich musste endlich irgendetwas sagen.
" Hab ich etwas falsch gemacht?," murmelte ich so leise, das die Regentropfen beinahe lauter auf den Boden prasselten.
Doch Seth lachte abfällig und äußerte zynisch:" Wir kennen uns nicht, nicht einmal deinen Namen weiß ich. Was soll das hier?"
" Ich kenne dich und was ich nicht kenne, werde ich kennen lernen," antwortete ich selbstsicher," Was ist an einem Namen schon so wichtig! Ein Name sagt doch nichts über mich aus!"
" Du möchtest also alles von mir wissen, mein Leben kennen lernen, das willst du?", bohrte er aufgebracht.
Ich nickte zaghaft, eingeschüchtert von seinem erbosten Tonfall.
" Los, dann komm!" befahl er herrschend, nahm hastig meine Hand und marschierte mit mir die Straße hinab.
Häuser, Bäume, Bäckerrein zogen an uns vorbei, Boutiquen, Parks und Menschen, als hockten wir in einem Formel 1- Wagen, fuhren rasend an all dem vorüber. Ich wusste kaum, wie mir geschah, als ich plötzlich auf dem Dach eines Hochhauses wieder fand und Seth fahrig den Aktenkoffer öffnete, den er immer bei sich trug. Der Inhalt verunsicherte mich jedoch; mehr noch, er schockierte mich, sodass es mich in Angst und Bange versetzte.
" So was hast du bestimmt noch nicht gesehen," sprach Seth unbeeindruckt," Das ist eine MP, eine Maschinenpistole," erklärte er abgestumpft und baute die Waffe so blind zusammen, als hätte er es schon Millionen Mal getan.
" Wozu?", stotterte ich verängstigt, nachdem ich mich wieder gefangen hatte.
Er sah mich grinsend an. " Mädchen, was glaubst du warum jeder weiß wer ich bin, warum mich jeder meidet oder warum ich so verdammt viel Kohle hab?", schmunzelte er verwegen.
Im ersten Moment verstand ich nicht, doch hatte einen Verdacht, den ich kaum zu denken wagte.
Jedoch musste ich mir nicht einmal vorstellen, wie Seth sein Geld verdiente, denn er machte kein Geheimnis daraus und demonstrierte es mir haarklein. Motorisch breitete Seth eine Decke auf dem Boden auf, legte sich auf sie und begann sein Ziel anzuvisieren. Ich wäre am liebsten davon gerannt, hätte gern alles vergessen, doch als Seth mich darum bat, zu ihm auf die Decke zu kommen, konnte ich nicht ablehnen und gesellte mich dazu. Ich war plötzlich so nah bei ihm, wie ich es mir immer erträumt hatte. Als ich ihn ansah, zart über seinen Rücken strich, störte mich nicht einmal mehr, das er währenddessen den Abzug betätigte und einen Menschen umbrachte. Ich war so sehr mit ihm beschäftigt, das ich kaum wahrnahm, wie Seths Körper unter den Schüssen vibrierte oder wie unten auf der Straße einige Meter entfernt, das Chaos ausbrach. Ein Mann wurde erschossen, mitten auf der >Rue de Castiglione<, Autos begannen zu Hupen, Menschen schrieen laut auf und ich schritt seelenruhig neben Seth her, der sich gerade auf der Flucht befand.
Er wirkte so beschäftig damit zu verschwinden, das er mich nicht einmal mehr bemerkte. Doch ich hielt mit seinen schnellen Schritten mit, legte meine Hand sanft in seine, woraufhin er mich nochmals fragend ansah.
" Warum bist du noch hier? Du bist verrückt, oder?", flüsterte er zärtlich und küsste meine Stirn," Ich bring dich nach Hause, Kleines, ich hätte dich nicht mitnehmen sollen!"
" Nein, ich habe doch gesagt , das ich alles von dir wissen will," wand ich hastig ein," Ich möchte noch bei dir bleiben, ja? Geht das?," flehte ich verbissen.
Man konnte ihm förmlich ansehen, wie sehr er grübelte. Insgeheim wollte er mich nicht gehen lassen, er wollte nicht wieder allein sein.
" Vielleicht gehen wir beide zu mir, meine Eltern sind nicht da. Wir wären allein!", schlug ich verzweifelt vor.
Ich weiß nicht, warum, aber es schien mir, als brächte Seth mir gegenüber kein "Nein" zwischen seinen Lippen hervor. Er nickte zögerlich, gab mir einen flüchtigen Kuss auf den Mund und ging weiter.
Es war nicht weit bis zu meinem Haus, sodass wir rasch bei mir waren und ich Seth rasant auf mein Zimmer jagte. Ich wusste, das er sich nicht wirklich wohl in dieser Situation fühlte, ich jedoch fühlte mich umso wohler, als er sich neben mich auf das Bett setzte und liebevoll meine Schenkel streichelte.
" Und?" fragte er, nachdem er mein Zimmer begutachtet hatte," Wie ist jetzt dein Name?"
" Kyra," antwortete ich knapp und fiel erneut über ihn her. Ich ließ dem Mann kaum eine Chance sich zu wehren, küsste ihn ungestüm auf meine Matratze und stieg hemmungslos auf ihn herauf . Zügellos liebkoste ich seinen Körper, zog ihm haltlos seinen Pulli über den Kopf und öffnete ungeduldig seinen Gürtel.
" Kyra," meinte er plötzlich schnaubend," Hör auf! Was tust du?"
Aber ich wusste es nicht, ich hatte keine Ahnung, deshalb stieg ich von Seth herunter, legte mich neben ihn und er hielt mich in seinen Armen, solange bis ich schlief.
Von diesem Abend an ging ich jeden Tag hinunter zur Seine um Seth zu treffen. Es war egal, was die Leute von ihm hielten, wie er sein Geld verdiente, ich war mir einfach so sicher bei ihm; er war der Richtige und ich wollte ihn nie wieder missen, nie mehr einen Tag ohne ihn verbringen müssen.
Wir lagen größtenteils in meinem Bett, genauso, wie heute. Ich streichelte durch seine Haare und verirrte mich erneut in seinen Augen, in diesem Spiegel meiner selbst. Ich war, wie gefesselt, geknebelt und gebunden an dieses Labyrinth, an diesen Menschen, der die Welt mit einem Mal in das Paradies verwandelte und mich beständig lächeln ließ. Ich war mir wirklich sicher bei ihm, zum allerersten Mal und gleich zu einhunderttausend Prozent.
" Ich liebe dich, Seth, ich liebe dich über alles in der Welt," rutschte es mir plötzlich heraus.
Für einen Moment füllte sich der Raum mit Spannung, die Luft schien sogar immer dünner zu werden, je länger Seth schwieg. Plötzlich sprang er vom Bett, zog seine Sachen an und warf mir meine entgegen.
" Los komm, zieh dich an!", befahl er eilig.
" Wieso?"
Er lächelte freundlich:" Das ist 'ne Überraschung."
Als wir in den Wagen stiegen, stand ich vor lauter Aufregung völlig neben mir. Ich fühlte, wie das Adrenalin meinen Körper förmlich aufblähte, wie meine Beine so sehr zitterten und ich so wenig Halt auf dem Boden fand, als stünde ich auf einer Galeere, welche in einer Sturmflut wankend, schaukelt auf den Wellen ritt und mich beinahe in den Ozean schleuderte. Wir ließen Paris hinter uns, fuhren sogar eine ganze Weile, sodass ich irgendwann nicht mehr genau wusste, wo wir waren, als Seth an einer Kirche in einem kleinen Ort anhielt. Ich glaubte, er hätte sich verfahren, suchte in der Kirche jemanden, der uns den Weg erklären konnte und ging deshalb hinein, doch er suchte etwas anderes. Er schleppte mich direkt zum Altar, er zog mich zu dem Pfarrer, erklärte ihm, er wolle mich heiraten und warf mir daraufhin einen fragenden Blick zu. Ein Buch mit sieben Siegeln wäre einfacher zu lesen gewesen, leichter zu verstehen, als dieser Mann, aber ich war förmlich besessen von ihm, überschwemmt von seiner Zuneigung, so verloren in meiner Begierde zu ihm, das mein Verstand verstummte und mein Herz einwilligte.
Als wir die Kirche verließen und endlich wieder bei mir ankamen, war ich eine neue Frau. Ich war eine Ehefrau und in mir sprudelten die Endorphine vor sich her, wie ein feuerheißer Geysir und ertränkten mich gerade zu in einer Welle aus Endorphinen. Vor mir, vor uns lag ein neues Leben und als ich Seth küsste, konnte ich in meinen Lippen beinahe einen Stromschlag spüren, der mich erahnen ließ, wie viel Energie in unserer Zuneigung steckte, wie stark unsere Anziehung für einander sein musste. Sie schien so mächtig, das sich das ganze Universum um uns herum neu zu ordnen begann, das Sterne pfeilgleich vom Himmel regneten, während sie uns in eine andere Galaxie katapultierten. An diesem Ort gab es keine Zeit, keinen Raum, keine Grenzen, ganz anders als in der Realität, die trotzdem neben uns existierte. Wir vergaßen sie schlichtweg, küssten und kuschelten bis der Morgen graute, ignorierten dabei die Nacht, die uns schwächte, die Müdigkeit, die uns plagte, ja selbst meine Eltern, welche angezogen von dem Gekicher aus meinem Zimmer, plötzlich in der Tür standen. Damit brach meine Freude, mein neues Leben plötzlich in sich zusammen, wie ein Kartenhaus, verschwand wie ein Luftschloss von der Landkarte meiner Seele. Wahrscheinlich erwarteten oder gar duldeten meine Eltern jeden Mann aus Paris als den meinen, jedoch nicht meinen Ehemann. Sie kannten Seth, die Gerüchte die sich die Leute um ihn erzählten und reagierten entsprechend. Meine Mutter schrie und weinte, mein Vater brüllte, schlug auf Seth ein, bis ich heulend auf dem Boden kniete und meine Mutter verzweifelt die Polizei zu verständigen versuchte- Sein Todesurteil. Seth ging, er verließ mich, still, schweigsam, was sollte er auch tun.
Die Predigt meiner Eltern, die darauf folgte, schien endlos, eine endlose, bestialische Folter, in der ich lediglich an Seth denken musste und nicht einmal registrierte, was sie redeten. Den ganzen Tag lang lag ich im Bett. Ich wollte nichts essen, nicht aufstehen, ich wollte niemanden sehen, niemanden außer meinem Mann. Auf normalem Wege hätten mir meine Eltern nie gestattet bei ihm zu sein, das war sicher, also wartete ich bis sie schliefen und schlich mich dann nach Draußen.
Seths Wohnung war nicht weit entfernt. Nicht einmal fünf Minuten musste ich gehen bis ich vor seiner Haustür stand. Ich klingelte einmal und schon öffnete Seth die Tür, sodass ich wie der Blitz die Stufen hinauf hechtete. Er freute sich bestimmt mich zu sehen und würde mir sofort in die Arme fallen. Voller Vorfreude eilte ich die Treppen hinauf, rannte so hastig, das ich sie sogar hinaufstolperte und beinahe rücklings hinab fiel, doch ich rappelte mich schnell wieder auf und eilte schließlich zu der angelehnten Tür.
Ein wenig seltsam kam es mir schon vor, dass er mich nicht an der Tür begrüßte, jedoch dachte ich nicht weiter darüber nach, sondern ging hinein. Ich stand kaum mit beiden Beinen in der Wohnung, hatte die Tür geschlossen und drehte mich zum Raum, als ich lediglich spürte, wie mich ein brennender Schmerz durchbohrte. Es zerriss mich förmlich, fraß sich in mich und warf mich zurück, immer und immer wieder, so oft und so heftig, dass ich keine Kraft mehr behielt und auf den Boden sank. Am meinem Bauch schien es kalt zu werden, auch wenn das Feuer darin immer noch loderte, sich der Schmerz noch in mich bohrte und ich kaum etwas anderes fühlte.
" Kyra," hörte ich Seths Stimme rufen, sodass das Brennen für einen kurzen Augenblick nachließ.
Ich sah seinen Schatten, der sich über mich beugte, schmeckte seine Tränen, welche in mein Gesicht fielen und dann ergriff mich wieder diese Kälte, dieser Schauer, der sich mit seinen Krallen so tief in mich grub, dass ich nur noch sterben wollte.
Als ich Kyra erkannte, lag sie einfach nur so da, vollkommen regungslos, ihr Shirt durchtränkt von ihrem eigenen Blut. Sofort rannte ich zu ihr, kniete mich neben sie auf dem Boden, doch es schien alles zu spät. Ihr Herz schlug langsam, unregelmäßig, wie ein kaputtes Metronom, ihre Atmung war so schwach das sich ihre Brust kaum noch regte. Ich nahm ihren Kopf behutsam und legte ihn auf meinen Schoß, sie sah mich und ich wusste, das es das letzte Mal sein würde, das mich jemand so ansah. Ich konnte beinahe fühlen, wie sie der Lebenshauch verließ. Ich vernahm die Kälte, welche von ihrer sonst so warmen Gestalt Besitz ergriff, sodass die wirkliche Kyra mehr und mehr verblasste. Das Schimmern ihrer rotblonden Locken ließ nach, die Leuchtkraft ihrer blauen Augen verschwamm unter ihren Tränen, ihre Haut wurde noch blasser als sie es ohnehin schon war, ebenso wie ihre roten Lippen immer schmaler, immer heller wurden. Ich wusste das sie mich irgendwann verlassen würde, ich wusste es. Ich machte es den Menschen in meiner Umgebung nie leicht, mich zu lieben, weil ich ahnte das so etwas geschehen würde. Ein Schatten legte sich über sie, unbarmherzig und finster und saugte das letzte bisschen Kraft auf ihrem Körper, wie ein blutlechzender Vampir. Sie schien schöner als Engel es je sein könnten, so zerbrechlich, so schwach, so zart, wie eine Fee, ein Fabelwesen, das mich verzaubert und in einen Menschen verwandelt hatte, der fähig war zu lieben. Ich küsste sie noch ein letztes Mal, fühlte wie sie unter mir zuckte, sich ein letztes Mal regte, bevor der Tod vollständig Besitz von ihr ergriff und mich förmlich mit in die Unterwelt zog.
So viele Menschen hatte ich sterben sehen, so vielen Menschen eine Kugel durch die Brust gejagt, getötet, weil es mein Job war und dabei nie etwas wahrgenommen oder gar gefühlt. Doch bei ihr spürte ich, ein Leid, das die Erde zerschmetterte, die Meere zum Beben brachte und Häuser einstützen ließ. Ich vernahm den Schmerz tausender von Messerstichen, die sich in meinen Rücken bohrten, Klauen, die mir das Gesicht vom Schädel zogen, ein Feuer, schlimmer als ein Bad in einer Säure, das mich zerfraß. Egal wie laut ich schrie, wie heftig ich sie schüttelte, sie regte sich nicht. Sie war tot und würde es bleiben. Ein perfekter Schuss, in den Bauch, ein genialer in die Brust, die beste Arbeit, die ich je gesehen hatte, das Werk eines Profis, meine meisterhafteste Leistung.
Warum war sie nur hierher gekommen, warum jetzt, warum heute? Es war nur ein dummer Zufall gewesen, das sie die Kugel abbekam oder vielleicht ihr Schicksal. Vielleicht war das alles Schicksal, das ich sie kennen lernte, heiratete, liebte, obwohl ich sie kaum kannte. Mrs.Kyra Tyler, die Frau meines Lebens, der Geist, der mich an sich band und den ich nun ins Jenseits schickte. Ich denke ich kannte mein Schicksal zu diesem Zeitpunkt haargenau, ich wusste, welchen Pfad ich nun beschreiten musste, welcher Weg nun für mich vorgesehen war: Der Weg direkt in die Hölle, entweder durch meine Feinde, die in wenigen Minuten auftauchen würden um mir das Hirn aus dem Schädel zu jagen oder durch meine eigene Hand.
Die Entscheidung fiel mir sogar leichter als ich es erwartet hatte, ich zog eilig meine Pistole und presste sie so fest ich konnte an meine Schläfe. Noch einmal streichelte ich Kyras Gesicht, sie war mein Glück, mein Lebenselixier, die winzige Essenz, die mir in meinem Cocktail fehlte um mein Dasein lebenswert zu machen. Und so zog sie mich zu sich, lockte mich an, wie es immer tat, obwohl sie schon längst nicht mehr bei mir war. Nachdenklich schloss ich die Augen, ließ mein Leben ein letztes Mal an mir vorüberziehen, doch ich erblickte allein die Zeit mit ihr, ansonsten hatte mir die Welt nichts schönes beschert und tat es ihr gleich, indem ihr mich als Bürde auferlegte. Eine Legende unter den Profikillern, eine Legende von Paris, doch vielleicht machte mich erst der heutige Tag zu einer wahrhaftigen Legende.
Eisern bestätigte er den Abzug, jagte sich die Kugel eiskalt durch den Kopf, sodass das Blut fontänenartig durch den Raum sprenkelte, der rote Regen. Er fiel sofort in sich zusammen, direkt auf Kyras leblosen Leib, für immer im Tod mit ihr vereint und der Unsterblichkeit seiner Tat. Der Tat Seth Avon Tyler zu sein, geboren um zu töten, tötete er die einzige Frau, die er jemals liebte, den einzigen Menschen, der ihn liebte und schließlich sich selbst. Und Paris schwieg, hüllte die Stadt in den Trauermantel der Nacht und verblieb als ewige Ruhestätte ihrer Liebe bis in die Ewigkeit.
Tag der Veröffentlichung: 17.04.2009
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
Für dich, weil du da bist.