Mit triefnassen Händen fahre ich über das Gitter des nicht mehr ganz so glänzenden Eisentors, das ab heute den Zugang zu unserer Schule für genau sechs Wochen versperrt. Es müsste mal wieder geölt werden, weil es ständig quietscht wie verrückt und unseren Hausmeister wahnsinnig macht. Bei dem Gedanken daran muss ich mir ein Lachen unterdrücken.
„Nicht gerade das perfekte Wetter für den Ferienbeginn, was?“, sage ich und streiche mir eine nasse Haarsträhne hinter´s Ohr, während ich noch ein letztes Mal den Blick über das große, kahle Schulgebäude schweifen lasse, das für mich wie ein zweites Zuhause ist, obwohl es von außen, in seiner alten, kühlen Fassade ,nicht den Eindruck macht.
„Also dann, bis nach den Ferien!“, flüstere ich und winke ihm noch schnell zu, bevor ich mich umdrehe, mir meinen Regenschirm schnappe und mich auf den Heimweg mache.
Das war´s dann also mit der achten Klasse! Normalerweise könnte ich mich ja jetzt auf die Ferien freuen, aber es gibt da eine Sache, die mir das gründlich verdirbt. Mum und Dad haben zwar versprochen, wir würden dieses Jahr mal wieder verreisen, aber wie oft haben sie das nicht schon getan! Jedes Jahr wieder auf´s Neue, sodass es mir langsam schwer fällt, das zu glauben.
Ich würde alles dafür geben, nur wenigstens ein einziges Mal aus diesem Käfig, umgeben von Wald und noch mehr Wald herauszukommen! Es ist ja nicht so, dass es mir hier nicht gefällt, trotzdem gibt es soviel an diesem Ort, an dem ich mich schon vor Jahren satt gesehen habe. Es ist eben immer das Gleiche!
Gerade, als ich vor lauter Frust am liebsten irgendwo dagegen treten würde, fängt mein Handy an zu surren. Ich fische es aus der Hosentasche und starre auf das schwach beleuchtete Display.
Mum?!
„Hey, Mum!“, begrüße ich sie.
„Lana, Schätzchen. Du hörst dich nicht besonders begeistert an, weißt du das?“, trällert sie fröhlich drauflos.
„Ja. Vielleicht weil es regnet?“, sage ich leicht genervt.
„Achja, deswegen rufe ich dich auch an. Soll ich dich vielleicht von der Schule abholen? Mit dem Auto?“, fragt sie.
„Nein, brauchst du nicht. Ich bin sowieso schon fast zu Hause!“, lüge ich, weil es in Wahrheit noch gut zwanzig Minuten bis nach Hause sind, zumindest, wenn ich vorhabe, so richtig herum zu trödeln.
Ich habe einfach keine Lust darauf, die Gesichter meiner Eltern zu sehen, die mich schon bald entschuldigend ansehen und dann sagen : Lana, es tut uns ja so Leid, aber das mit dem Urlaub klappt dieses Jahr einfach nicht!
„Genau, wie sie es jedes Jahr tun!“, spreche ich den Gedanken laut aus und halte gleich darauf erschrocken die Luft an.
„Hast du was gesagt, Schätzchen?“, fragt Mum wieder durch den Hörer.
„Äh, nein..schon gut!“, stammele ich und atme erleichtert aus.
Dieses Problem müssen wir unbedingt noch lösen, bevor mich das Fernweh erdrückt!
Erstaunlich, wie niederschmetternd sowas sein kann.
„Da rennt sie, ihr hinterher!“.
Überrascht drehe ich mich nach den Kinderstimmen um, doch es ist bereits niemand mehr zu sehen.
„Lana, bist du noch dran?“.
Gerade als ich antworten will, gibt es einen lauten Knall, direkt in der Gasse neben mir und ich sehe, wie unzählige von Mülltonnen nach und nach umkippen und auf mich zurollen. Okay, in Sport bin ich wirklich nicht gerade die Beste! Vor allem nicht, wenn es darum geht, über irgendwelche Geräte zu kommen, also springe ich so schnell ich kann zur Seite.
Mit lauten Scheppergeräuschen rollen die Mülltonnen an mir vorbei.
„Lana? Lana, was war das für ein Geräusch gerade eben?“, höre ich Mum´s alarmierte Stimme, doch ich bin wie hypnotisiert.
Ich reagiere selbst dann nicht, als ich spüre, wie mir das Handy zwischen den Fingern entgleitet und zu Boden fällt. Ich habe ganz plötzlich das Gefühl, als ob mich irgendjemand rufen würde und starre nur noch in die Richtung, aus der die Stimmen der wütenden Menge kommen.
Dann renne ich los. Den Stimmen hinterher, bis ich mich nach kurzer Zeit ruckartig abbremsen muss, um nicht gegen noch mehr Mülltonnen zu prallen. Ich bin in einer Sackgasse gelandet!
Vor mir steht ein Haufen kleiner Kinder, die vielleicht gerade mal im Grundschulalter sind. Mädchen und Jungen, alle bilden sie einen kleinen Kreis um jemanden, den ich nicht erkennen kann. Das Einzige was man aus ihrer Mitte hört, ist ein leises Schluchzen.
„Hey! Was macht ihr da?“, rufe ich ihnen zu.
Ihre Gesichter drehen sich zu mir. Sie beäugen mich misstrauisch.
Schließlich tritt eines der Mädchen näher an mich heran und verschränkt die Arme.
„Wer bist du?“, fragt sie mit patziger Stimme und stellt sich auf die Zehenspitzen, was sie nicht gerade bedrohlicher wirken lässt.
„Habe ich nicht zuerst gefragt?“, frage ich zurück, lächele kopfschüttelnd und stemme die Hände in die Hüften.
Unsicher tritt sie ein paar Schritte zurück und wirft einem der Jungen aus ihrer Gruppe einen fragenden Blick zu.
„Lass nur, Lara! Ich kümmere mich schon um den Müll!“, sagt er, zieht eine dunkle Sonnenbrille aus seiner Jackentasche, setzt sie auf und läuft zielsicher auf mich zu.
Ich kann einfach nicht anderst, ich muss lachen!
„Hey, Tantchen! Du hälst jetzt wohl lieber mal die Klappe, sonst vergeht dir gleich das Lachen!“, droht er mir, erreicht damit aber nur das genaue Gegenteil, nämlich, dass ich noch mehr lachen muss.
Jetzt treten auch einige seiner Gruppe verärgert zur Seite und ich kann endlich sehen, wen sie da umzingelt haben. Ein kleines Mädchen, geschätzte acht, neun Jahre alt mit langen, braunen Locken, die vom Regen durchnässt an ihren Schultern kleben.
Als ihr verängstigter Blick meinen streift, zucke ich erschrocken zusammen.
Warum kommt sie mir nur so vertraut vor? Als hätte ich sie irgendwo schon einmal gesehen!
„Tja, jetzt hat es dir wohl doch die Sprache verschlagen!“, triumphiert der Kleine vor mir und wirft seiner Gruppe siegessichere Blicke zu.
In meinem Kopf scheint nichts mehr richtig zu arbeiten, ich schaffe es weder, mich auch nur den kleinsten Millimeter zu bewegen, noch, irgendwas zu sagen.
Wer ist dieses Mädchen?!
„Robin, bitte! Du bist dran!“, ruft er dann nach hinten.
Sofort beginnt die kleine Gruppe durcheinander zu springen. Das Mädchen, das sich in der Mitte zusammengekauert hat, zieht die Beine noch näher zu sich heran und legt den Kopf darauf.
„Nein, nein! Jetzt steh nicht nur so dumm herum, tu endlich was!“, ruft eine Stimme in meinem Kopf, doch ich bleibe nur stumm und fassungslos auf der Stelle stehen.
Ein Junge mit blonden Haaren greift nach einer der Mülltonnen, die hinter ihm stehen und zieht eine halbvolle Mülltüte heraus.
„Los, Robin, los!“, brüllen die Kinder aufgeregt durcheinander.
Ihre Stimmen setzen sich in meinem Kopf fest, werden lauter und lauter und schneiden mir jeglichen Gedanken ab. Es ist zum verrückt werden!
Was ist denn nur los mit mir?
Der Junge dreht die Mülltüte so zwischen den Händen, dass zwar noch immer kein Müll herausfallen kann, die Öffnung dafür aber nach unten zeigt.
„Was...?!“, bringe ich gerade noch so hervor, als er die Öffnung loslässt und sich der ganze Abfall über dem Mädchen entleert. Kurz darauf ertönt ein spitzer Schrei.
Fassungslos sehe ich dabei zu, wie der Rest der Menge sich darüber kaputtlacht. Mit einem leichten Kribbeln kommt langsam wieder Leben in meine Beine und ich kann endlich wieder klar denken.
„Stell dich nicht so an, das bisschen Müll. Deswegen heult man doch nicht gleich!“, sagt einer der Jungen abschätzig und dreht ihr den Rücken zu.
„Das passiert eben mit denen, die sich gegen unsere Klasse stellen und zu den Lehrern halten, pah!“, raunzt eines der Mädchen und wendet sich wieder der Gruppe zu.
Im nächsten Moment brennt die Wut bei mir durch. Kurzerhand schlage ich den Deckel der Mülltonne weg, die direkt neben mir steht und schnappe mir die Mülltüte, die darin steckt.
„Ach ja, es zählen übrigens immer mehrere Meinungen! Wollt ihr mal wissen, was ich lustig finde?“, rufe ich und nähere mich der kleinen Gruppe mit schnellen Schritten.
Ihre Gesichter schauen mich erstaunt an, als hätten sie vergessen, dass ich die ganze Zeit über da war.
Noch einmal sehe ich mich nach der Kleinen um, die schluchzend auf dem nassen Asphalt kauert, doch als ich die Verletzung an ihrer Stirn sehe, ist jeder Zweifel verflogen.
Mit dem prall gefüllten Müllsack in den Händen hole ich aus, so weit ich kann..ein letzter funkelnder Blick in Richtung der kleinen Monster..dann schlage ich zu:
Einmal, zweimal, dreimal...dann fällt der schwere Müllsack aus meinen Händen und der Inhalt entleert sich auf dem Asphalt.
Was mache ich denn da? Ich kann doch keine kleinen Kinder mit einer Mülltüte schlagen!
Die Kinder vor mir suchen jammernd das Weite, nach allen Richtungen stürzen sie auseinander, aus Angst einer von ihnen könnte der Nächste sein! Ungläubig betrachte ich meine Handflächen.
Es fühlt sich irgendwie komisch an...als der Regen der mir über die Wangen rinnt eine seltsame Wärme annimmt und ein zunehmendes Brennen in meine Augen schießt.
Immer noch total fassungslos über mich selbst sehe ich zu, wie sich die Letzten von ihnen aus dem Staub machen.
„Zugegeben, das war ein kleines bisschen brutal, aber du hast es gut gemacht!“, ertönt auf einmal eine schwache, aber helle Stimme, gefolgt von einem Lachen, hinter mir.
Ich drehe mich um und ringe mich zu einem Lächeln ab. Immerhin hatte ich einen Grund für meinen Aussetzer! Auch wenn das echt nicht notwendig gewesen wäre, aber solche gewissenlosen kleinen Monster machen mich rasend!
„Du bist noch hier?“, frage ich verwundert und gehe zu ihr.
„Klar!“, sagt sie und lächelt schwach.
Ich gehe in die Knie, um mit ihr auf Augenhöhe zu sein. Als ich das scharfe Messer in dem Müllhaufen erspähe, werfe ich es in hohem Bogen an die Mauer. Es wird ihr ganz bestimmt nicht nochmal weh tun.
„Geht´s dir wenigstens einigermaßen gut? Das hätte auch um einiges schlimmer ausgehen können!“, sage ich besorgt und streiche ihr die langen, dunklen Locken aus dem Gesicht.
Sie lächelt und im nächsten Moment folgen ihre Augen meinem Blick. Ein langer roter Blutfaden rinnt seitlich an ihrer Stirn herunter.
Schnell krame ich in meiner Schultasche nach einem Taschentuch.
„Tut es weh?“, frage ich und halte es ihr vorsichtig an die Stirn.
„Ach das geht schon…ich bin einfach nur müde!“, murmelt sie, steht auf und schwankt kurz, doch ich kann sie gerade noch so festhalten.
„Weißt du was? Ganz so schlimm ist die Verletzung ja nicht, also was hälst du davon, wenn du erstmal mit zu mir nach Hause kommst und wir rufen von dort aus deine Eltern an?“, schlage ich vor und stecke das Taschentuch wieder zurück in die Schultasche.
Sie nickt schwach, dann fallen ihr die Augen zu und ihr kleiner, zierlicher Körper sackt in sich zusammen.
Schnell hebe ich sie hoch und setze sie auf meinen Rücken, dann renne ich so schnell ich kann nach Hause. Immer wieder schießt mir die Enttäuschung durch den Kopf. Die Enttäuschung über mich, darüber, wie ich mich verhalten habe! Aber meine Sicherungen waren in dem Moment einfach durch und ich habe nicht mehr nachgedacht!
Zehn Minuten später stehen wir vor unserer Haustür, als sie hinten auf meinem Rücken etwas leise vor sich hin murmelt, das ich nicht verstehen kann.
„Hast du was gesagt?“, frage ich unsicher.
„Mhm. Danke.“, murmelt sie schläfrig.
„Lana, Gott sei dank, du bist zu Hause! Wo...?“, ruft Mum erleichtert, als sie die Haustüre aufschließt und mich sieht, ..bis sie merkt, dass ich nicht alleine bin.
„Du liebe Güte, Lana! Wer ist das Kind?“, fragt sie, zieht mich in den Flur und sieht mich fassungslos an.
„Wenn ich das nur wüsste! Sagen wir mal sie hatte gerade ziemlichen Ärger am Hals und ist dann direkt vor mir zusammengeklappt, bevor ich überhaupt was Genaueres wusste!“, sage ich und gehe mit ihr ins Wohnzimmer, um sie auf die Couch zu legen und zuzudecken.
Ich erspähe aus dem Augenwinkel, wie Mum sich in den Türrahmen lehnt und drehe mich zu ihr um.
„Sie wirkt für meinen Geschmack etwas zu fertig! Geht es der Kleinen wirklich gut?“, fragt sie misstrauisch und kommt zu mir, um ihr die Hand auf die Stirn zu legen.
„Gut ja nicht wirklich, aber die Verletzung, die sie hat ist nicht weiter schlimm! Sie ist einfach nur ziemlich fertig!“, erkläre ich und seufze.
„Und wir lassen ein völlig fremdes Mädchen, dessen Name wir nicht mal wissen einfach hier auf der Couch liegen?“, fragt sie skeptisch.
„Ja,genau das tun wir! Noch dazu, würdest du sie jetzt einfach wieder wecken?“, frage ich zurück.
„Gut. Dann lassen wir sie erstmal ausschlafen und wenn sie nachher wieder aufwacht, werde ich erstmal ihre Eltern verständigen!“, sagt sie.
Ich nicke und werfe noch einmal einen Blick auf das fremde Mädchen, das seelenruhig und ziemlich verschmutzt auf unserer Couch schlummert.
Ein paar Minuten später sitze ich mit Mum bei heißer Schokolade auf der Küchenbank und erzähle die ganze Geschichte noch einmal von vorne. Ich erkläre und erkläre, während ich hin und wieder die dicke Wolldecke enger um meinen durchgefrorenen Körper schlinge.
Als ich schließlich fertig bin, seufzt sie.
„Du weißt gar nicht, was ich mir für Sorgen gemacht habe! Ich dachte, dir sei sonst was passiert und wollte schon die Polizei rufen, als du dann endlich an der Haustüre geklingelt hast!“, erklärt sie etwas aufgebracht, doch in ihrer Stimme schwingt Erleichterung mit.
„Ja, mir hat das auch nicht wirklich Spaß gemacht!“, murmele ich, während ich ein paar kleine Schlücke aus meiner Tasse nehme.
„Oh. Ohje!“, murmele ich auf einmal.
Ich hatte ständig das Gefühl, etwas vergessen zu haben, ..jetzt weiß ich wieder, was es war!
„Was?“, fragt Mum und hebt eine Augenbraue.
„Mein Handy! Ich hab´s ausversehen fallen lassen. Das..war´s dann wohl!“, jammere ich und schlage mit dem Hinterkopf gegen die Wand.
„Das tut mir übrigens Leid!“.
Beide schauen wir erstaunt zur Wohnzimmertüre und genau da steht sie auch. Die Schultern hängend, die Haare durcheinander geraten und mit schuldbewusstem Blick.
„Ach, quatsch! Komm her!“, sage ich munter und klopfe neben mir auf die Sitzbank, damit sie sich zu mir setzt.
Als sie an meiner Mutter vorbei kommt, wirft sie ihr einen scheuen Blick zu, dann klettert sie zum mir auf die Bank und setzt sich so nahe zu mir, wie sie nur kann. Ich lächle und werfe ihr einen Teil meiner Wolldecke über die Schultern.
„Du hast aber nicht wirklich viel Schlaf gebraucht, was?“, frage ich und schiebe die Tasse zwischen meinen Händen hin und her.
Das Mädchen schüttelt stumm den Kopf.
„Sag mal, wie heißt du denn eigentlich? Irgendwie kommst du mir bekannt vor!“, sagt Mum nachdenklich, während sie aufsteht und für sie ebenfalls eine Tasse heiße Schokolade zubereitet.
Erstaunt schaue ich ihr nach. Mum denkt also genauso? Also war es vielleicht doch keine Einbildung.
„Faye!“, stammelt sie.
„Faye?“, frage ich.
Klingt ziemlich selten, der Name. Aber schön.
Sie räuspert sich kurz.
„Leya.“, sagt sie dann.
Jetzt hat sich Mum nach ihr umgedreht und sieht sie verwirrt an. Genau wie ich.
„Ich heiße Leya-Faye .. Sailey!“, sagt sie schließlich mit Nachdruck auf ihren Nachnamen und sieht meiner Mutter direkt in die Augen.
Ich sehe aus den Augenwinkeln, wie sie beim Namen Sailey zusammenzuckt. Sie kommt an den Tisch, stellt die Tasse mit dampfender Schokolade vor Leya-Faye ab, die sie daraufhin dankend anlächelt und verschwindet dann ins Wohnzimmer.
„Mum?! Was ist los, stimmt was nicht?“, will ich ihr hinterher rufen, als Leya-Faye mich unterbricht.
„Wusste ich es doch! Das wird noch Ärger geben, wie erwartet!“, murmelt sie vor sich hin und nimmt einen großen Schluck aus ihrer Tasse.
„Wie meinst du das?“, frage ich sie verwirrt.
Sie schwenkt die Tasse in ihren Händen noch ein Weilchen, dann stellt sie sie seelenruhig wieder auf dem Tisch ab, lässt sie aber trotzdem noch mit den Händen umfasst, während sie sich lächelnd zu mir dreht.
„Das schmeckt wirklich gut!“, sagt sie und fängt an zu lachen.
Also ganz ehrlich, ich werde nicht schlau aus diesem Mädchen!
„Also nochmal, du..?“, will ich meine Frage gerade wiederholen, als sie mich hastig unterbricht.
„Eine Bitte: Nenn mich Faye, ja? Wenn du meinen vollen Namen liest, nimm einfach einen Stift und streich das Leya durch. Mir ist Faye lieber!“, erklärt sie und zwinkert mir munter zu.
Langsam bekomme ich das Gefühl, dass Faye vielleicht nicht so ist, wie andere Kinder in ihrem Alter. Sie scheint irgendetwas..komplett anderes an sich zu haben! Es liegt so ein seltsamer Ausdruck in ihren Augen, der irgendwie – fremd ist.
„Okay. Faye.“, flüstere ich so lautlos vor mich hin, dass sie es eigentlich gar nicht hören kann und trotzdem nickt sie.
Für lange Zeit sitzen wir einfach nur so da. Stillschweigend, aus unseren Tassen trinkend, als ob jede von uns auf eine Reaktion der anderen warten würde. Ich schaue ein paar Mal aus dem Fenster, aber das Wetter macht keine Anstalten, sich zu ändern. Mit anderen Worten:
Es schüttet noch immer wie aus Eimern!
„Du heißt Lana, richtig?“, fragt Faye auf einmal.
„Ja, genau. Und mit Nachnamen..!“.
„Darley! Ja, ich weiß“, unterbricht sie mich und ich starre sie verblüfft an.
Woher weiß sie meinen Nachnamen? Hat Mum ihn ihr gesagt? Aber sie hat doch die meiste Zeit geschlafen, seit sie hier bei uns war!
„Woher weißt du das?“, frage ich und starre sie an, als wäre sie ein Alien von einem anderen , weit entfernten Planeten. Sehr sehr weit entfernt!
„Warum soll ich das nicht wissen? Du..hast also wirklich alles komplett vergessen?“, fragt sie vorsichtig und sieht mich dabei ziemlich niedergeschlagen an.
Was meint sie denn jetzt damit? Ich kenne sie nicht und sie kennt mich nicht, zumindest nicht bis heute!
„Faye..mal ehrlich, was soll das Ganze?“, frage ich in einem leicht genervten Ton und stehe auf, um unsere leeren Tassen in die Spülmaschine zu räumen.
„Was meinst du?“, fragt sie ärgerlich und springt von der Sitzbank.
„Ich hab keine Lust darauf, unnötig verunsichert zu werden, glaub mir ich hab andere Probleme! Lassen wir es einfach dabei, ich bin ich und du bleibst von mir aus Faye Salley! Okay?“, antworte ich und bin gerade daran, die Spülmaschine zu öffnen, als es meinen Kopf bei dem Wort Salley wie einen Blitzschlag durchfährt und mir die beiden Tassen aus der Hand rutschen.
Mit einem lauten Klirren zerspringen sie auf den Fliesen und ich höre, wie jemand mit hastigen Schritten in die Küche geeilt kommt.
„Lana? Lana, was ist los?“, höre ich Mum´s Stimme, doch sie klingt irgendwie..viel zu weit weg.
Salley. Es war Sailey und nicht Salley. Aber irgendwas ist mit diesem Namen, da war doch was, aber was?!
Ihr erschrockener Blick wandert weiter in Richtung der zersprungenen Tassen, dann wieder zu mir, zurück zu den Tassen und schließlich zu Faye.
„Es war Sailey, nicht wahr? Nicht - Salley!“, stammele ich und sehe dabei Hilfe suchend in Mum´s Richtung.
Es ist doch nichts dabei. Es war nur ein Versprecher ihres Nachnamens. Nichts weiter, - glaube ich, hoffe ich!
„Lana!“, flüstert Mum erschrocken und kommt zu mir herübergeeilt, um mich festzuhalten, da meine Beine nachzugeben drohen.
Über ihre Schultern hinweg sehe ich, wie Faye sich wieder auf die Sitzbank schwingt und erleichtert ausatmet. Unsere Blicke begegnen sich und für einen kurzen Moment sieht es so aus, als würden ihre blauen Augen in grün überwechseln. Sie blinzelt, dann sind sie wieder blau.
Was weiß dieses Mädchen über mich und mein Leben, was ich nicht weiß?
„Faye, ich glaube es wird Zeit dich langsam mal nach Hause zu bringen. Deine Eltern machen sich bestimmt schon Sorgen!“, sage ich fast schon mechanisch und löse mich dabei aus Mum´s Armen.
„Okay!“, sagt sie nur und steht mit einem Satz wieder auf dem Küchenboden.
„Wo genau wohnst du denn?“, fragt Mum, die inzwischen kreidebleich ist und greift zum Telefon.
Faye stellt sich auf die Zehenspitzen und schaut angestrengt aus dem Fenster, schließlich scheint sie gesehen zu haben, wonach sie Ausschau gehalten hat und stellt sich wieder normal hin.
„Gleich nebenan! Wir sind Nachbarn!“, sagt sie und verzieht dabei den Mund zu einem breiten Lächeln.
Ich sehe, wie Mum das Telefon zurück ins Ladegerät stellt. Jetzt wirkt ihr Blick wirklich misstrauisch.
„Nachbarn? Etwa nebenan, in Nummer 18? Seit wann denn das, dort steht doch alles leer, seit..“, murmelt sie verwundert, stoppt aber dann mitten im Satz und wird noch eine ganze Spur bleicher.
„Schon immer? Tatsächlich, aber ich wohne dort!“, gibt sie als Antwort und lacht.
Mein Blick trifft sich mit Mum´s. Ich glaube, wir wissen beide nicht, was wir davon halten sollen! Ich meine, das hätten wir doch mitbekommen, wenn nebenan eine Familie Sailey wohnt!
„Aber das Haus nebenan steht wirklich schon seit Jahren leer. Da wohnt keiner mehr drin!“, sage ich verwirrt.
„Wir gehen dann jetzt, ich glaube das ist besser!“, sagt Faye und zieht mich so schnell sie kann aus der Küche.
Sie fangen alle an, mir langsam Angst zu machen. Mum, Faye. Ich glaube, ich bin richtig froh, wenn Dad nach Hause kommt! Ich verstehe nämlich so langsam gar nichts mehr.
„Gut, gehen wir!“, sage ich und nehme Faye an die Hand, als wir hinaus in den strömenden Regen treten.
Als wir nebenan angekommen sind, dreht sie sich noch einmal auf dem Absatz zu mir um.
„Also dann. Danke nochmal! Ich komm euch mal besuchen, ja?“, sagt sie und lächelt.
Sie beugt sich nach unten und kramt unter dem abgenutzten Fußabtreter. Schließlich zieht sie einen Schlüssel hervor, schließt die Tür auf und verschwindet halbwegs in dem dunklen Flur. Ich sehe, wie mir ihre Augen noch ein letztes Mal entgegenblitzen.
Blau.
Dann fällt die Türe leise ins Schloss.
Es ist bereits spät am Abend und erst als die Haustüre erneut ins Schloss fällt und ich Dad´s Stimme wahrnehme, merke ich, dass ich auf der Couch eingeschlafen sein muss. Seid ich Faye zurückgebracht habe, sind Mum und ich uns nicht mehr über den Weg gelaufen, was vielleicht auch besser so ist für den Moment!
„Hallo, Lanilein!“, flüstert er mir zu, als er das Wohnzimmer betritt.
„Hey, Dad!“, sage ich und versuche, ein fröhliches Lächeln zustande zu bringen.
Seinem Blick nach zu urteilen kauft er mir das wohl nicht ganz ab.
„Dad, sag mal..“, will ich ihn gerade auf den Vorfall von heute Mittag ansprechen, als Mum in der Küchentüre erscheint und ihn zu sich herwinkt.
„Komm mal bitte!“, sagt sie und ich merke, wie nervös ihre Stimme klingt.
Dad streicht mir noch kurz übers Haar, dann steht er auf und verschwindet mit Mum in der Küche. Ich seufze, greife nach der Fernbedienung und schalte die Stereoanlage ein, die neben dem Fernseher steht.
Ich lasse mich wieder zurück ins Kissen sinken , während draußen noch immer der Regen gegen die Fensterscheibe prasselt. Es will wohl wirklich nicht mehr aufhören heute! Auch gut, mir soll es egal sein!
„Das meinst du nicht im Ernst, oder?“.
„Ich wäre heilfroh, ich hätte keinen Grund, es ernst zu meinen! Ich habe zwar nicht die geringste Ahnung, woher diese Familie Sailey kommt, dass wir auf einmal aus heiterem Himmel Nachbarn sind, aber wir müssen dieses Mädchen von Lana fernhalten!“, ertönt Mum´s hilflose Stimme.
Was reden sie da bloß? Faye von mir fernhalten!? Klar, das vorhin war echt seltsam, aber warum plant sie denn gleich so eine Aktion?
Ich schalte die Musik ein wenig leiser und setze mich aufrecht hin, um besser mithören zu können.
„Warum hälst du es für notwendig das Mädchen von Lana fernzuhalten? Es ist doch schön, wenn wir mal neue Nachbarn haben!“, sagt Dad dann.
„Nein, du verstehst das nicht! Du hättest dabei sein sollen, es war so..so unnormal! Was sie gesagt hat, hat bei Lana ganz seltsame Reaktionen ausgelöst! Als könnte sie sich auf einmal erinnern! Ich weiß nicht woher, aber dieses Mädchen scheint auf irgendeine Weise bescheid zu wissen! Aber wie, ich meine,..ich weiß nicht..“, versucht Mum verzweifelt zu erklären.
Für ein paar Sekunden, die mir endlos lange vorkommen, sagt keiner von beiden mehr etwas.
„Aber wie soll dieses Kind denn bescheid wissen? So jung wie sie ist – sie kennt uns ja nicht einmal!“, sagt Dad schließlich in einem nachdenklichen Ton.
Es reicht, ich kann kein weiteres Wort mehr hören und schalte die Musik so laut, bis sie ihren Limit erreicht hat ..mein Gehör wird es mir verzeihen! Ich dachte, das hier könnten die perfekten Sommerferien werden! Stattdessen fängt alles bereits ab dem ersten Tag so seltsam an, dass ich kein Wort mehr verstehe, von dem was alle um mich reden!
„Sag mal, bist du verrückt? Lana! Mach gefälligst die Musik leiser!“.
Sofort steht Mum im Wohnzimmer und hält sich die Ohren zu, während sie versucht, gegen die Lautstärke anzuschreien. Als sie bemerkt, dass ich nicht reagiere, sondern sie nur anstarre wie eine Verrückte, geht sie zur Anlage um sie selbst leiser zu schalten.
„Sag mal, was ist eigentlich los?“, fragt sie mich, als der Ton wieder eine normale Lautstärke hat.
„Ich weiß es nicht, sag DU es mir doch! Anscheinend wisst ihr alle mehr als ich!“, gebe ich ihr als Antwort, lege mich wieder hin und ziehe mir die Decke so weit über den Kopf, dass ich nichts anderes tun kann, als stickige, warme Luft einzuatmen und in die Dunkelheit zu starren.
„Okay, ein besonders herzlicher Abschied war das jetzt nicht gerade!“, murmele ich und drehe mich noch einmal in Richtung Haustür, aber im Gang hinter mir ist alles so dunkel, dass ich nichts mehr erkennen kann.
Habe ich Lana nicht doch etwas zu sehr verwirrt? Hätte ich ihr mehr Zeit geben sollen? Viel davon hätte sie ohnehin nicht mehr gehabt!
Aus der Küche nebenan dringen leise Scheppergeräusche und durch den leicht geöffneten Türspalt dringt etwas Licht.
„Naja, vielleicht sollte ich mich erstmal kurz duschen und dann was anderes anziehen!“, sage ich zu mir selbst, als ich an mir herunter schaue.
Eine gute halbe Stunde später fühle ich mich endlich wieder wohler in meiner Haut. Schon erstaunlich, dass Mama nicht mal gehört hat, dass ich nach Hause gekommen bin! Hastig springe ich die Treppe hinunter in Richtung Küche, überzeugt davon, dass Mama nichts an meinem Aufzug bemerken wird, so gestresst, wie sie seit dem Umzug ist!
„Ley-Faye, Mäuschen? Bist du das?“.
„Hallo Mama.“, sage ich und zwänge mich durch den Türspalt.
In dem Moment schießt aus einem der beiden Töpfe, die auf dem Herd vor sich hin köcheln eine riesige, heiße Dampfwolke. Blitzschnell knallt sie den Deckel darauf und schiebt ihn von der heißen Platte weg, dann dreht sie sich zu mir und reibt sich die Hände.
„Ging der letzte Schultag heute etwas länger?“, fragt sie und macht sich daran, den Tisch zu decken.
„Ja. Sind die Küchen-, Bad- und Bettsachen das Einzige, was du bisher aus den Kartons geräumt hast?“, frage ich und hieve mich auf den Küchenstuhl, während mein Blick durch den Raum schweift.
Ein paar Umzugskartons stehen noch herum. Ich frage mich, wann wir anfangen, die Restlichen auspacken, wo wir doch schon vor einer ganzen Woche hier eingezogen sind!
Es war ein ziemlich langes Hin und Her, bis sie meine neue Direktorin davon überzeugt hatte, mich noch so kurz vor den Ferien in die Klasse einzuweisen,..aber geschafft hat sie es! Nur leider hapert es noch mit der Gemeinschaft, wie ich heute zu spüren bekommen habe!
„Ja, leider! Ich weiß einfach noch nicht wohin mit dem ganzen Krempel!“, sagt sie und seufzt.
„Ich hab schon unsere neuen Nachbarn kennen gelernt!“, platzt es dann aus mir heraus, während ich mich auf dem Hocker im Kreis drehe.
Erstaunt schaut Mama mich an und stellt den dampfenden Topf mit Essen auf dem Tisch ab.
„Tatsächlich? Hab ich irgendwas nicht mitbekommen?“, fragt sie verwundert und setzt sich mir gegenüber an den Tisch.
„Möglich!“, gebe ich als Antwort und grinse vor mich hin, während sie damit beschäftigt ist, meinen Teller mit Essen zu füllen.
„Danke.“, sage ich, als sie ihn schließlich vor mir abstellt und bremse mich an der Tischkante ab.
„Ach..und wie sind sie denn?“, fragt sie dann.
„Ich glaube, wir werden gut mit ihnen auskommen!“, sage ich und lache.
„Das ist doch schonmal was!“.
Schweigend essen wir vor uns hin. Ein paar Mal frage ich sie aus, wie ihr Tag so war, bis mich irgendwann erneut die Müdigkeit packt und ich den Kopf mit der Hand abstützen muss.
„ Ist alles okay bei dir? Du siehst so fertig aus!“, höre ich Mamas Stimme.
Der letzte Satz unseres Gesprächs, bevor meine Augenlider zu flattern beginnen und alles in Schwarz getaucht wird.
„Faye, Faye-Mäuschen!“.
Mühsam schlage ich die Augen auf, blinzele ein paar Mal und setze mich langsam auf, wobei ich mich mit beiden Händen abstützen muss, weil mir irgendwie alles weh tut.
Ich bin in meinem Zimmer, aber irgendwie habe ich das Gefühl, noch immer nicht ganz bei mir zu sein. Erst als ich auf die Wanduhr schaue, muss ich ein bisschen staunen - ich habe tatsächlich bis zum nächsten Tag durchgeschlafen. Gestern war ich noch bei Lana und jetzt ist es schon wieder 11Uhr morgends !
„Faye?!“.
Auf einmal taucht eine Hand direkt vor mir auf und fuchtelt so wild vor meinem Gesicht herum, dass ich mit einem überraschten Schrei samt meiner Decke, in die ich mich vor Schreck festgekrallt habe, aus dem Bett falle.
Völlig verwirrt schaue ich um mich.. und da steht er vor mir! Ungläubig starre ich ihn an und er mich.
„Papa?“, frage ich erschrocken und rappele mich auf.
„Hallo, meine Kleine!“, sagt er und schließt mich in seine Arme.
Ich drücke ihn so fest ich kann. Am liebsten würde ich mich nie wieder aus dieser Umarmung lösen! Dass er hier bei mir sein kann, ist für mich noch immer so ungewohnt.
„Was machst du denn hier?“, frage ich und strahle dabei übers ganze Gesicht.
„Ich muss doch nach meiner Kleinen sehen! Wie geht´s dir, Mäuschen?“, fragt er und setzt mich wieder auf meinem Bett ab.
„So lala.“, sage ich und schiebe mit einer Hand den Haarschopf aus meinem Gesicht, der die kleine Wunde seitlich meiner Stirn entblößt.
„Wie kommt denn das?“, fragt er überrascht und kommt etwas näher, um sich das Ganze genauer ansehen zu können.
„Ich nenne es eine kleine Meinungsverschiedenheit! Ich wüsste aber nicht, was alles hätte passieren können, wenn Lana mir nicht geholfen hätte!“, sage ich und lächle ihm zu.
„Lana? Eine neue Freundin von dir?“, fragt er neugierig.
Ich nicke und schaue dabei aus dem Fenster, in das Zimmer von nebenan, von dem ich vermute, dass es Lana gehört. Im nächsten Moment und zu meiner Überraschung betritt sie auch schon den Raum.
„Ist sie das?“, fragt Papa, der meinem Blick gefolgt ist.
„Ja!“, murmele ich und springe von der Bettkante.
Mit langsamen Schritten gehe ich zum Fenster und lege meine Hände auf die vom Regen beschlagene Fensterscheibe.
Das gleiche trübe Wetter wie gestern.
„Lana!“, flüstere ich ihren Namen, als könnte sie mich dadurch hören, was natürlich unmöglich ist.
Und doch schaut sie auf! Als sie mich am Fenster entdeckt, hebt sie langsam die Hand und winkt mir zu. Ich lächle und winke zurück.
„Sag mal, regnet es draußen etwa noch immer?“, fragt Papa schließlich.
„Ja, siehst du´s nicht?“, frage ich niedergeschlagen und fange an, mit dem Finger kleine Muster auf die Fensterscheibe zu malen, als mir eine Idee kommt.
„Papa, kannst du mir vielleicht bei was helfen?“, frage ich und drehe mich nach ihm um.
„Und das wäre?“.
„Und du bist sicher, dass du das ausgerechnet bei dem Wetter tun musst?“, fragt er unsicher, als wir dick eingepackt in bunten Regenjacken unter dem Vordach unseres Hauses stehen.
„Ganz sicher!“, sage ich.
Doch auch ich kann mich nicht davon abhalten, hinauf in den grauen, wolkenverhangenen Himmel zu schauen, der alles so trostlos wirken lässt.
„Also los, gehen wir!“, sage ich, balle die Hände zu Fäusten und renne los.
Papa folgt mir sofort und hält sich daran, immer dicht hinter mir zu bleiben, während wir alle Gassen des kleinen Orts durchforsten, die mir bisher bekannt sind. Mehr kann ich leider auch nicht tun!
Als der Regen stärker wird, ziehe wir beide unsere Kapuzen über , doch genau in dem Moment kommt ein Windstoß und reißt sie mir wieder vom Kopf, sodass meine ganzen Haare ins Gesicht fliegen, mir die Sicht versperren und ich ins Stolpern gerate.
„Pfft!“, ist das einzige, was ich von mir gebe, als ich Sekunden später direkt in einer riesigen, matschbraunen Pfütze lande.
Vergeblich versuche ich mir die nassen, verklebten Haarsträhnen aus dem Gesicht zu pusten.
Schön, dann bin ich jetzt eben wieder völlig durchnässt!
„Alles okay bei dir?“, fragt Papa, der neben mir aufgetaucht ist.
Leicht genervt schaue ich zu ihm hoch.
„Na was glaubst du?“, gebe ich als Antwort und schenke ihm ein boshaftes Lächeln.
Ich packe seine Knie mit beiden Händen, ziehe daran, sodass er einknickt und im nächsten Moment schön durchnässt neben mir in der Pfütze liegt.
„Also, Papa, wie gefällt es dir denn hier unten? Unsere Möbel sind nichts dagegen, was?“, frage ich und grinse ihn schadenfroh an, während er noch immer ziemlich verwirrt drein schaut.
Schließlich fangen wir beide an, lauthals zu lachen, bis mein Blick auf etwas kleines,
Silbern – schimmerndes, direkt vor meiner Nase fällt.
„Hier steckst du! Hab ich dich endlich!“, rufe ich freudig und greife nach dem kleinen, zerkratzten Handy, um es in meiner Jackentasche zu verstauen.
Ich springe auf und zerre dann Papa wieder auf seine Füße.
„Komm schon!“, sage ich ungeduldig und spurte los, den ganzen Weg zurück.
Völlig außer Puste stehen wir schließlich vor dem Haus der Darleys und als Papa auf die Klingel drückt, dauert es gerade einmal zehn Sekunden, bis uns ein großer, schlanker Mann mit freundlichem, aber müdem Blick die Türe öffnet.
„Leya- Faye, richtig?“, fragt er, als er mich sieht.
„Falsch. Nur Faye!“, korrigiere ich ihn und fange an, in meiner Jackentasche nach dem Handy zu kramen.
„Ich weiß, du willst bestimmt zu Lana, aber sie ist gerade leider gar nicht da! Komm doch ein andermal vorbei, ja?“, sagt er und schließt die Türe, bevor ich überhaupt irgendetwas erwidern kann.
Ich stehe einfach nur fassungslos davor und weiß nicht, was ich sagen soll. Fragend blicke ich zu Papa, der verärgert und mit verschränkten Armen neben mir steht.
„Aber ich weiß doch, dass sie da ist! Sie kann gar nicht irgendwo anderst sein! Ich meine, vorhin..“, stammele ich.
„Wir finden schon einen Weg, Fayechen!“, sagt Papa mit fest entschlossener Stimme und legt mir eine Hand auf die Schulter.
Ich sehe ihn nur fragend an. Wie will er das denn machen?
Wir gehen ein paar Meter um das Haus herum, bis mein Blick auf Lana´s Fenster fällt, das direkt über uns liegt..nur eben..ein bisschen weit oben!
„Aah! Gut geblickt, meine Kleine!“, sagt Papa stolz und lächelt mir aufmunternd zu.
„Was willst du denn damit..? Meinst du etwa, ICH soll da hinaufklettern?“, frage ich unsicher.
„Komm schon, ich weiß, dass du es kannst! Außerdem kann dir gar nichts passieren, solange ich bei dir bin!“, versucht er mir Mut zuzusprechen.
Und ich muss sagen, es wirkt. Ich nicke und lasse mich mithilfe einer Räuberleiter von ihm nach oben auf den Fenstersims befördern.
„Es hat geklappt!“, jubele ich leise, als ich oben bin.
Lana liegt auf ihrem Bett und ist gerade in ein Buch vertieft, als ich mein Dauerklopfen-gegen-die-Fensterscheibe starte. Überrascht blickt sie auf, als sie mich entdeckt ,springt sie schnurstracks vom Bett und reißt das Fenster auf.
„Faye! Was zum Kuckuck machst du da? Weißt du denn nicht, wie gefährlich das ist?“, zischt sie mich an.
„Warum sagt dein Vater, du wärst nicht da?“, kommt es von mir als Gegenfrage.
Jetzt scheint sie wirklich platt zu sein!
„Was?!“, fragt sie verblüfft und blickt von ihrer Zimmertüre zu mir.
Hin und her. Hin und her.
„Sie haben das wirklich ernst gemeint!“, murmelt sie vor sich hin und blendet mich dabei völlig aus.
„Was ernst gemeint?“, frage ich und sehe sie verwirrt an.
Lana sieht mich wieder an, ihr Blick ist traurig.
„Lana?“, frage ich vorsichtig.
„Faye, ich..glaube meine Eltern wollen dich nicht in meiner Nähe haben!“, platzt es schließlich aus ihr heraus und ich merke, wie sehr es sie verletzt, mir das ins Gesicht sagen zu müssen.
Ich stoße einen tiefen Seufzer aus.
„Das können sie sowas von vergessen! So leicht lasse ich mich nicht abschieben!“, sage ich und krame dabei in meiner Jackentasche nach ihrem Handy.
„Übrigens, schau mal, was ich gefunden habe!“, sage ich dann und lasse das Handy in ihre Hände fallen.
„Mein Handy!? Du hast extra danach gesucht?“, fragt sie erstaunt und streicht lächelnd über das zerkratzte Ding.
„Was glaubst du, warum ich schon wieder so aussehe?“, frage ich und grinse.
Dann fängt sie an zu lachen.
„Ich glaube, jetzt sind wir quitt, oder?“, sagt sie und grinst vor sich hin.
Ich nicke.
„So ungefähr. Also dann, bis zum nächsten Mal!“, sage ich und drücke ihr einen schwesterlichen Kuss auf die Backe.
Dann hüpfe ich von dem Fenstersims und lasse mich von Papa auffangen. Ich hoffe nur, das hat sie nicht allzu sehr erschreckt! Zumindest schaut sie mir nicht hinterher!
„Hab ich nicht gesagt, dass du das schaffst?“, fragt er, als ich schließlich wieder festen Boden unter den Füßen habe.
„Danke Papa!“, sage ich und nehme ihn an der Hand.
Zurück vor unserer Haustüre schaut er sich prüfend um, dann zieht er etwas aus seiner Jackentasche, verbirgt es aber so, dass ich nicht sehen kann, was es ist.
„Ich finde, du hast einen Preis verdient, ich habe da nämlich was für dich!“, sagt er und beugt sich vor.
„Bitteschön, meine Kleine!“, sagt er fröhlich, als schließlich eine Kette mit einem wunderschönen Anhänger um meinen Hals baumelt.
Es ist eine silbergrüne, schneckenhausartige Spirale, die in einem silbernen Auge mündet, dessen Pupille ein kleiner, runder Peridot ist.
„Mein Lieblingsstein! Ich werde die Kette nie wieder ablegen, versprochen!“, sage ich begeistert und hebe feierlich eine Hand hoch.
Er lächelt.
„Ich war mir sicher, dass sie dir gefällt! Sie ist ab jetzt dein Beschützer, wenn ich nicht da bin, okay?“, schärft er mir ein und ich nicke ernst.
Dann hebt er mich hoch, um mich in den Arm zu nehmen.
„Ich hab dich lieb, meine Kleine!“, flüstert er und streicht mir über den Kopf.
„Ich dich auch, Papa!“.
Noch während ich über seine Schulter hinweg aus seine Füße schaue, verblasst seine Gestalt immer mehr, bis er in tausende, kleine Goldfunken zerspringt und ich mit einem harten Aufprall auf dem nassen Asphalt lande.
„Und wehe, du hälst nicht, was du versprichst!“, sage ich zu der Kette und stütze mich ab, als etwas Unerwartetes passiert.
Der kleine Peridot des Anhängers leuchtet auf, ganz kurz nur, als würde er mir zuzwinkern.
„Ich hätte auch nichts anderes von dir erwartet, Papa!“, flüstere ich erleichtert und drücke die Kette dabei fest an mich.
Mit leisen Schritten schleiche ich durch den dunklen Flur. Wenn man es mal bedenkt, sind wir wirklich eine seltsame Familie!
Seltsam. Ein wenig - kaputt. Unnormal.
„Faye!“.
Die Küchentüre schwingt mit einem lauten Knall auf und Mama sieht mich auffordernd an.
„Also, ich höre! Wo war die junge Dame denn so früh am Morgen?“, fragt sie und schwingt dabei mit der einen Hand geschickt den Kochlöffel.
„Oh man!“, murmele ich, während ich in Gedanken nach einer glaubwürdigen und halbwegs normalen Ausrede suche.
„Hab einen Regenspaziergang gemacht und bin gestolpert. Ich meine, irgendwann muss man doch mal nach draußen!“, verteidige ich mich.
Sie seufzt.
„Aber sag nächstes Mal wenigstens bescheid! Dann komme ich mit, in Ordnung? Da kommst du gestern nach Hause, total erschöpft, ich bringe dich ins Bett - und als ich heute Morgen aufwache, bist du wie vom Erdboden verschluckt!“, sagt sie vorwurfsvoll.
Von hinten legen sich zwei Hände auf meine Schultern und lassen mich vor Schreck fast erstarren.
„G..gut!“, stammele ich und rase nach oben in mein Zimmer, wo ich sofort die Türe hinter mir zuknalle und mich dagegen fallen lasse.
„Man, erschreck mich doch nicht so!“, flüstere ich dem Peridotauge zu.
Ich lehne den Kopf gegen die kalte, glatt geschliffene Holztüre, schaue zum Fenster und wünsche mir sehnlichst, es würden sich endlich mal ein paar Sonnenstrahlen zeigen.
Erst als ich aus dem Augenwinkel ein leises Aufblitzen wahrnehme, fällt mir auf, dass das Peridotauge wieder angefangen hat zu leuchten!
Mein Blick schweift zurück zum Fenster und weiter zum Himmel hinauf, wo sich die ersten Sonnenstrahlen gerade einen Weg durch die Wolkendecke suchen.
„Ich wusste doch, dass ihr es schafft!“, flüstere ich den Strahlen zu und schließe zufrieden die Augen.
Ein kalter Windzug fegt durch mein Zimmer und lässt mich augenblicklich aufwachen.
„Lana?!“.
Mir läuft ein kalter Schauer über den Rücken, als ich diese Stimme nach mir rufen höre. Schon wieder kommt es mir so bekannt vor!
Zuerst hat es sich wie Faye angehört, aber da schwingt noch eine andere Stimme mit, ich bin mir nicht ganz sicher!
„Lana?“, ertönt die Stimme ein zweites Mal und lässt mich aus meiner Starre erwachen.
Erst als ich erschrocken um mich blicke, fällt mir auf, dass ich mich gar nicht mehr in meinem Zimmer befinde.
Um mich herum ist nichts, als Dunkelheit - und Nebel! Dichter, weißer Nebel, der bedrohlich näher kommt, doch ich kann nicht ausweichen, ich bin wie festgenagelt!
Ganz ruhig, Lana! Jetzt nur keine Panik schieben, es gibt für Alles eine Erklärung!
„Hallo? Was für ein Traum soll das hier sein?“, rufe ich unsicher in die Stille hinein.
Auf einmal erscheint ein schwaches Leuchten - und im nächsten Moment taucht auch schon eine schattenhafte Gestalt aus den Nebelschwaden auf.
„Wieso – bist du hier?“, fragt das Mädchen, das nun direkt vor mir steht, verwundert.
Ich schätze sie mal auf ca. 14 Jahre alt, also so wie mich selbst. Lange, braune Locken fallen ihr über die Schultern und umrahmen damit ihr fassungslos dreinschauendes Gesicht. Das Einzige, was mich verwirrt, ist, dass sie irgendwie keine richtige Augenfarbe hat, sie wirken so leer und grau!
Aber vielleicht sieht es auch nur aus der Entfernung so aus.
„Sollte ich dich kennen?“, frage ich unsicher und mustere sie etwas genauer, doch auch das hilft meiner Erinnerung nicht weiter.
„Weißt du, es ist schon irgendwie enttäuschend, dass du mich das fragst!“, sagt sie, wobei ihre Augen unruhig zu flackern beginnen.
„Tut mir Leid!“, denke ich leise für mich selbst und weiche ihrem fragenden Blick aus.
Irgendwie habe ich ein schlechtes Gewissen, ihr gegenüber. Ich frage mich, woher sie mir so bekannt vorkommt! Genau wie es bei Faye der Fall ist.
„Ist schon okay! Du solltest sowieso besser wieder gehen! Gute Nacht, Lana und -bis bald!“, flüstert sie, kommt ein Stück näher und gibt mir einen schnellen Kuss auf die Stirn.
Dann verschwindet das Bild vor meinen Augen und das Letzte, was ich noch halbwegs mitbekomme, ist, wie mein Körper ruckartig nach vorne gezogen wird und ganz langsam, wie in Zeitlupe in die finstere Tiefe eintaucht.
„Lana! LANA!? Verdammt nochmal, was ist denn bloß in dich gefahren?“.
Ich spüre zwei Arme, die mich wachrütteln, dann schrecke ich hoch und sehe mich hastig um. Mein Atem geht ungewöhnlich schnell, mein Herz rast, was kein Wunder ist, aber wenigstens.. bin ich zurück in der Sicherheit meines Zimmers!
Zu Hause, wo es hell ist, und...
„Mum?! Was ist los, was machst du denn hier?“, frage ich erstaunt, als ich sie neben mir auf der Bettkante sitzen sehe.
„Was soll DAS denn bitte heißen?! Du hast gerade noch geschrieen wie am Spieß!“, sagt sie mit schreckgeweiteten Augen.
„Naja, also..äh!“, stammele ich und bekomme irgendwie kein Wort heraus.
„Immerhin ist das jetzt vorbei ! Was war denn los, Lana?“, fragt sie und sieht mich wieder mit diesem mütterlichen- besorgten Blick an, den ich so verabscheue.
Ich weiß doch noch ganz genau, was diese Nacht geschehen ist, aber ich glaube nicht, dass es richtig wäre, ihr davon zu erzählen! Immerhin hat sie bei Faye auch so seltsam reagiert.
Faye. Dieses kleine Mädchen, das so unglaublich viel reifer wirkt, als es eigentlich für eine Siebenjährige normal ist!
Aber anscheinend ist sie auch nicht normal – irgenetwas Spezielles hat sie an sich.
„Ach nichts!“, sage ich abwimmelnd.
„Gut, naja..okay, wie du willst! Ich bin unten und mache Frühstück! Kommst du dann?“, fragt sie und seufzt.
Ich nicke, dann steht sie auf und geht aus dem Zimmer. Erst als die Türe wieder ins Schloss fällt, schlage ich die Bettdecke weg und schlüpfe in meine Hausschuhe, die sauber neben dem Bett aufgestellt sind.
„Wenigstens hat sich das Wetter im Gegensatz zu gestern gebessert!“, sage ich erleichtert, als ich aus dem Fenster schaue, wo mir das helle Morgenlicht der Sonne entgegenstrahlt.
Das ist doch schon einmal etwas!
Nur.. weiß ich nicht, was ich von diesem „Vorfall“ halten soll. Naja, Lana..sieh´s mal so: Vielleicht war das Ganze ja wirklich nur ein Traum! Dann gäbe es wenigstens keinen Grund zur Besorgnis.
Als mein Blick zurück zum Fenster schweift, fällt mir wieder ein, wie Faye dort gestern auf dem Sims saß und mir mein Handy zurückgebracht hat. Besteht irgendein Zusammenhang zwischen ihr und dem Mädchen aus dem Traum?!
„Wenn ich doch nur wüsste, was das Alles zu bedeuten hat!“, murmle ich vor mich hin, dann stehe ich auf und gehe aus dem Zimmer.
Als ich die Treppe nach unten in die Küche schlurfe, ist bereits ein leises Klappern von Tellern zu hören - und Mum´s Stimme, was natürlich nicht ungewöhnlich ist, nur das, worüber sie redet.
„Ich weiß einfach nicht, was mit ihr los ist! Seit zwei Tagen schon verhält sie sich so seltsam! Ich sage ja, dass dieses Mädchen von nebenan irgendwie seltsam ist!“, ertönt ihre besorgte Stimme.
„Vielleicht sollten wir sie irgendwie ablenken? Sie scheint doch ziemlich durch den Wind zu sein!“, sagt Dad im nächsten Moment.
„Guten Morgen!“, sage ich, als ich den warmen Fliesenboden der Küche betrete.
Beide schauen erschrocken auf, während ich zu Dad schlurfe und mich neben ihn auf die Eckbank fallen lasse.
„Hey, Lana. Was hälst du davon, wenn wir heute ins Thermalbad gehen?“, fragt er mit leuchtenden Augen und wuschelt mir freundschaftlich durchs Haar.
„Aber..!“, will Mum gerade protestieren, als ich sie unterbreche.
„Ja, das klingt gut!“, sage ich und grinse vor mich hin.
Mum mag keine Thermalbäder, aber das ist mir egal. Schließlich geht es hierbei ja darum, mich aufzumuntern, oder?
„Muss es denn wirklich ein Thermalbad sein?“, jammert Mum, während sie die Tassen abtrocknet.
Dad wirft ihr einen Blick zu, der womöglich bedeuten soll, dass sie nicht weiter zu protestieren hat.
„Wir gehen!“, sagt er bestimmt und blättert dabei in seiner Zeitung.
Einige Stunden später sind wir schließlich angekommen. Schweigend stehen wir in unseren Badesachen vor dem riesigen Fensterglas und starren nach draußen, wo der Regen gegen die Scheibe prasselt.
Es hat also doch wieder angefangen!
„Also sind wir hier um herumzustehen, oder gehen wir jetzt ins Wasser?“, fragt Dad ungeduldig und dreht der deprimierenden Außenwelt den Rücken zu.
„Du hast Recht, auf zum Musikbecken!“, sage ich munter und gebe ihm einen Schubs.
Wir lachen beide und auch Mum sieht endlich wieder richtig glücklich aus, als hätte sie nur darauf gewartet, uns alle wieder sorglos zu sehen.
Wenige Minuten danach sind Mum und Dad bereits im Wasser, während ich noch immer auf den nassen Fliesen herumtapse und nach einem geeigneten Platz für mein Handtuch suche. Ich kann mich einfach nicht entscheiden, wo ich es hinlegen will!
„Weißt du was? Ich lasse dich einfach hier!“, sage ich einige Zeit später zu dem Handtuch und lasse es auf die Liege vor mir fallen, dann mache ich mich ebenfalls auf den Weg zum Becken.
„Aber dusch dich vorher nochmal ab, in Ordnung?“, ruft Mum mir zu, doch ich höre nicht auf sie, sondern gehe einfach weiter die kleinen Stufen hinunter, die ins Wasser führen.
Ich habe das kalte Wasser dieser Duschen hier schon immer gehasst und das werde ich mir auch heute ganz sicher nicht antun!
„Lana!“, ruft Mum empört.
Ich ignoriere ihre Stimme, hole tief Luft und tauche im nächsten Moment quietschvergnügt durch die bunten Unterwasserlichter hindurch. Ich liebe Schwimmen über alles, es gibt nichts Schöneres, als das atemberaubende Gefühl, seinen Körper ganz von dem weichen, warmen Wasser umschließen zu lassen.
„War das denn wirklich zuviel verlangt?“, fragt Mum genervt, als ich direkt vor ihrer Nase wieder an die Oberfläche geschwommen komme, um Luft zu holen.
Unzählige kleine Wassertropfen rinnen mir übers Gesicht, während ich sie entschuldigend angrinse.
„Du weiß, wie sehr ich das hasse!“, versuche ich mich zu verteidigen, als mir auffällt, dass ich Dad nirgends sehen kann.
„Weißt du wo Dad ist?“, frage ich überrascht und sehe mich nach allen Seiten um.
„Der macht das was er immer macht, wenn wir hier sind!“, nuschelt Mum und verdreht die Augen.
„Er ist mal wieder auf Tauchgang gegangen, um die Bodenfließen zu bewundern?“, frage ich und lache.
Sie seufzt. Erst in dem Moment spüre ich, wie sich unter Wasser zwei Hände um meine Knie schließen.
„Oh. Oh-oh!“, murmle ich und schon werde ich ruckartig nach unten gezogen.
„Dad!“, versuche ich zu protestieren, als ich ihn mit leicht geöffneten Augen entdecken kann.
Er lacht, bis ihm auffällt, dass er sich unter Wasser befindet, und sich zurück an die Wasseroberfläche treiben lässt, also tue ich es ihm gleich.
„Also wirklich, du könntest dich ruhig mal ein bisschen mehr wie ein erwachsener Mann benehmen!“, sagt Mum und betrachtet Dad mit gerunzelter Stirn.
Dad scheint sie nicht wahrzunehmen, er ist zu sehr damit beschäftigt zu husten. Ich klopfe ihm fest auf den Rücken.
„Geht´s besser?“, frage ich und tätschele ihm den Kopf, wie einem kleinen Welpen.
„Ja, danke Mäuschen!“, krächzt er und lächelt mich dankbar an.
„Hey-hey, wartet mal! Und was bin dann ich?“, protestiert Mum und setzt einen beleidigten Gesichtsausdruck auf.
„Du bist die Maus!“, sagt Dad, als wäre das selbstverständlich.
Zugegeben – Maus klingt ein bisschen hart!
Mum starrt ihn entgeistert an und ich breche in Lachen aus.
„Nein, Schatz, du weißt doch wie das gemeint ist!“, sagt Dad und sieht sie entschuldigend an.
Mum nickt und lächelt, doch ehe sie etwas erwidern kann funke ich wieder dazwischen.
„Das Schätzchen hat eine Frage!“, melde ich mich zu Wort.
„Hab ich was gesagt?“, fragt Mum verwirrt und blickt zwischen Dad und mir hin und her.
„Ich habe damit auch mich gemeint!“, sage ich und lächle.
„Warst du nicht gerade noch das Mäuschen?“, fragt Mum und hält sich den Kopf.
„Ja, Schätzchen?“, fragt Dad.
„Wie waren die Fließen?“, frage ich und sehe ihn erwartungsvoll an.
„Fantastisch, wie immer!“, antwortet dieser und dreht sich wieder zu Mum um.
„Irgendwas an dieser Familie ist nicht normal! Ich bin nur noch nicht dazu gekommen, es herauszufinden!“, murmelt diese vor sich hin und zieht ein Gesicht, als würde sie sich tatsächlich darüber Sorgen machen.
Gerade als ich wieder dazwischenfunken will, ertönt ein schriller Ton in meinen Ohren und das Bild vor mir verwackelt für einen Moment, was mich erstmal stutzig werden lässt.
„Dad?“, flüstere ich dann.
„Ja, Lana?“, fragt er wieder.
Ich drehe mich nach allen Seiten um, doch ich kann ihn bereits nirgendwo mehr entdecken, er ist von einer Sekunde auf die Nächste einfach.. verschwunden!
„Ich kann dich nicht mehr sehen! Du und Mum..wo..seid ihr?“, frage ich unsicher und richte meinen Blick auf die anderen Badegäste, die sich um mich herum im Wasser tummeln.
Das ist doch nicht normal? Was ist nur auf einmal mit meinen Augen los?!
„Wie meinst du das, Lana? Was ist los? Ist dir vielleicht schwindlig?“, höre ich Mum´s Stimme.
„Wo..wo geht ihr alle hin?“, frage ich und trete ängstlich ein paar Schritte zurück, während ich fassungslos dabei zusehen muss, wie die anderen Badegäste ebenfalls einer nach dem Anderen direkt vor meinen Augen verschwinden.
Okay, das kann definitiv nicht an meinen Augen liegen! Mir geht es gut, aber warum verschwinden dann auf einmal alle?
In weniger als fünfzehn Sekunden, haben sich alle Leute um mich herum vollständig aufgelöst. Ich bin jetzt allein.
Ganz allein.
Das ist ein Witz - aber ein extrem Schlechter!
Das Einzige, was ich hören kann sind ihre Stimmen, die ununterbrochen weiterreden - aber ich sehe sie nicht! Dann, innerhalb der nächsten Sekunden wird alles totenstill, als hätte jemand den Ton abgedreht.
Nein, nein. Oh bitte, nein! Nicht schon wieder sowas!
„Ich finde das kein Stück lustig, nur um das einmal gesagt zu haben!“, murmele ich, bis ich leider erkennen muss, dass das Ganze hier wirklich ernst ist.
Ich werde wohl doch nicht auf den Arm genommen.
„Mum, Dad. Sagt was, bitte! Irgendwas, ich will euch nur hören!“, rufe ich in leicher Panik, doch es kommt keine Antwort zurück.
Zumindest nichts außer meinem Echo.
Wieso hallt es hier drinnen auf einmal so?
Im nächsten Moment spüre ich, wie das Wasser um mich herum eine eisige Kälte annimmt.
Ich will so schnell wie möglich raus aus diesem Becken, doch ich schaffe es nicht,
meine Beine rühren sich keinen Zentimeter.
„Da bist du also! Ich hab dir ja gesagt, dass ich zurückkommen werde.“, flüstert auf einmal eine vertraute Stimme hinter mir.
„Nein..!“, murmle ich fassungslos, während das heftige Zittern es schon längst geschafft hat, meinen Körper vollständig einzunehmen.
„Tut mir Leid falls ich dich erschrecke, aber das hier ist eine Entscheidung, die wir beide getroffen haben.“.
Zwei kalte Hände legen sich von hinten auf meine Schultern und drücken leicht zu, so weit, bis nur noch mein Kopf aus dem Wasser herausschaut. Es ist, als würde diese einzige Berührung meinen ganzen Körper lähmen, sodass ich außerstande bin mich zu wehren.
Ich will um Hilfe schreien, doch als sie mich vollständig unter Wasser drückt, schaffe ich es nicht, kurz davor auch nur den leisesten Ton von mir zu geben.
„Augen auf, Madame!“.
Vorsichtig schiebe ich mir die Haare aus dem Gesicht und werfe einen kurzen Blick nach allen Seiten.
Okay, wir sind eindeutig unter Wasser! Meine Füße sind wie angeklebt an die schwach- schimmernden Bodenfließen, von denen Dad so begeistert ist. Es scheint aber auch fast so, als wäre die Wasseroberfläche viel weiter nach oben gerückt!
„Wie können wir hier atmen?“, frage ich völlig verblüfft und wische mit einer Hand nach beiden Seiten aus, um zu testen, ob wir auch wirklich unter Wasser sind.
„Ganz normal, so wie du es immer tust!“.
Langsam drehe ich mich nach ihr um, doch das, was vor mir steht kann man nicht wirklich einen „Menschen“ nennen!
Schatten wäre eine viel passendere Bezeichnung für dieses Mädchen.
Sie ist es, das Mädchen aus meinem Traum. Wenn es ein Traum war.., aber auf jeden Fall ist es ein und dieselbe Person! Die Umrisse, die Stimme, es passt einfach alles.
„Sagst du mir jetzt, wer du bist?“, frage ich.
„Leider nein, das wäre noch nicht richtig!“, sagt sie und klingt dabei völlig gelassen.
„Dann habe ich wohl keinen Grund länger hier zu bleiben, hm?“, sage ich und reiße kopfschüttelnd meine Füße von den Fliesen los, um mich nach oben treiben zu lassen. Woher meine plötzliche Selbstsicherheit kommt ist mir schleierhaft - aber diese Spielchen spiele ich nicht mit!
Die Schattengestalt folgt mir mit einer spielerischen Bewegung, doch erst als ich mit meinen Händen wie auf eine Glasplatte an der Wasseroberfläche stoße, wird mir schlagartig klar, dass ich ohne ihr Zutun hier wahrscheinlich nicht wegkommen werde!
„Was..was soll das? Was ist das hier? Was hast du mit dem Wasser gemacht? Du kannst mich nicht einfach hier unten festhalten!“, sage ich hektisch und schlage dabei immer wieder fest mit den Händen gegen die Wasseroberfläche.
Man kommt wirklich gar nicht durch.
„Oh, glaub mir, du weißt gar nicht, was ich alles kann!“, sagt sie siegessicher und zwei beängstigend grüne Augenpaare blitzen mir entgegen.
Erschrocken zucke ich zusammen, doch meine Füße werden schon wieder in die Tiefe gezogen und während ich wie gelähmt bin, nimmt das Wasser um mich herum einen tiefblauen, dunklen Farbton ein.
Nun stehen wir wieder auf dem Grund des Beckens.
Ich habe ich im Gegensatz zu ihr eine Todesangst!
„Ich habe keine Chance von hier wegzukommen!“, murmele ich verängstigt, als das leuchtende Grün ihrer Augen langsam erlischt und sie einen weiteren Schritt auf mich zu macht.
„Wehe, wenn du mich auch nur anfasst!“, fauche ich sie an und versuche erneut, mich von den Fliesen zu lösen, doch es klappt nicht mehr.
„Tu mir nur mal einen Gefallen - schau nach oben!“, sagt sie.
Als ich den Kopf hebe, sehe ich einen täuschend echten Nachthimmel, an dem unzählige von Sternen blinken.
"Wie geht das denn?!", murmele ich kopfschüttelnd.
„Das sieht doch gar nicht schlecht aus, hm?“, fragt sie und lacht.
„Sind wir eigentlich – Feinde? Oder – naja, also ich weiß nicht wirklich, wie ich dich das fragen soll, aber du scheinst nicht gerade durch und durch böse zu sein!“, sage ich schließlich, wende meinen Blick dabei aber nicht von dem Sternenhimmel ab.
Wow – ich hätte wohl besser die Klappe gehalten. Das hat sich doch ziemlich dämlich angehört!
„Was?!“, ertönt ihre verunsicherte Stimme.
Jetzt bin ich an der Reihe sie etwas verdattert anzusehen.
„Nein, Feinde trifft es eigentlich so gut wie gar nicht!“, sagt sie mit niedergeschlagener Stimme.
Genau in diesem Moment leuchten die Sterne augenblicklich auf, setzen sich ruckartig in Bewegung und schweben langsam in unsere Richtung.
„Oh, Wow. Wie schön!“, rufe ich begeistert aus.
„Du freust dich ein bisschen zu früh, wirklich gut ist das nicht!“, sagt sie kopfschüttelnd und mit trauriger Stimme.
„Warum, was hast du gegen Sternschnuppen?“, frage ich und sehe sie verwundert an.
„Das..sind keine Sternschnuppen!“, gibt sie zur Antwort, greift nach meinen Händen.
Beide sehen wir nach oben und da fällt es mir schließlich auf. Die Sterne haben ihr Tempo beschleunigt, oder mit anderen Worten: Sie kommen bedrohlich auf uns zugerast, mit gefährlich funkelnden Spitzen voraus. Ungewöhnlich scharf schimmernde Spitzen.
„W..was ist das? Sind das – das ist jetzt nicht wahr, oder?“, stammele ich und sehe ungläubig zwischen ihr und den seltsamen „Sternen“ hin und her.
„Es sind Diamanten. Das hört sich jetzt relativ harmlos an, aber diese Dinger sind nicht normal, sondern gefährlich!“, murmelt sie mit einer zittrigen Stimme, die sich anhört, als wüsste sie nicht, ob sie lachen soll oder nicht.
Im selben Moment reißt uns ein heftiger Zug nach hinten und die Diamanten beschleunigen ihr Tempo. Wäre es nicht so verdammt gefährlich, wäre es sogar schön mit anzusehen, wie sich das Licht in ihnen bricht und sie bunten Strahlen durchs Wasser werfen.
„Was machen wir jetzt?“, frage ich hektisch und kneife die Augen fest zu, weil das Licht das auf uns zukommt inzwischen so grell ist, dass sie zu brennen beginnen!
„Runter!“, schreit sie und rammt mich augenblicklich zu Boden.
Dann ist es soweit. Ich sehe es nicht, aber ich höre es und das viel deutlicher, als mir lieb ist. Es hört sich an, als würden tausende von Glasscheiben eingeschlagen werden. Ein schriller, hoher Ton, der dermaßen schmerzt, dass ich mir die Ohren zuhalten muss.
„Was passiert hier?“, versuche ich gegen den Lärm anzuschreien.
Die Arme des Mädchens umschließen mich noch immer fest, als wäre es ihr eiserner Wille, mich zu beschützen - oder sie hat ganz einfach Angst.
„Lana, egal was du tust, beweg dich ja nicht!“, antwortet sie.
Das Geräusch, dieser ohrenbetäubende Lärm.. er wird zunehmend lauter! Widerwillig öffne ich die Augen, um einen Blick auf die ganze Szenerie zu erhaschen - ich hätte es wohl besser gelassen!
Der Anblick der sich mir bietet, ist einfach nur schrecklich! Lauter grell leuchtende Diamanten zerschnellen mit einer gewaltigen Geschwindigkeit auf den Fliesen und überall liegen spitze, blutverschmierte Splitter herum.
Wie ist sowas überhaupt möglich?!
In dem Moment erscheint ihr Gesicht direkt vor mir, nur, dass sie nun nicht mehr die Schattengestalt von vorhin ist, sondern diejenige, die mir in meinem Traum begegnet ist!
Lange dunkelbraune Locken, grün schimmernde Augen.
„Lana, hör mir zu. Dir passiert hier nichts, okay? Ich sorge schon irgendwie dafür!“, sagt sie mit ernster Stimme, doch aus ihren grünen Augen schimmert mir die pure Angst entgegen.
„Was willst du denn tun?!Das muss doch irgendwann wieder vorbei gehen!?“, antworte ich, doch sie wird bereits ruckartig hochgehoben.
Ich greife nach ihrer Hand, erwische sie aber nicht mehr.
„Mach dir keine Mühe, ja? Ich komme schon zurück, ich habe es dir schließlich versprochen!“, ist der letzte Satz,den sie mir zuruft, bevor ein erneuter Ruck sie wegzieht.
„Nein!“, schreie ich und springe hastig auf.
Doch lange zu schreien habe ich nicht, als ich spüre, wie etwas Brennendes, Spitzes meine Haut durchsticht und alles vor meinen Augen zu verschwimmen beginnt.
„Geht es ihr gut?“.
„ Ich denke ja, aber es wird wohl besser sein, wenn sie mit ihr nach Hause zu gehen!“.
„Was ist denn nur los mit ihr?!“.
„Verhält sie sich in letzter Zeit öfters so komisch? Hat sie vielleicht Epilepsie oder etwas Ähnliches?“.
„ Ja, naja. Noch nicht so lange! Aber eine Epilepsie? Um Gottes Willen, nein!“.
„ Ich verstehe! Aber sorgen sie dafür, dass sie sich in nächster Zeit nicht zu sehr aufregt, gehen sie die Dinge entspannter an, ja? Und wie wäre es mit einem Arztbesuch zur Vorsicht?“.
„ In Ordnung!“.
„ Aber, was wenn..?“.
„ Mum?“, flüstere ich, als ich die Umrisse ihrer leicht verschwommen Gestalt wahrnehme.
„ Lana! Schatz, sie wacht auf!“, höre ich ihre erleichterte Stimme.
Dann taucht eine zweite verschwommene Gestalt vor meinen Augen auf.
„ Ich kann euch wieder hören!“, sage ich erleichtert und lächle schwach.
„ Mäuschen, geht es dir gut?“, fragt Dad schließlich und streicht mir übers Haar.
Ich nicke und werde im nächsten Moment von einem Hustenanfall gepackt.
„ Also mir reicht das jetzt! Wir gehen nach Hause!“, sagt Mum und hilft mir aus der Liege.
„ Okay, liebend gerne!“, murmle ich und ziehe das Handtuch enger um meinen zitternden Körper.
Ein paar mal, während wir an den neugierigen, tuschelnden Badegästen vorbeigehen, wollen meine Beine nachgeben, doch jedes Mal ist Dad darauf gefasst und hält mich fest. Der Weg zur Umkleidekabine kommt mir wie eine Ewigkeit vor. Ich weiß weder, was ich denken, noch was ich sagen soll. Ich bin mir sicher, meine Eltern werden irgendwann danach fragen!
„ Was starren diese Leute denn so ungeniert?“, ärgert sich Mum, die sich bei mir eingehängt hat.
„ Du findest das verwunderlich?“, antwortet Dad spöttisch und zieht mich hoch, als meine Beine erneut einzuknicken versuchen.
„Endlich sind wir da weg!“, murmelt Mum leise vor sich hin und dreht die Autoschlüssel herum.
„Danke!“, flüstere ich, als Dad mir auf den Rücksitz hilft.
Dann fahren wir los, weg von meinem Lieblingsbad und dem Ort, vor dem ich mich jetzt wohl immer irgendwie fürchten werde.
Mit müdem Blick starre ich nach draußen, wo die orangen Straßenlampen an uns vorbeihuschen, bis meine Augen erschöpft zufallen.
„So und jetzt..Au! Mensch!“, murmle ich und stecke den angeschlagenen Ringfinger in den Mund, um den Schmerz ein wenig zu lindern.
Der Versuch meine über alles geliebte Kalimba zu stimmen, endet also damit, dass ich mir mit dem Hammer auf den Finger schlage, super!
„So jetzt zeig mir doch mal, wie du klingst!“, sage ich zu dem kleinen rechteckigen Instrumentkästchen in meiner Hand und fahre dabei mit einem Finger über die winzigen Metallzungen.
„Schön, wirklich schön! So kannst du für´s Erste bleiben!“, sage ich, lege den Hammer beiseite und mache mich daran, eine neue Melodie einzuüben.
Diese kleine Kalimba war das letzte Geschenk von Papa. Er hat sie mir im letzten Winter geschenkt, als er behauptete, er kenne ein Instrument, welches ganz wunderbar zu mir passen würde. Tags darauf saß er wie festgesessen vor dem Computer und hat unzählige von Angeboten eingeholt, ich habe es gesehen, als ich ihm kurz mal über die Schulter geschaut habe. Und dann, zwei Wochen später überreichte er mir freudestrahlend ein winziges Päckchen, das mit einer riesigen blauen Schleife umwickelt war.
„Ist es das?“, fragte ich und löste vorsichtig die Schleife.
„Ja, Fayechen. Das ist ab heute deine ganz persönliche Kalimba!“, sagte er stolz und ging in die Knie, um gespannt meine Reaktion abzuwarten.
Behutsam klappte ich die kleine Pappschachtel auf und ließ den Inhalt in meine linke Hand fallen, mit der ich sie skeptisch abwiegte, drehte und wendete.
„Na, wie gefällt sie dir?“, fragte Papa neugierig.
Noch immer skeptisch betrachtete ich das kleine Holzkästchen in meiner Linken, dann drehte ich es und als ich die Rückseite genauer betrachtete, fiel mir auf, dass darin eine winzige Inschrift eingeritzt war.
„Für Faye, von..Papa?!“, flüsterte ich und strich mit dem Finger über die winzige Schrift.
„Ich habe sie extra so für dich anfertigen lassen.“, erklärte er mir und legte die Kalimba wieder so in meine Hand, dass sie richtig herum lag. Vorsichtig fuhr ich mit den Fingern über die winzigen Metallzungen. Dann hob ich den Kopf, lächelte ihm zu und nickte.
„Die ist so schön. Danke Papa!“, sagte ich und umarmte ihn.
Einen Tag später starb er. Verunglückt bei einem Autounfall. Und ich war Schuld,..das weiß ich. NEIN! Ich bin mir sogar sicher!
Er war gerade mit dem Auto auf dem Nachhauseweg, als er bei uns anrief um Bescheid zu sagen, dass er bald zu Hause sein würde.
„Papa, stell dir vor, ich habe den ganzen Nachmittag an einer Melodie geübt. Wenn du da bist ist sie fertig, versprochen! Da kann ich sie dir dann vorspielen.“, rief ich aufgeregt in den Hörer, während ich mit einem Finger an der Telefonschnur herumspielte.
„ Das ist ja fantastisch, Fayechen! Ich werde sie mir sofort anhören, wenn ich zu Hause bin, ja? Und dann..wo, verdammt - nein,...“, hörte ich Papas aufgeregte Stimme durch den Hörer rufen.
Im nächsten Moment ertönte das schreiende Geräusch von quietschenden Autoreifen, dann ein lauter Knall und dann - war die Verbindung weg, unterbrochen!
„Faye, kommst du mal bitte?“, ertönt auf einmal Mamas Stimme von unten und holt mich wieder zurück in die Gegenwart.
Ich versuche, so ruhig wie möglich zu atmen und die aufkommenden Tränen wegzublinzeln, während ich in langsamen Schritten die Treppe hinuntergehe. Unten an der Haustüre angekommen bleibe ich jedoch ruckartig stehen.
„Mrs. Darley?!“, frage ich überrascht und mustere sie misstrauisch.
„Hallo Leya- Faye! Wie geht es dir?“, fragt sie mich mit einem Lächeln im Gesicht, von dem man sofort merkt, dass es nicht echt ist.
Augenblicklich wende ich den Blick von ihr ab und fange wieder an, auf meiner Kalimba herumzuklimpern.
„Faye, sie hat dich etwas gefragt. Also wirklich, benimm dich doch bitte!“, sagt Mama tadelnd und lächelt Lanas Mutter entschuldigend an.
„Ich heiße Faye. Es wäre schön, wenn sie sich das merken könnten!“, sage ich und setze ein ebenso aufgesetztes Lächeln auf, wie sie.
„Achja, stimmt ja. In Ordnung, Faye! Ich bin hier, um dir zu sagen, dass Lana dich gerne sehen möchte, hättest du vielleicht Lust mitzukommen?“, fragt sie und sieht mich abwartend an.
Einen kurzen Moment überlege ich, was ich davon halten soll. Immerhin wollte sie mich letztens auch nicht zu Lana lassen, also warum sollte sie es jetzt tun?
Und warum kommt Lana dann nicht selbst her?
„Gut, ich würde gerne mitkommen!“, sage ich kurzerhand und werfe Mama einen schnellen Blick zu, bevor ich durch die Türschwelle nach draußen in den strahlenden Sonnenschein trete.
„Schön, dann wünsche ich euch beiden viel Spaß! Faye, du kommst dann heute Abend wieder? Spätestens um sechs Uhr bist du da, okay?“, sagt Mama und mustert mich fragend.
Ich nicke.
Stillschweigend gehen wir die paar Meter zum Haus der Darleys nebeneinander, als ich das Schweigen breche.
„Also, ..weswegen waren Sie wirklich bei uns?“, frage ich und bleibe ruckartig stehen ohne dabei den Blick von der Straße zu wenden.
„Was meinst du denn, Faye?“, fragt sie verwundert.
„Lassen Sie das und sagen Sie, was sie wirklich von mir wollen, schließlich sind Sie hier die erwachsene Person!“, sage ich werfe einen kurzen Blick über die Straße, aus dem Augenwinkel jedoch sehe ich, wie sie zusammenzuckt.
Ins Schwarze getroffen!
„Faye..ich denke du verstehst was ich meine, wenn ich dir jetzt sage ,dass Lana nicht mehr ganz sie selbst ist, seit ihr Beiden euch über den Weg gelaufen seid?“, versucht sie mir sie zu erklären.
„Ja. Und was wollen sie jetzt von mir?“, will ich wissen und merke, wie ich langsam aber sicher ungeduldig werde.
Mit eiligen Schritten läuft Mrs. Darley weiter.
„Faye, was auch immer du mit meiner Tochter angestellt hast, was auch immer du zu ihr gesagt hast..ich.., ich will, dass du es rückgängig machst ,unzwar sofort!“, platzt es schließlich aus ihr heraus.
„Verstehe.“, murmle ich und betrachte ihr Gesicht, das jetzt von hektischen, roten Flecken übersäht ist.
Inzwischen sind wir auch schon beim Haus der Darleys angekommen.
„Bitte, tu was du zu tun hast! Einfach geradeaus.“, sagt sie, und weißt in Richtung Obergeschoss, als die Haustüre vor uns aufschwingt.
„Das werde ich tun, danke!“, sage ich und gehe leise die Treppe hoch, durch den dunklen Gang, bis ich vor einer großen hellen Zimmertüre stehe.
So leise wie möglich drücke ich die Türklinke nach unten. Schon im nächsten Moment schwingt die Türe auf und ich gehe hinein. Während ich mich interessiert umsehe, steuere ich direkt auf das große Bett zu, indem Lana schläft.
„Hallo!“, sage ich und beuge mich über sie, um zu prüfen, ob sie wirklich tief und fest schläft und das tut sie auch, wie ein Stein!
Das Einzige was mich an ihrem Anblick stört, ist das man ihr wirklich ansieht, wie schlecht es ihr geht!
„Hat das was ich gesagt habe dir wirklich so sehr zugesetzt?“, flüstere ich schuldbewusst und stütze mich mit den Händen an der Bettkante ab.
In dem Moment wacht sie auf und blinzelt mir verschlafen entgegen.
„Faye..?!“, murmelt sie und wird sofort kreidebleich im Gesicht.
„Ohje. Deine Mutter hatte wirklich recht, irgendetwas Seltsames ist vorgefallen, oder?“, frage ich und lege ihr die Hand auf die Stirn.
„Ich glaube langsam wirklich, dass ich noch völlig durchdrehe. Vielleicht nicht jetzt, aber irgendwann, wenn es so weitergeht!“, sagt sie und hält sich erschöpft den Kopf.
„Hm..“, mache ich und werfe einen schnellen Blick Richtung Türe, dann gehe ich langsam ein paar Schritte rückwärts, hebe einen Fuß an und lasse sie mit einem lauten Krachen ins Schloss fallen. Gleich darauf ertönt ein lauter Ausruf der Empörung von Mrs. Darley, die uns gerade noch belauscht hat, doch jetzt keinerlei Chance mehr dazu hat, weil ich mich mit aller Kraft gegen die Türe stemme.
„Faye..“, will Lana gerade sagen, als ich sie unterbreche.
„Ich bin nicht gefährlich!“, spreche ich ihren Gedanken aus und sehe sie flehend an, weil ich in ihren Augen die Angst genau erkennen kann.
Eine Angst, die gegen mich gerichtet ist! Und genau das will ich nicht! Das darf sie auf keinen Fall denken!
„Faye, das weiß ich doch!“, lügt sie und lächelt schwach.
„Können wir reden? Irgendwo..wo deine Mutter nicht ist?“, frage ich ungeduldig und sehe mich wie wild in dem riesigen Zimmer um.
„Äh..naja. Theoretisch könnten wir das schon, aber..!“, sagt sie und hievt sich aus dem Bett.
„Lana, Faye! Macht sofort die Tür auf!“, ruft ihre Mutter und klopft wie verrückt gegen die Türe, sodass es mir langsam immer schwerer fällt, dagegen anzukommen.
Genau in dem Moment erspähe ich das große, weit geöffnete Fenster. Es wäre nicht zu hoch, eigentlich müsste es sogar gehen! Lana muss meinen Blick wohl richtig gedeutet haben, denn sie schüttelt hektisch den Kopf.
„Los, komm!“, rufe ich, sprinte auf sie zu und zerre sie hinter mir her, auf das riesige Fensterbrett zu.
Laut schreiend setzen wir zum Sprung an, fallen und landen wie ein gut geschichteter Hamburger übereinander gestapelt auf dem grünen Rasen. Oder mit anderen Worten: Wir sind nicht auf den Füßen gelandet, aber hätten wir etwas anderes erwarten sollen?!
„Weiter!“, rufe ich und helfe ihr hastig auf die Füße, um sie im nächsten Moment schon wieder hinter mir herzuziehen.
„Lana, alles klar bei dir?“, frage ich Sekunden später besorgt und schaue sie schnell über die Schulter prüfend an, während wir noch immer wie die Verrückten davonrennen.
„J..ja!“, keucht sie, hustet und wirft einen kurzen Blick zurück in die Richtung ihres Hauses, wo ihre Mutter wutschnaubend an dem geöffneten Zimmerfenster steht und wie wild vor sich hin schimpft.
„Lana, Faye! Du kleine Hexe, bring mir sofort meine Tochter wieder hierher!“, schreit sie aufgebracht.
„Oh Gott!“, murmelt Lana und wird sofort wieder kreidebleich im Gesicht.
„Eine freiwillige Entführung, hm?“, sage ich zu ihr und lache, während ich versuche, sie dazu zu bringen, schneller zu rennen.
Ein schwaches Lächeln huscht über ihre Lippen und ich wende meinen Blick wieder auf den unebenen, kiesigen Feldweg vor uns, während ich nach einem geeigneten Fluchtweg Ausschau halte.
„Faye?“, höre ich Lanas erschöpfte Stimme hinter mir.
„Ja?“, rufe ich zurück.
„Weißt du überhaupt, wohin du willst?“, fragt sie, gerät dabei ins Stolpern und fällt polternd der Länge nach auf die harten Holzbretter der kleinen Brücke.
„Nein?“, sage ich, drehe mich zu ihr herum und sehe sie fragend an.
„Wieso müssen wir überhaupt wegrennen? Das kommt mir alles viel zu überdramatisiert vor!“, sagt sie und rappelt sich wieder auf.
„ Du hast ja wirklich kein gutes Gedächtnis! Außerdem hatte ich schon immer einen Hang zur Dramatik!“, sage ich und verschränke grinsend die Arme.
„ Ich hätte echt gedacht, meine Mum würde uns verfolgen, oder wenigstens...was?! Gedächtnis, was willst du damit denn sagen?“, fragt Lana auf einmal und sieht mich verwirrt an.
„Ich darf dir nur einen kleinen Teil davon erklären, aber könnten wir zuerst ein Stück weiter aus dem Dorf gehen?“, sage ich und deute mit dem Finger in Richtung Wald.
Vorsichtig ziehe ich die Kalimba aus der Seitentasche meines Kleides hervor und gehe voraus. Lana folgt mir wortlos.
Minutenlang ist das Einzige, was die Stille der Natur unterbricht der Klang meines Kalimbaspiels, zuerst nur leise, dann zunehmend lauter und irgendwann fange ich an mit der Melodie im Takt zu hüpfen.
„Was spielst du da eigentlich?“, fragt Lana auf einmal und beäugt neugierig das kleine Instrument in meiner Hand.
„ Ich hab noch keinen Namen für die Melodie.“, sage ich nachdenklich und klopfe gegen das Holz.
„ So war das nicht gemeint. Ich wollte wissen, was das für ein-Instrument ist.“, sagt Lana und lacht.
„ Achso.“, sage ich.
„ Also?“, fragt sie.
„ Das ist eine Kalimba!“, sage ich und grinse vor mich hin.
„Erinnert ein bisschen an eine afrikanische Melodie. Das Ding sieht gar nicht so aus, als könnte man richtige Melodien darauf spielen!“, sagt Lana nachdenklich und greift nach einem der vielen herunterbaumelnden Trauerweidenäste, die sie im vorbeigehen streifen.
„ Das ist in vielen Dingen so, meistens sieht man ganz am Anfang nicht die unzähligen Möglichkeiten, die man hat!“, sage ich und versuche, die Melodie schneller zu spielen.
„ Von wem hast du sie bekommen?“, fragt sie plötzlich wie aus heiterem Himmel.
Meine Schritte werden zunehmend langsamer.
„Was?!“, frage ich mit leiser Stimme und bleibe ruckartig stehen.
„ Naja, ich meine..du hast sie doch bestimmt von irgendjemandem geschenkt bekommen, oder? Oder hast du sie dir selbst ausgesucht?“, wiederholt sie gelassen.
„ Lana, wir sind doch Freunde, oder?“, frage ich vorsichtig und mit gesenktem Kopf.
„ Ja, klar – irgendwie sind wir das wohl. Wieso fragst du das auf einmal?“.
„ Weißt du, ich habe nicht sehr viele Freunde. Alle in meiner Klasse sind so..anderst!“.
„ Aber wir beide sind Freunde, nicht ? Auch wenn ich nicht immer alles verstehe, was du mir sagen willst.“, sagt sie mit aufmunternder Stimme.
Ich nicke stumm, meine Augen brennen noch immer.
„ Ich habe schon immer unheimlich gerne fangen gespielt!“, deute ich dann vorsichtig an, hebe den Kopf und blinzele sie an.
„ Faye..“.
„ Aber ich habe niemanden, mit dem ich es spielen könnte. Außer Mama natürlich!“, flüstere ich.
Eigentlich wollte ich diese Masche hier als Ablenkungsmanöver nutzen, aber nur damit sie mich nicht weinen sieht? Sie ist vierzehn, also was habe ich schon groß zu erwarten?
„ Dann lauf!“, höre ich auf einmal ihre Stimme ganz nah hinter mir.
Im nächsten Moment gibt sie mir einen kleinen Schubs und ich sehe überrascht zu ihr auf, mit Tränen in den Augen, aber diesmal nicht aus Traurigkeit, sondern aus Freude!
„Danke.“, sage ich, schlinge die Arme um ihre Beine, sodass sie leicht ins Wanken gerät und renne von einer auf die nächste Sekunde lachend davon.
Einen Augenblick später ist sie mir auch schon auf den Fersen, aber das ist mir im Moment sowas von egal. Ich habe dieses Spiel schon eine Ewigkeit nicht mehr gespielt!
Ich flitze davon, so schnell ich kann, vorbei an den riesigen, alten Trauerweiden und dem rauschenden Bach direkt neben uns.
„ Du kannst laufen, soviel du willst, gleich bin ich sowieso da!“, ruft Lana mir hinterher.
Sie kann sagen was sie will, oder rufen, aber an ihrer Stimme hört man deutlich, dass sie doch noch eine gute Strecke zurückliegt.
„ Danke für den Vortritt, Lana!“, rufe ich zurück und wische mir eine Locke aus dem Gesicht.
„ Achja, glaubst du das?“.
„Hab ich dich!“, ruft sie, als sie mich von hinten packt, sodass wir beide in hohem Bogen nach vorne kippen und wiedermal hinfallen.
„Autsch.“, murmele ich kichernd und reibe mir den Rücken.
„ Also, wie war das mit dem Vortritt?“, fragt Lana spöttisch und hilft mir währenddessen wieder auf die Beine.
„Okay, okay. Also wir sind schon fast da! Hier müsste es dann besser sein!“, sage ich munter.
Lana sieht sich um. Wir sind in einem kleinen Wäldchen angekommen, das ein wenig außerhalb des Dorfes liegt, idyllisch, schön und vor allem ruhig!
Wir gehen eine kleine Strecke weiter in den Wald hinein, bis wir bei einer kleinen Lichtung ankommen. Mitten in einem kleinen Halbkreis aus riesigen Tannen steht ein breiter, hoher Baumstumpf.
„ Okay, ich glaube hier können wir bleiben. Komm mit!“, sage ich, greife nach ihrer Hand und ziehe sie hinter mir her in Richtung des Baumstumpfes.
„ Gut. Und was genau wollen wir dann hier?“.
„ Halt. Bleibe einfach hier stehen, okay? Das hier ist jetzt fürs erste mein Spielplatz!“, sage ich zu Lana und bremse ruckartig ihre Schritte ab.
Erstaunt und etwas verunsichert sieht sie in meine Richtung, bis ich mich wegdrehe, mit langsamen Schritten auf den Baumstumpf zulaufe und mich schließlich in einer schnellen, flinken Bewegung darauf hieve.
„Egal was jetzt gleich sein wird, auch wenn es dir vielleicht Angst macht. Lauf jetzt nicht davon, - okay?“, ist der letzte Satz bevor ich ihr endgültig den Rücken zudrehe.
Diese Stille um mich herum wird langsam immer bedrückender. Ich weiß nicht, was genau ich hier soll, noch worauf sie eigentlich wartet und wenn ich ehrlich bin, ist mir das Ganze hier schon gar nicht mehr so geheuer!
„Faye, worauf..?“.
„Shht!“, unterbricht ihre Stimme meine Frage.
„Lana, du hast einen besonderen Wunsch, nicht? Du möchtest endlich verstehen, was es mit all dem hier auf sich hat, nicht?“, fragt sie schließlich.
Die Frage fällt so aus heiterem Himmel, dass sie mich erschrocken zusammenzucken lässt.
„Also, ähm - ich.“, stammele ich und bekomme dabei nicht einen einzigen vernünftigen Satz zustande.
„Sprich deinen Wunsch doch einfach aus. Ich meine, hast du etwas zu verlieren?“, fragt sie und ihre Stimme klingt dabei schon fast etwas unheimlich.
Schweigen.
„Lana!“, ertönt ihre Stimme wieder.
Ich weiß ehrlich nicht, was ich antworten soll. Ich komme mir vor, als wäre ich in eine Falle getappt, die augenblicklich zuschnappen wird, sobald ich ihr die Antwort gebe auf die sie gewartet hat. Sogar die Erde unter meinen Füßen fühlt sich an, als würde sie pulsieren, ständig im Takt, wie ein Herzschlag.
Es nervt mich richtig, dass ich mich ihr so ausgeliefert fühle! Dass ich nicht weiß, wie ich reagieren soll und sie sich ihrer Worte immer so sicher ist, als hätte man ihr ein Drehbuch gegeben!
„Möglicherweise hast du ja Recht!“, gebe ich zu.
„Ich verstehe leider nicht, was du mir damit sagen willst, Lana!“.
„Was?! Aber du..!“, sage ich fassungslos, stoppe aber mitten im Satz.
Wenn sie so weiter macht, schafft sie es wirklich noch, bei mir alle Sicherungen durchbrennen zu lassen! Was sollen diese blöden Spielchen?
„Gut, wenn du es unbedingt wissen willst: Ja, verdammt! Ihr benehmt euch alle total komisch, erst Mum, dann Dad auch noch und weißt du was? Du verhälst dich genauso, wie sie alle, wenn nicht sogar alles von DIR ausgegangen ist! Und ja, ich WILL wissen, was los ist -unzwar sofort!“, schreie ich wie eine Irre in den Wald.
„Danke, das war alles was ich hören wollte!“, ist alles, was ich daraufhin von ihr zu hören bekomme.
Just in dem Moment verändert sich die ganze Umgebung um uns herum. Es ist, als ob die Sonne gerade in diesem Moment aufgehen würde und ihre unzähligen goldenen Strahlen durch jede noch so kleine Lücke der Lichtung wirft. Durch die Baumkronen und die Äste der Bäume, vorbei an jedem einzelnen Stein.
„Das war geplant, hab ich Recht?“, frage ich verblüfft und richte meinen Blick zurück auf Faye, die noch immer völlig unbewegt dasteht.
Sie steht direkt vor der Sonne und es scheint sie keineswegs zu blenden.
„Was meinst du? Achja, geplant! Nun, möglicherweise war es das.“, sagt Faye schließlich und dreht sich langsam zu mir um, während ich aus dem Staunen nicht mehr herauskomme.
In dem Moment als sie sich zu mir umdreht scheint sich das gesamte goldene Licht der Sonne in ihrem Körper zu bündeln, der wiederum die ganzen Sonnenstrahlen so auf die Lichtung wirft, dass es aussieht, als würden sie tanzen.
Und das alles soll nur von Faye ausgehen?
Und warum..sehen ihre Augen aus, als hätte man flüssiges Gold in das sonst so tiefe, beruhigende Blau gegossen?
„Faye,..wie..machst du das?“, frage ich ungläubig.
Dieses Mädchen – kann doch gar nicht normal sein?!
„Ich spiele. Mit der Sonne, siehst du das nicht?“, fragt sie und schenkt mir ein warmes, freundliches Lächeln.
„Du spielst - mit der Sonne?! Wie muss ich das verstehen?“, frage ich und schüttele dabei fassungslos den Kopf.
„Nun, sie hat sich schlicht und einfach dazu bereiterklärt, mitzuspielen. Und du auch, Lana. Unser Spiel kann beginnen! Du hast gerade eben den Startschuss gegeben!“, sagt sie und zwinkert mir zu.
„Was für ein Spiel?“.
„Lana, deine Eltern haben dich angelogen, schon die ganze Zeit. Das Leben ist nicht so normal, wie ihr es manchmal gerne hättet!“, beginnt sie endlich zu erzählen.
Auf einmal kommt mir das helle Licht um mich herum gar nicht mehr so warm und wohlbehütend vor, es hat irgendetwas Falsches an sich.
„Was willst du damit sagen, sie hätten mich angelogen? Das haben sie bisher noch nie getan!“, versuche ich meine Eltern zu verteidigen.
„Oh doch, das haben sie. Aber nur weil sie dachten, es sei zu deinem Besten, Lana!“.
„Was ist zu meinem Besten?“.
„Eigentlich ist es schon ziemlich erstaunlich dass du dich selbst in meiner Gegenwart nicht an sie erinnern kannst!“.
„Wie..?“, frage ich verwirrt und sehe mir Faye von weitem noch etwas genauer an.
„Sie haben dich dazu gebracht, einen Menschen der dir überaus wichtig war, in deinen Gedanken in Vergessenheit geraten zu lassen!“, sagt Faye gelassen.
„Oh.“, ist alles, was ich herausbekomme, weil ein Teil von mir genau weiß, dass sie recht hat.
Aber eben nur ein Teil. Das Ganze bekomme ich einfach nicht zu fassen!
„Ich denke, ich weiß was du meinst, Faye!“, murmele ich leise vor mich hin.
Sie muss ein ziemlich gutes Gehör haben, denn ein leichtes schmerzverzerrtes Lächeln huscht ihr über die Lippen.
„Ja, das ist mir klar. Lana, du weißt genauso sehr wie ich, dass diese Person es wieder ganz leicht schaffen kann, den Weg zurück in dein Herz zu finden. Versperre ihn ihr nicht, okay? Sie hat es nicht verdient, vergessen zu werden, sie braucht dich!“, sagt sie.
„Ich habe meinen Teil für jetzt erfüllt. Vorerst! Weißt du Lana, meine Aufgabe war es, dich langsam wieder erinnern zu lassen und ich bin mir sicher, dass du das auch getan hast! Auch wenn es dir im Moment noch nicht ganz bewusst ist!“, beantwortet sie einen kleinen Teil des großen Fragengewirrs in meinem Kopf.
Für ein paar Sekunden schaut sie hinter sich in Richtung Himmel. Beinahe sieht es so aus, als hätte sie Angst vor irgendetwas, das da oben lauert!
„Die Frage, inwiefern du ein..normaler Mensch bist, kann ich mir eigentlich so gut wie sparen, richtig?“, frage ich und lasse mir ein nervöses Lachen entschlüpfen.
„ Ein fast richtiger Mensch. Wer weiß, vielleicht bekomme ich irgendwann die andere Hälfte des Lebens zurück, ich bin nämlich nur ein zweites Leben der Person, die dir fehlt!“.
„Faye..!“, ist alles, was ich dazu noch sagen kann.
Ich würde sie in dem Moment wirklich zu gerne einfach in den Arm nehmen. Und ich kann es auch nicht besser sagen, aber..sie sieht irgendwie so schwach aus, als würde sie jeden Moment zusammenbrechen.
„Sie wird dir schon sehr bald über den Weg laufen, versucht euch einfach wieder genauso anzufreunden wie früher, okay?“, versucht Faye mir zu erklären.
„Das ist alles?“, frage ich skeptisch.
„Das ist alles!“, murmelt sie und schließt die Augen.
„Faye, ist alles okay bei dir?“, frage ich unsicher und sehe, genau wie sie vorhin, in Richtung Himmel.
Abweichend dreht sie den Kopf zur Seite. Auf einmal ertönt ein lautes Zischen, etwas kommt von oben auf uns zugeflogen, dann wird alles um mich herum so hell, dass ich nichts mehr erkennen kann. Im nächsten Moment fällt ein lauter Schrei.
Faye!
„Faye?!“, rufe ich und versuche, sie in dem Lichtnebel zu ertasten.
Noch im selben Moment verschwindet das Licht und ich sehe sie vor mir stehen, mit dem winzigen Unterschied, dass ihr Gesicht schmerzverzerrt ist und der leuchtende Schein um sie herum langsam nachgibt.
Ihre Hände sind zu Fäusten geballt und sie schwankt leicht, dann kippt sie nach vorne weg. Ich schaffe es gerade noch so, sie aufzufangen.
„Hey, was ist los, Faye? Was ist das gerade passiert, sag es mir!“, sage ich, lege ihren Kopf auf meine Knie und streiche ihr die dunklen Locken aus dem Gesicht.
„Es hat begonnen, Lana. Jetzt können wir nicht mehr zurück!“, flüstert sie schwach und atmet hörbar ein und aus.
„Die Normalität wird sich für diesen Sommer in den Hintergrund drängen, das heißt aber nicht, dass alles schlecht sein wird!“, murmelt sie und versucht zu lächeln, doch es gelingt ihr nicht.
„Was war das gerade, warum hast du so geschrien? Tut dir irgendwas weh, Faye? Sei bitte ehrlich!“.
„Es hat sich angefühlt, als würde ein riesiger brennender Stachel meinen Körper durchdringen.“, sagt sie mit erstickter Stimme.
„Komm, ich bringe dich jetzt nach Hause! Ruh dich aus, oder nein, geh besser erst mit deiner Mutter zu einem Arzt, okay? Sag einfach, wo dir was wehtut, aber das hier erwähnst du besser nicht!“, schlage ich vor und hebe sie auf meinen Rücken.
„So eine vertraute Situation.“, kommt ihr Geflüster von hinten.
„Ja, da hast du allerdings Recht!“, sage ich und kann ein kleines Lächeln nicht unterdrücken.
„Faye, wie geht´s dir?“, frage ich, als wir schließlich vor ihrer Haustüre stehen, und sehe über meine Schulter zu ihr hoch.
„Besser!“, murmelt sie und fängt an, an meinen Haaren herumzuspielen.
Schon seltsam, dieses Mädchen. Zuerst benimmt sie sich gar nicht ihrem Alter entsprechend und dann fällt sie ganz plötzlich zurück in die Rolle einer verspielten Siebenjährigen.
Ich klopfe an die Türe, warte einige Sekunden und schließlich öffnet uns eine ziemlich junge Frau, die vielleicht gerade mal 36 Jahre alt ist ,die Tür.
„Hallo. Du musst Lana Darley sein, von nebenan, stimmt’s?“, fragt sie freundlich.
„Ja, Guten Tag Mrs. Sailey. Freut mich, auch mal ihre Bekanntschaft machen zu dürfen.“, sage ich höflich.
„Mama..“.
„Achso, ja. Also ich wollte eigentlich Faye nach Hause bringen, es scheint ihr wohl nicht so gut zu gehen. Sie ist vorhin..äh..umgekippt! Ich glaube, es ist am Besten, sie gehen vorsichtshalber mal mit ihr zum Arzt!“, erkläre ich und hebe Faye vorsichtig von meinem Rücken.
„Was, wieso?! Faye, was ist los?“, fragt diese und mustert sie besorgt.
„Ich hoffe wirklich es geht ihr bald wieder besser.“, sage ich traurig und sehe in Faye´s Gesicht, das sich mir völlig ausdruckslos präsentiert.
„Vielen Dank, dass du sie hergebracht hast, Lana! Du bist ihr wirklich eine gute Freundin!“, sagt Mrs. Sailey und nickt mir dankbar zu.
„Naja, also..ich gehe dann jetzt besser mal nach Hause. Bis dann, Faye und erhol dich wieder, ja?“, sage ich und versuche zu lächeln.
„Auf Wiedersehen, Lana und danke nochmal.“, verabschiedet sich ihre Mutter eilig und verschwindet dann mit Faye im Haus.
„Lana, wo kommst du bitte her? Weißt du eigentlich, was ich mir für Sorgen gemacht habe?!“, ist die erste freundliche Begrüßung, die mir Mum an den Kopf schmeißt, als ich die Haustüre hinter mir zudonnere.
„Du kannst mir nicht verbieten, mich mit Faye zu treffen.“, sage ich und sehe sie wütend an.
Ich frage mich wirklich, wie es ihr gerade geht, und was das vorhin im Wald war. Was, wenn wir es nicht ernst genug nehmen, wenn es irgendetwas Schlimmes ist?
„Sie wollte doch nur einmal ganz in Ruhe mit mir reden, Mum! Mach dir nicht immer so viel Sorgen!“, sage ich.
„So wie ihr Beiden geflüchtet seid, soll ich mir keine Sorgen machen?“, sagt sie empört, fast verblüfft.
„Genau so ist es!“, murmele ich und gehe die Treppe hoch in mein Zimmer.
„Lana?“.
Unruhig schaue ich mich im Zimmer um. Hatte ich für heute denn nicht schon genug Trubel?
„Diese Stimme, warte, das ist..Faye? Bist du das?“, frage ich und lasse den Blick erneut durch alle Ecken im Raum schweifen, bis ich schließlich entdecke, dass die Luft vor meinen Augen zu flimmern scheint.
„Hey.“, begrüßt sie mich schüchtern und die Flimmerteilchen in der Luft fügen sich zu ihrem gesamten Erscheinungsbild zusammen.
„Du siehst aus, als wärst du hergebeamt worden. Was machst du hier?“, frage ich erschöpft und schließe die Augen.
„Ich habe herausgefunden, was das von vorhin war! Naja.. falls dich das interessiert.“, erklingt ihre Stimme und etwas Helles zwingt mich dazu, die Augen wieder zu öffnen.
Mit fragendem Blick hält sie mir einen schimmernden, spitzen Gegenstand entgegen.
„Was ist das?“, frage ich und greife danach, um es mir etwas genauer ansehen zu können.
Faye zuckt sichtlich verwirrt mit den Schultern.
„Tja, wenn ich das wüsste! Am Anfang hat es mich irgendwie an einen..kleinen Teil eines Sterns erinnert, naja..aber. Ich weiß auch nicht!“, sagt sie und schaut betreten zu Boden.
„Wie hast du das..ich meine, es - ist das nicht durch deinen Körper gegangen? Wie hast du das da rausbekommen?“, frage ich verblüfft und streiche vorsichtig über die fast abgebrochene Spitze.
„Es kam von ganz alleine. Ich bin gerade in mein Zimmer hoch, um etwas zu schlafen, aber etwas hat ständig gebrannt und gestochen und dann hat das plötzlich direkt über meinem Körper geschwebt!“, erklärt sie und zeigt auf den leuchtenden Splitter in meiner Hand.
„Verstehe!“, murmle ich nachdenklich und mustere das Ding in meiner Hand noch etwas genauer.
Inzwischen wundert mich gar nichts mehr, ehrlich! Es ist schon so viel Merkwürdiges passiert, dass das hier fast wieder normal erscheint.
„Das heißt, jetzt geht es dir wieder gut?“, frage ich.
Sie nickt und lächelt.
„Mir geht´s einmalig!“, bestätigt sie munter.
„Freut mich zu hören. Ich hab mir schon Sorgen gemacht, es könnte etwas Schlimmes sein!“, gebe ich zu.
„Vielleicht..“.
„Vielleicht was? Was ist los?“, frage ich neugierig.
„Vielleicht könnte ich dir die Person zeigen, von der ich dir vorhin erzählt habe. Lass mich mal etwas versuchen!“, stammelt sie nervös und schließt die Augen.
Im nächsten Moment beginnt das Bild von Faye wieder zu flackern, es sieht aus, als ob sie in einem rasenden Tempo Jahr um Jahr verstreichen lässt. Ihr Körper steigt in die Höhe, alles scheint vor meinen Augen zu verschwimmen, dann, als sie die Augen schließlich wieder öffnet, steht eine völlig andere Person vor mir.
Das Mädchen aus meinem Traum!
Aber wie macht sie das?!
Dann scheint alles wieder rückwärts zu laufen, Jahr um Jahr sinkt das Bild zurück in die Gestalt eines kleinen, siebenjährigen Mädchens.
„Puh!“, macht Faye erschöpft und lässt sich auf den weichen Flokatiteppich fallen.
„Lana?! Also,..ich gehe dann lieber mal wieder nach Hause, bevor meine Mutter merkt, dass ich weg bin!“, sagt Faye, richtet sich wieder auf und winkt mir noch ein letztes Mal zu, bevor ihre Gestalt völlig verblasst.
„Was ist jetzt eigentlich mit dem Sternsplitter hier?“, murmele ich gedankenverloren vor mich hin, als ich wieder aus meiner Starre aufgewacht bin und wiege das Teil in meiner Hand hin und her.
Als hätte sie es gehört, verblasst auch der Splitter innerhalb weniger Sekunden in meiner Hand.
Dieses Mädchen vergisst aber auch wirklich gar nichts!
„Lana, Lana, wach auf! Wach AUF, komm schon!“.
„Mmh,..Faye,..wie kommst du denn schon wieder in mein Zimmer?“, murmele ich noch ganz verschlafen und reibe mir die Augen.
Gott sei Dank hat sie endlich aufgehört, meinen Körper durchzuschütteln, wie einen Milchshake! Ich hatte schon gedacht, dass dieses Herumrütteln wieder zu einem meiner Alpträume gehört.
„Was ist denn schon wieder los?“, frage ich und richte mich auf.
Kann ich denn nicht wenigstens mal eine Nacht ganz normal durchschlafen, ohne daran denken zu müssen, was mich am nächsten Tag erwarten könnte? Ohne mir um irgendwas Sorgen machen zu müssen?
„Gut, dann können wir jetzt anfangen! Fühlst du dich bereit, Lana?“, fragt Faye munter und zieht im nächsten Moment ein Spielbrett unter meinem Bett hervor, um es „sanft“ auf meine Bettdecke zu knallen.
Ein Spielbrett?! Das ist jetzt nicht ihr Ernst!
„Wozu denn bereit fühlen..und womit anfangen?“, frage ich, doch als ich einen zweiten Blick auf das Spielbrett werfe, wird es mir schlagartig klar.
„Mit dem Spiel natürlich!“, antwortet Faye fröhlich, knallt eine kleine blaue Spielfigur auf das Brett, sodass ich erschrocken zusammenzucke und fängt an, wie wild ein Würfelpaar in ihren geschlossenen Händen durchzuschütteln.
Die Bilder der vergangenen Tage schießen mir wieder durch den Kopf.
Faye wie sie kraftlos am Boden liegt und von einem leuchtenden, flimmernden Schein eingehüllt ist, die Szene im Thermalbad unter Wasser, dieses Mädchen, die Diamanten, die blutbefleckten Splitter.
Voller Abscheu schüttele ich den Kopf. Ich sollte versuchen, mich aus dieser ganzen Sache rauszuhalten, es ist nicht normal, es ist verwirrend, es ist - irgendwie beängstigend!
„Was,..wenn ich meine Teilnahme zurückziehe? Wenn ich nicht mehr mitspielen will!“, sage ich schroff und ziehe ihr das Spielbrett weg.
Toll ,dass mir das erst jetzt einfällt! Ich halte mich ganz einfach raus aus allem!
„Gar nichts wirst du zurückziehen, Lana Darley! Du wolltest doch die Wahrheit wissen, es ist nicht mehr abzuwenden. Von diesem Moment an,..bist du gezwungen, mitzuspielen!“, zischt Faye in einem Ton, den ich ihr gar nicht zugetraut hätte und schmeißt das Spielbrett gegen die Wand.
Fassungslos starre ich sie an und fange mich im nächsten Moment schon wieder. Entschlossen schüttele ich den Kopf.
„Nein, auch wenn ich dich noch so gerne mag,..ich mach das nicht mehr mit!“, sage ich und schwinge mich aus dem Bett.
„Du kannst gar nichts machen, Lana! Gar nichts!“, ertönt Faye´s Stimme hinter mir.
„Faye..!“, will ich gerade anfangen und drehe mich nach ihr um, als ich in zwei glühende, grüne Augen schaue, die mich drohend anstarren.
„Oh mein Gott!“, murmele ich erschrocken und taumele rückwärts.
„Verstehst du jetzt, was ich meine? Sieh mich doch an, sehe ich etwa so aus,..als könnte ich mich dagegen wehren? Ich bin da auch miteingebunden, mich hat auch niemand gefragt ob ich das will!“, sagt sie mit einem verzweifelten Ton in ihrer Stimme.
Ihre grün glühenden Augen, die mir einen kalten Schauer über den Rücken jagen, beginnen heftig zu flackern.
Blau. Grün. Blau. Grün. Zögernd schaue ich von meiner Zimmerwand zu Faye.
„Okay!“, murmele ich schließlich, gehe langsam auf Faye zu, knie mich vor ihr auf den Boden und halten ihr zum Versprechen den kleinen Finger hin.
„Aber nur wegen dir!“, sage ich und versuche dabei nicht zu unsicher zu klingen.
Sie beißt sich auf die Lippe und schüttelt den Kopf.
„Danke.“, murmelt sie, lächelt mich aus ihren wild flackernden Augen an und umschließt meinen Finger mit ihrem.
„Wer bist du?“.
„Lustig, wieso fragst du mich das?“.
„Was stimmt nur nicht mit dir? Wieso bist du hier?“, frage ich, lege den Kopf schief und mustere misstrauisch das kleine Mädchen, das ein paar Meter entfernt vor mir steht und mich aus ihren blauen Augen anstrahlt.
„Ich wollte dich abholen kommen, naja, außer mir kann das ja auch keiner übernehmen, schließlich bin ich ein Teil von dir. Und das schon seit du hier bist!“, erklärt sie mit ruhiger Stimme und schaut sich dann doch etwas skeptisch um.
„Was redest du da?“, frage ich verwirrt, nähere mich ihr und gehe vor ihr in die Knie.
„Es ist ja wirklich verdammt trostlos hier! Ich meine, ich wusste dass der Ort an dem du dich befindest sehr einsam sein würde, aber so..! Und du machst nicht einmal den Anschein, als ob du schon längst den Verstand verloren hättest!“, murmelt sie und sieht mich mitleidig an.
Ich kann sie nur zu gut verstehen. Wäre sie nicht von diesem hellen Schimmer umgeben, würden wir einander nicht einmal ansehen können. Wir wären getaucht in vollkommene Dunkelheit, ohne Tag und Nacht. Würde sie nicht zu mir sprechen, würde hier eine Totenstille herrschen. Kurz gesagt wäre alles so wie es schon immer ist und das seit vielen, vielen Jahren!
„ Ach, das täuscht nur, weißt du? Ich habe nur einen äußerst ausgeprägten Kampfgeist und kann meine Gefühle auch mal im Zaum halten!“, sage ich und lächle ihr verschwörerisch zu.
„ Ach so ist das. Dann ist es ja gut, dass du nicht länger hier bleiben wirst! Außerdem war es ein Versprechen zwischen euch, oder? Also wie wäre es, wenn wir jetzt gehen und es einlösen? Lana wird sich freuen, dich wieder zu sehen, da bin ich mir sicher!“, sagt sie munter und streckt mir ihre Hand entgegen.
„Lana!? Du kennst sie? Wie geht es ihr, ist sie okay, hat sie irgendwelche Verletzungen abbekommen von den Diamantensplittern?“, frage ich aufgeregt und besorgt zugleich.
Das Mädchen sieht mich nur völlig überrascht an und schüttelt den Kopf.
„Nein! Ich weiß zwar nicht, von welchen Verletzungen du redest, aber ich glaube das Alles auf einmal ist doch etwas viel für sie! Sei vorsichtig mit ihren Eltern, besonders bei der Mutter! Ich habe sie leider schon ziemlich misstrauisch gemacht!“, antwortet sie und lächelt mich entschuldigend an.
„Na das klingt ja vielversprechend!“, sage ich und seufze.
„Das kann ich dir gerne noch bestätigen. Komm mal mit!“, sagt sie und winkt mich hinter sich her in eine bestimmte Richtung.
Wir gehen nur ein paar Meter weiter, bis sie schließlich stehen bleibt und mich mit fragendem Blick mustert.
„Und jetzt? Hier ist doch nichts!“, sage ich verwundert, als sie nur einmal kurz mit den Fingern schnipst und vor uns plötzlich ein riesiger Pool auftaucht mit unnatürlich blau-schimmerndem Wasser darin.
„Oh. Nein! Nein, nein! Der ist immer noch hier? Der war die ganze Zeit über noch da? Ich war die ganze Zeit über - an demselben Ort!“, stammele ich und stolpere ein paar Schritte zurück.
„Ich dachte mir, dass dir das hier nicht gefallen wird, aber genau das wird unser Ausgang sein, um von hier wegzukommen!“, sagt sie und deutet mit traurigem Blick auf den Pool.
Ich schüttele den Kopf und versuche meine zitternden Knie wieder unter Kontrolle zu bekommen.
„Nicht gefallen?! Das Ding ist der Grund dafür, dass ich hier bin! Es sieht vielleicht normal aus, aber das ist es rein gar nicht!“, schreie ich total aus der Fassung geraten.
„Das weiß ich!“, erwidert sie knapp und winkt mich wieder zu sich her.
Langsam gehe ich wieder zu ihr zurück und beuge mich vorsichtig über die Wasseroberfläche, genau wie sie es tut, nur mit fest zusammengekniffenen Augen, weil ich gar nicht erst sehen will, ob auch der Inhalt des Wassers immer noch derselbe ist!
„Du musst schon reinkucken, sonst wirst du nicht ganz verstehen können, was ich meine!“, ertönt die Stimme der Kleinen direkt neben mir und ich öffne nach langem Zögern schließlich doch die Augen.
Was ich dann sehe, macht mich im ersten Moment total sprachlos.
Ich sehe natürlich sie, klein, mit langen verspielten Locken und strahlenden blauen Augen. Aber direkt neben ihr ist noch eine Person! Um einiges älter, aber genau dieselben Locken, dieselben Gesichtszüge, wie eine exakte Kopie des Mädchens, nur mit grünen fassungslos dreinschauenden Augen, der durch die sanften Wellen des Wassers immer wieder verschwimmt.
Diese Person bin ich!
Schließlich wenden wir uns zeitgleich von der Wasseroberfläche ab und sehen einander stumm an. Sie lächelnd und ich ziemlich ungläubig.
„Jetzt verstehe ich das!“, murmele ich, als ich meine Stimme wieder finde.
„Also, können wir?“, fragt sie.
„Es war schließlich ein Versprechen, richtig? Außerdem will ich hier keinen Moment länger bleiben!“, sage ich leise und werfe nochmal einen kurzen Blick auf das Wasser.
Es schwimmen diesesmal keine Diamanten, Kristalle oder ähnliches darin herum. Vielleicht ist es dann sogar harmlos! Vielleicht.
„Machen wir´s einfach kurz, okay?“, sage ich, schließe die Augen und hole noch einmal tief Luft, als sie mir auf einmal etwas kleines Spitzes in die Hand drückt und mich mit einem kräftigen Stoß ins Wasser schubst, bevor ich überhaupt richtig begreifen kann, was sie da vorhat.
Ich schreie auf, bin jedoch im nächsten Moment schon von brennend heißem Wasser eingehüllt. In einer totalen Panikwelle kämpfe ich mich wieder zurück an die Oberfläche und schnappe wie verrückt nach Luft.
„Sag mal, bist du völlig übergeschnappt? So habe ich das nicht gemeint, als ich sagte, dass wir es kurz machen sollen!“, fahre ich das Mädchen an, als ich sie am Rand des Pools entdecke, wie sie mir fasziniert entgegengrinst.
„Warte erstmal ab. Du wirst staunen, was jetzt kommt!“, ruft sie mir zu, kniet vor den Beckenrand und taucht eine Hand vorsichtig ins Wasser.
„Was soll das? Was, - was machst du da?“, stammele ich, als das Wasser um mich herum Wellen zu schlagen beginnt, die immer heftiger werden.
„ Das!“, ruft sie zurück und reißt ihre Hand aus dem Wasser während sie sich mit ein paar schnellen Sätzen vom Wasser entfernt. Die Wellen um mich herum rauschen nach vorne und häufen sich zu einer riesigen Masse an, bis innerhalb von Sekunden eine meterhohe Welle vor mir türmt.
Unsicher schaue ich mich um, trotzdem, dass sich so viel Wasser gesammelt hat, ist das Becken nicht leerer geworden!
„ Bist du bereit zurückzugehen?“, dringt die Stimme des Mädchens auf einmal zu mir durch und ich schaue noch leicht benommen in ihre Richtung.
„ Ist gut. Mach einfach, ja?“, rufe ich zurück und ringe mir ein Lächeln ab, während ich beide Daumen als Zeichen in die Luft halte.
Ich habe bereits die Augen geschlossen, als sie mir noch etwas zuruft.
„Finja?“.
„Ja?“.
„Tut mir Leid!“.
„ Hey, weißt du was?“, rufe ich zurück.
Stille.
Ein erleichtertes Lächeln zieht sich über meine Lippen.
„Was?“, kommt es schließlich etwas zögernd von ihrer Seite.
„ Danke!“.
Dann ertönt ein lauter Aufschlag, ich werde nach hinten gerissen und das Nächste, was ich spüre, ist, wie die Wellen über meinen Körper schwappen und mir der kleine, spitze Gegenstand von gerade eben in die Handfläche piekt. Blitzschnell umfasse ich ihn, bevor er mir entwischen kann und ich von einem gewaltigen Sog zurück auf den Grund gezogen werde.
23.50.05Uhr
23.50.10Uhr
23.50.25Uhr.
Ich kann einfach nicht schlafen, obwohl meine Augen schon vor Müdigkeit brennen. Es ist zu warm und ich fühle mich einfach – total aufgekratzt! Zwar sind bereits drei Tage vergangen, seit ich Faye das letzte Mal gesehen habe, aber gegen meine Nervosität bin ich einfach nicht angekommen. Vielleicht wollte sie mir auch einfach nur ein bisschen Zeit geben, bevor alles losgeht?
„Ja, vielleicht. Vielleicht muss es so sein!“, flüstere ich leise vor mich hin.
Geschlagene fünf Minuten bleibe ich einfach so liegen, während die Stille der Nacht leise vor sich hinsurrt.
Vielleicht sollte ich einfach eine Weile das Fenster aufmachen, um die Hitze aus meinem Zimmer zu bekommen. Irgendwann muss ich ja wirklich mal in Ruhe schlafen können!
Ich klettere aus meinem Bett, doch nicht, ohne vorher noch einen weiteren Blick auf die Uhr zu werfen.
23.59.03 Uhr.
Kurz vor Mitternacht. Nur gut ,dass Sommerferien sind und ich morgen nirgendwo hinmuss.
„Aah! Tut das gut!“, seufze ich, als die kühle Nachtluft in mein Zimmer strömt und mir das Hitzegefühl von der Haut streicht.
Draußen beginnen nach und nach die Straßenlichter zu flackern und schon im nächsten Moment versinkt alles auf einen Schlag in purer Finsternis.
Komisch.
Mit erwartungsvollem Blick drehe ich mich nach meinem Radiowecker um und starre auf die Ziffern, deren rotes Licht mir unverändert entgegenstrahlt.
Er müsste doch schon längst auf 00.00 Uhr umschalten, - oder sind etwa schon die Batterien leer?
Wirklich alt ist er ja noch nicht, vielleicht gerade einmal ein viertel Jahr, er müsste also einwandfrei funktionieren!
„Na dann lass mich mal schauen, was bei dir los ist!“, sage ich und strecke gerade die Hand aus, um mich an meine Wecker-Reparatur machen, als von seiner Seite her ein schriller, lauter Piepton ertönt und er anfängt, total verrückt zu spielen.
Erschrocken ziehe ich meine Hand zurück und beobachte ungläubig die roten Ziffern, die sich in einem so rasanten Tempo rückwärts abspulen, dass meine Augen total überfordert sind.
Während das Alarmgeräusch immer lauter wird, nehme ich aus dem Augenwinkel einen hellen, blauen Schimmer hinter mir wahr und als ich mich wieder zum Fenster drehe, sehe ich zwischen den Bäumen etwas Funkelndes aus den Wolken in den See hinabstürzen.
Fast wie eine Sternschnuppe.
Der kleine Seeteil, den ich von meinem Fenster aus noch erkennen kann, wechselt auf einen Schlag in ein glühendes, übernatürliches Türkisblau, das seine Lichtschatten durch den ganzen Wald wirft, bis es auf mein Fenster - und damit mitten in mein Gesicht trifft!
„ W..was – war das?!“, stammele ich völlig überfordert und drehe mich von meinem Fenster wieder zu meinem Wecker um, der noch im selben Moment in seinem Klingeln erstarrt, als wäre nie etwas gewesen.
Ach so ist das also!
„Das scheint eine lange Nacht zu werden!“, murmele ich dann, seufze und tapse auf leisen Sohlen aus meinem Zimmer, durch den Flur zu Mum´s und Dad´s Schlafzimmer.
Mit einem leisen Knarren öffne ich die Türe, doch der Lichtstrahl der dabei mitten in ihre Gesichter trifft, scheint sie nicht zu wecken. Sie schlafen tief und fest.
„Na dann, - gute Nacht!“, flüstere ich etwas enttäuscht und winke ihnen lächelnd zu.
Irgendwie hätte ich jetzt doch zu gerne jemanden zum reden gehabt. Aber mit ihnen über die Dinge zu reden, die neuerdings passieren, ist wohl eher unmöglich. Eigentlich weiß ich das, auch wenn ich wünschte, dass es anders wäre.
„Gut, Faye – dann fangen wir eben an zu spielen!“, sage ich, nehme allen Mut zusammen und sammele meine Jacke, die Schuhe und die Taschenlampe, die unten neben der Haustüre hängt, zusammen.
Gute fünf Minuten später stehe ich „davonschleichfertig“ im Flur neben der Küche, die Hand völlig unbewegt auf der Türklinke.
Soll ich das wirklich machen?!
„Ja, du musst sogar. Also komm jetzt, ich erfriere hier draußen noch!“.
„Faye?! Was willst du denn mitten in der Nacht hier?“, wispere ich durch die noch immer geschlossene Haustüre.
„Dich begleiten, natürlich! Kommst du jetzt dann?“, kommt es von der anderen Seite.
„Geh nach Hause Faye, ich mach das besser allein!“, sage ich und seufze.
„Nein! Wenn was schiefgelaufen ist, dann hab ich es nicht mitbekommen!“, erwidert sie hartnäckig.
„Ja, aber was, wenn etwas schieflaufen wird? Ich will nicht, dass dir dabei irgendetwas passiert, also gehst du jetzt, vorher mach ich diese Tür nicht auf!“.
„Lana?“.
„Hm?.
„Ich muss dir da unbedingt was sagen!“.
„Und das wäre?“.
„Ich hab nämlich Hände!“.
Schweigen.
„Ich kann auch klingeln!“.
„Faye! Geh – zurück!“, erwidere ich in leicht ärgerlichem Ton.
„Der Zeigefinger ist an der Klingel! Jeeetzt – und..“.
Schon drücke ich die Klinke runter und sehe Faye entgegen, die mich siegessicher angrinst.
„Du bist echt unschlagbar!“, murmele ich und werfe ihr einen leicht verärgerten Blick zu.
Für einen kurzen Moment scheint sie zu überlegen, dann sieht sie unsicher an mir hoch, entdeckt die Taschenlampe in meiner Hand und öffnet schon den Mund.
„Und die funktioniert, oder?“, fragt sie schließlich und sieht mich aus unsicher blau flackernden Augen an.
„Ja, die funktioniert einwandfrei. Also dann – los geht’s!“, sage ich und ziehe Faye hinter mir her auf den düsteren Feldweg Richtung Wald.
„Wie gut, dass du weißt wo wir lang müssen!“, kommt es ein paar Minuten später von Faye.
„Ja. Wobei ich weniger davon begeistert bin, mitten in der Nacht hierher zu müssen!“, sage ich und stelle das Licht meiner Taschenlampe eine Spur heller ein.
Faye lacht.
„Tja, das Leuchten von vorhin hätten wir jetzt echt gut gebrauchen können. Schade, dass es nur so kurz war!“, sagt sie.
„Du hast es gesehen?“, frage ich erstaunt.
„Natürlich, sonst wäre ich doch jetzt nicht mit dir unterwegs! Wie gesagt, ich muss schauen, ob alles gut geht. Hin und wieder zumindest!“, erklärt sie seelenruhig.
„Das ist alles so verrückt!“, murmele ich und hefte meinen Blick auf das kleine Wäldchen, das sich uns mit jedem Schritt nähert.
„Warte mal!“.
„Lana? Lana, halt mal kurz!“.
„Wieso denn? Was hast du?“, frage ich mit angespannter Stimme und werde schon im nächsten Moment von ihr abgebremst.
„Faye, was – ist – los?“, knurre ich völlig aufgekratzt vor Angst und Nervosität, während sie in die Knie geht und mit kritischem Blick nach vorne stiert.
„Faye. Ist..alles klar?“, frage ich unsicher und versuche vergeblich ihren Blick zu deuten.
„Da vorne ist etwas.“, murmelt sie schließlich und kramt einen seltsam aussehenden Anhänger aus ihrem Cape hervor.
„Was?! Was,..wen hast du gesehen?“, frage ich und sehe besorgt zu ihr hinunter.
„Lana?“, flüstert sie wieder.
Diesmal leiser.
„Ja?“, frage ich mit erstickter Stimme zurück.
„Ich glaube wir sollten uns beeilen!“, antwortet sie und sieht ebenfalls zu mir hoch.
Ihre Augen glühen in einem gefährlichen Grünton, den ich schon einmal bei ihr gesehen habe. Allerdings dachte ich damals noch, es wäre Einbildung gewesen!
Oder ich hatte einfach versucht, mir das einzubilden!
„Beeilen?!“, murmele ich leise vor mich hin und schließe nur für einen kurzen Moment die Augen, als ich Faye neben mir überrascht aufschreien höre.
Erschrocken reiße ich die Augen auf und sehe Faye´s entsetztes Gesicht, das auf ihren ebenfalls aufleuchtenden Anhänger gerichtet ist, der ihren Körper ein winziges Stück weit über den Boden hebt.
Faye wirft mir einen schnellen, panischen Blick zu und wird in sekundenschnelle mit einem gewaltigen Ruck laut schreiend nach vorne geschleudert.
„Faye! Verdammt, nein! Nein, nein! Faye!“.
Sie ist wie vom Erdboden verschluckt. Mitten in der totalen Finsternis. Im Wald. Allein. Und sie kennt sich hier ja noch nicht mal wirklich aus!
Wie eine Verrückte rase ich in Richtung Wald. In einer Mischung aus Adrenalin, purer Panik und Besorgnis schwenke ich das Licht meiner Taschenlampe nach allen Richtungen aus.
Jeder kleinste Zweig der unter meinen Schuhen knackt jagt mir einen Schauer über den Rücken, nur von Faye ist nicht die Spur zu sehen!
„Faye! Faye. Faye?“, schreie ich ihren Namen in den Wald, doch alles was ich höre, ist meine eigene Stimme, die von den Bäumen zurückgeworfen wird.
Immer wieder beschleicht mich dieses Gefühl von irgendjemandem beobachtet zu werden. Ich darf auf keinen Fall stehen bleiben und – ich muss dabei noch irgendwie Faye finden!
Eine gefühlte Ewigkeit später ,( die wohl doch nur ein paar weitere Minuten waren) ,bremse ich ruckartig ab, um verzweifelt nach Luft zu schnappen.
„Faye?! Faye, hörst du mich?“, versuche ich es noch einmal, doch meine Beine zittern bereits so stark, dass sie unter mir zusammenbrechen und mich auf dem kalten Waldboden absetzen.
„Oh Man. Das läuft ja fantastisch!“, murmele ich mit zitternder Stimme, als im selben Moment auch noch meine Taschenlampe mit einem kurzen Aufflackern den Geist aufgibt.
„Und jetzt? Was mache ich jetzt?!“, überlege ich in Gedanken und schaue widerwillig nach vorne in die Dunkelheit.
Ich fühle mich dermaßen betäubt, dass ich für eine ganze Weile erst einmal gar nichts unternehme und einfach schweigend so sitzen bleibe, wie mich meine Beine zurückgelassen haben.
Faye. Dieses Leuchten. Wozu bin ich hier, wenn sowieso alles schief läuft?! Das kann so doch nicht weitergehen!
„Lana!“.
Langsam, ganz langsam hebe ich den Kopf und lasse meinen Blick nochmal nach vorne schweifen.
Ein Schwall bläulich schimmernder Luft rauscht auf mich zu und erhellt innerhalb von Sekunden die ganze Lichtung um mich herum. Gebannt von dem erstaunlichen, märchenhaften Anblick der aufglühenden Bäume und dem leisen Klingeln der silbernen Funken die um mich herumwirbeln, erhebe ich mich aus meiner Sitzstarre.
Die Luft ist in sekundenschnelle unglaublich eisig geworden und jeder meiner Atemzüge verwandelt sich in kleine weiße Wölkchen.
„Lana!“, höre ich die Stimme wieder.
Ohne groß darüber nachzudenken laufe ich weiter in Richtung Licht, schaue weder nach rechts noch nach links, einfach immer weiter – bis ich sie einige Meter vor mir sehe!
Völlig reglos, ohne die kleinste sichtbare Bewegung eines harten, schmerzenden Aufschlags liegt sie da, wie ein dunkler Fleck inmitten des hellen Lichts.
Selbst als ich direkt hinter ihr stehe wirkt sie wie gelähmt und scheint mich nicht zu bemerken, bis ich um sie herum laufe und mich neben sie ins Gras fallen lasse. Ihr Brustkorb hebt und senkt sich nur ganz leicht- und schon im nächsten Moment treffen sich unsere Blicke.
Ihr Gesicht ist ziemlich verdreckt, aber sonst kann ich nichts Schlimmeres entdecken.
„Das hätte ich ehrlichgesagt nicht von meinem Amulett gedacht. Dass es sowas macht.“, murmelt sie etwas enttäuscht und verzieht den Mund zu einem schiefen Lächeln.
Ich sehe sie nur fragend an, doch die einzige Antwort die ich bekomme ist ein fröhliches Zwinkern ihrerseits.
„Was gefällt dir besser, die Glimmerfunken oder das Licht, das vom Wasser abgestrahlt wird?“, fragt Faye.
„Ich weiß nicht. Mir gefällt beides!“, antworte ich etwas unsicher und fahre mit einer Hand durch einen der silbernen Funken, die in Scharen an uns vorbeischweben.
„Ist bei dir alles in Ordnung?“, frage ich schließlich.
„Warum fragst du?“.
Was für eine Frage. Dieses Mädchen ist einfach unglaublich!
„Weil du nur so daliegst.“, erwähne ich.
„Du brauchst dir keine Sorgen machen, mir tut nichts weh. Meine Beine sind auch okay, ich kann laufen, falls es das ist, was du meinst!“, antwortet sie gelassen.
„Gut. Dann habe ich noch eine andere Frage!“, sage ich und lege eine Hand auf ihren Rücken, nur um sicherzugehen, ob meine Vermutung richtig ist.
„Mhm?“, murmelt Faye und ein kleines Lockenbüschel fällt ihr ins Gesicht.
„Warum zitterst du so? Du kannst ehrlich zu mir sein, weißt du noch? Wir sind Freunde! Was geht dir durch den Kopf?“, frage ich und streiche ihr die Locken wieder aus dem Gesicht.
Ihre Augen verraten gar nichts, spiegeln nur das wider, was das Wasser ihnen entgegenwirft.
„Mir ist nur kalt. Dir nicht auch?“, sagt sie knapp und zupft eine Haarsträhne aus ihrem verwuschelten Nest.
„Dann komm her!“, sage ich und lächele leise vor mich hin.
Ein klein wenig dreht sie den Kopf in meine Richtung und mustert mich unsicher, dann rückt sie doch neben mich und lehnt seufzend den Kopf an meine Schulter.
„Hey, wir kommen da schon irgendwie durch. Mach dir keinen Kopf, auch wenn ausgerechnet ich das sage!“, versuche ich sie aufzumuntern.
„Okay?“, frage ich und versuche ihren Gesichtsausdruck zu deuten, als ich sie dabei erwische, wie sie immer wieder hastig ein paar aufkommende Tränen wegblinzelt.
Und dann – das erste Mal seid ich Faye begegnet bin, fängt sie an zu weinen, wie nach einer dreistündigen Prügel.
„Faye!? Hey, was ist los, was hast du denn?“, frage ich sanft und halte sie vorsichtig an den Schultern fest.
„Ich will nicht auch noch sterben!“, schluchzt sie und drückt sich näher an mich, während ihr kleiner Körper nur noch durchgeschüttelt wird.
„Faye – wovon redest du?“, frage ich erstaunt und versuche dabei, die Fassung zu behalten.
„Ich weiß nicht alles!“.
„Hm?“.
Jetzt bin ich total verwirrt!
„ Ich habe nur ein halbes Leben! Ich hab keine Ahnung, wie das alles ablaufen wird – aber wenn ich dieses zweite Leben wirklich brauche, - w..wenn irgendwas schief geht, dann…“.
„Dann was?“, frage ich und bin mir nicht sicher, ob ich die Antwort überhaupt hören will.
„Dann kann ich nichtmehr auf Mama aufpassen! Wer macht das dann?“, ruft sie mit zittriger Stimme und reißt den Kopf hoch, um mich direkt ansehen zu können.
„Oh, Faye, oh – nein! Ich werde dich mit allem beschützen, was ich habe! Dir – wird nichts passieren! Dafür sorge ich höchstpersönlich!“,sage ich und sehe sie dabei mit ernstem Blick an.
Ihre Augen flackern noch immer etwas unsicher.
„Hey, du bist stark, klug und hast einen lustigen, aber eigensinnigen Kopf! Wie sollst du verlieren können?“, sage ich und stupse ihr munter gegen die Stirn.
Für einen kurzen Moment versiegen ihre Schluchzer und sie sieht mich einfach nur erwartungsvoll an.
„Du bekommst dein zweites Leben!“, versichere ich ihr noch einmal in aller Seelenruhe.
„Wirklich?“, fragt sie und hält beide Hände schützend über den Kopf.
„Wirklich! Außerdem – du musst nicht alles, was dich beschäftigt für dich behalten, Faye! Du darfst mir alles erzählen, das ist wirklich nicht weiter schlimm!“.
„Okay.“, sagt sie, nickt mir lächelnd zu und wischt sich mit den Handrücken über die Augen.
Dann lacht sie erleichtert, holt einmal tief Luft und lässt sich mit einem lauten, freudigen Aufschrei zurück ins weiche Gras fallen.
„Ich nehme an, das heißt, dass du dich wieder besser fühlst?“, frage ich munter und sehe sie fragend an.
„Viel, viel, viel, viel, VIEL besser!“, antwortet Faye und breitet lachend die Arme aus.
„Aber – dann möchte ich dir nochmal was erzählen. Wenn wir doch Freunde sind, solltest du schließlich alles über mich wissen, oder?“, sagt sie auf einmal und richtet sich wieder auf.
Erwartungsvoll und auch etwas überrascht sehe ich zu ihr herüber. Ihre Augen funkeln nachdenklich, ruhig – aber nicht traurig.
„Und was wäre das?“, frage ich und lasse meinen Blick dabei über das sanfte türkisblaue Schimmern des Sees schweifen.
„Meine Mama lebt, ich auch – aber mein Papa ist gestorben! Darf ich dir die Geschichte erzählen, Lana? Ich möchte es nicht mit Mama besprechen, das macht sie nur traurig – und vielleicht würde sie sauer werden!“.
„Ich hab mir sowas ja leider schon gedacht, aber - warum sollte sie sauer werden?“, frage ich und schüttele ungläubig den Kopf.
„Weil es genau gesehen meine Schuld war!“, platzt es aus Faye raus.
Ich sehe sie fassungslos an, sie neigt den Kopf Richtung Sternenhimmel.
„Warum? Wie kommst du darauf, sowas zu sagen?!“.
„Es war an einem Spätsommertag..“, fängt sie an zu erzählen und schließt dabei lächelnd die Augen.
Ich wage es nicht etwas zu sagen, es scheint besser sein, sie einfach mal erzählen zu lassen.
„Erinnerst du dich noch an die Kalimba, die ich neulich dabei hatte?“.
„Ja, das kleine, klingende Kästchen!“, bemerke ich mit einem Lächeln.
Faye nickt und lehnt sich wieder, die Arme ausgebreitet, zurück ins Gras.
Ich folge ihrem Blick in Richtung Himmel wo unzählige von Sternen seelenruhig vor sich hin funkeln und stoße dabei direkt auf das Bild des kleinen Wagens.
„Das ist nicht der kleine Wagen. Das ist der Große!“, ertönt es von Faye’s Seite, die mich grinsend ansieht.
Schräg, dieses Mädchen. Wirklich schräg.
„Jedenfalls war ich gerade im Haus, als das Telefon klingelte. Es war Papa, der wie immer anrief, um bescheid zu geben, dass er bald zu Hause sein würde! Ich bin damals ganz aufgeregt gewesen, denn ich hatte gerade meine erste Kalimbamelodie fertig und hab ihm gesagt, dass er sie sich als Erster anhören müsste. Er hat sich riesig gefreut und ich war gerade dabei ihm zu sagen, dass ich dann Mama bescheid gebe, als – er auf einmal begann, ganz aufgeregt etwas in den Hörer zu schreien. Ich hab nach ihm gerufen, gefragt was los ist, aber ich hörte nur noch das laute Quietschen der Autoreifen und danach – einen Knall, der mich so erschreckte, dass mir der Hörer aus der Hand fiel!“.
Ich hole tief Luft, versuche zu realisieren, was Faye mir da gerade erzählt hat. Ein kalter Schauer jagt mir über den Rücken.
„Ich hab ihn schnell wieder aufgenommen, aber als ich ihn ans Ohr hielt, herrschte am anderen Ende der Leitung bereits eine Totenstille! Ich versuchte noch drei weitere Male, ihn zurückzurufen, doch das hat mir alles nichts gebracht, außer dass die Angst sich immer weiter in meinem Körper ausbreitete, wie Unkraut!“.
Ich beuge mich ein Stück weit über sie, als ich von ihrer Seite her ein schniefendes Geräusch wahrnehme und sehe, dass ihr die Tränen bereits übers Gesicht laufen – aber sie weint nicht, schluchzt nicht, verzieht das Gesicht nicht einmal – liegt einfach so da und starrt in den Himmel – oder in ihre Erinnerung.
„Faye, ich…mir tut das so Leid, ehrlich!“, murmele ich und sehe sie besorgt an.
„Dann – und heute bin ich mir sogar sicher, dass das ein Fehler war – habe ich mich in die Ecke gekauert, mit dem Rücken zur Wand, den Hörer mit beiden Händen fest umklammert, sodass ich mir in die eigenen Handflächen krallte. Mein Hals tat immer mehr weh, von den Tränen die ich runterzuschlucken versuchte, ich wollte weinen – aber wenn er nun etwas gesagt hätte, dann hätte mein Weinen ihn vielleicht übertönt. Ich wollte zu Mama rennen, wollte nach ihr rufen, aber selbst das wäre zu laut gewesen und ich durfte nicht einfach weggehen – und ihn im Stich lassen! Und so beschloss ich, sitzen zu bleiben, auf die Uhr zu starren und zu hoffen, dass Mama endlich zurück kam.“.
„Wieso – wo war sie zu der Zeit?“, frage ich und versuche, die Kälte, die erneut über meinen Körper kommt, abzuschütteln.
„Sie war eigentlich nur kurz im Garten, um Beeren zu holen. Aber die Zeit in der ich auf sie wartete, zog sich endlos dahin und so vergingen – fünfzehn Minuten, bis die Haustüre aufging und mich die Sonne mitten ins Gesicht traf. Mama hat nur dagestanden und mich ganz erstaunt angeschaut, als ich ihr stumm mit den Lippen zu deuten versuchte, was geschehen war. Als sie bemerkte, dass irgendwas nicht stimmte, kam sie mit schnellen Schritten auf mich zu und nahm mir den Hörer aus der Hand. Ich bin daraufhin sofort nach draußen gerannt, wollte weg, auf der einen Seite war ich unglaublich erleichtert, aber auf der Anderen..hab ich mich so schrecklich gefühlt, dass ich mich direkt vor meinem Lieblingsplatz- unserem Kirschbaum ins Gras fallen ließ und endlich angefangen hab, zu weinen!“.
„Das könnte von einem Drama im Fernsehen sein, aber doch nicht direkt aus deinem Leben!“, flüstere ich fassungslos und stütze mich mit beiden Händen auf dem Boden ab.
„Ja, nicht? Das habe ich auch gedacht!“, sagt Faye und dreht den Kopf in meine Richtung.
Ein paar Minuten lang sitzen, bzw. liegen wir einfach nur so da, keine von uns wagt es, etwas zu sagen. Jede versucht damit fertig zu werden, was sie gerade erzählt und gehört hat.
„Ich weiß, ich bin keine gute Trösterin, aber vielleicht wäre eine Umarmung nicht schlecht?“, schlage ich schließlich zögernd vor und spüre, wie mir die Röte ins Gesicht schießt.
Ich bin wirklich nicht gut in solchen Sachen!
Im nächsten Moment schwingt sich Faye hoch und kommt zu mir gerutscht, um ihr Gesicht in meiner Jacke zu vergraben.
Ich lege lächelnd den Arm um sie und streiche ihr beruhigend über den Rücken. Wenigstens in dieser Weise kann ich für sie da sein!
„Lana?“, höre ich nach ein paar Minuten ihr Gemurmel.
Langsam hebt sie den Kopf und blickt mich unsicher an.
„Ich glaube, wir sollten weitermachen!“, sagt sie dann und verzieht den Mund zu einem kleinen Lächeln.
Dann steht sie auf und läuft in langsamen Schritten Richtung Wasser. Eilig folge ich ihr, bis wir schließlich mit den Füßen gefährlich nahe am Wasser stehen.
„Ich gehe mal rein!“, sagt Faye dann und setzt einen Fuß ins Wasser.
Meine Augen weiten sich vor Schreck, als ich sehe, wie ihre Berührung das Wasser eine Spur heller verfärbt.
„Nein! Wir wissen doch gar nicht, was da drin ist, Faye – bitte! Bleib da!“, rufe ich und will sie gerade zurückziehen, als sie bereits den nächsten Fuß ins Wasser setzt.
„Warum musst du das machen?“, murmele ich und sehe ihr unruhig hinterher.
Ich schwanke noch immer bei dem Gedanken, ihr einfach hinterherzugehen und sie eigenständig wieder da heraus zu holen. Aber irgendwie habe ich auch das Gefühl, dass es nicht richtig wäre, das zu tun!
Faye steckt bereits bis zur Hüfte im Wasser, als sie stehen bleibt und nochmal einen Blick in Richtung Himmel wirft.
Was macht sie da bloß?
„Alles okay bei dir?“, rufe ich ihr zu, doch sie dreht sich nur kurz um, um mir zuzunicken.
Irgendwas stimmt da doch nicht!
Wieder vergehen Minuten der Stille und ich werde langsam immer angespannter, ich bin wirklich kurz davor, den Verstand zu verlieren!
Aber auf einmal passiert etwas völlig unerwartetes.
Faye hebt die Hände, hält sie sich an den Kopf, schaut noch einmal nach oben und dann auf einmal schreit sie los – und das so laut, dass ich beinahe vor Schreck nach hinten falle. Entsetzt sehe ich in ihre Richtung, als sie ihren Schrei dadurch erstickt, dass sie sich nach vorne ins Wasser beugt und sich selbst damit jegliche Luft abschneidet.
„Faye!?“, schreie ich und renne ohne Bedenken los.
Als ich sie erreicht habe, greife ich blitzschnell ins Wasser und ziehe sie zurück an die Oberfläche.
„Was denkst du, was du da machst?!“, schreie ich sie wütend an und spüre, wie ich am ganzen Körper zittere.
Erst jetzt bemerke ich, dass sie wieder zu weinen angefangen hat. Anscheinend hat sie das Ganze von gerade eben doch nicht so kalt gelassen, wie sie vorgegeben hat.
Plötzlich aber verstummt ihr Schluchzen und mit schreckgeweiteten Augen sieht sie nach vorne in die Mitte des Sees und als ich ihrem Blick folge, muss auch ich mit Entsetzen feststellen, dass sich das Wasser vor uns zu einer riesigen, schillernden Welle aufbäumt,- die zudem noch direkt auf uns zukommt.
Ich spüre, wie Faye sich an meine Seite drückt und nach meiner Hand greift.
„Wir müssen raus hier, komm!“, sage ich zu ihr und ziehe sie eilig hinter mir her Richtung Ufer.
Am Trockenen angekommen, habe ich noch immer ein ungutes Gefühl, Faye neben mir hat sich erschöpft ins Gras fallen lassen und als ich mich umdrehe, ragt eine Person, direkt aus der Mitte der bläulich strahlenden Welle vor uns, heraus.
„Oh mein Gott!“, flüstere ich erschrocken und stolpere einige Schritte rückwärts.
Das ist sie! Diese – Sternschnuppe von vorhin, war also wirklich das, was ich schon vermutet habe! Ich werfe einen schnellen Blick in Faye´s Richtung, die sich keuchend aufrichtet und in meine Richtung starrt.
„Was ist da?“, fragt sie.
„Faye, dreh dich jetzt bloß nicht um!“, sage ich zu ihr, was sie aber höchstwahrscheinlich sowieso nicht daran hindern wird, genau das zu tun.
Dann - ganz langsam sinkt die Welle in sich zusammen, schrumpft, bis das Mädchen, das in ihren Wassermassen gefangen ist, direkt vor meiner Nase hängt.
Am allerliebsten würde ich noch weiter von ihr wegrücken, doch meine Füße bewegen sich bereits nicht mehr, sie wissen wohl, was sie zu tun haben!
„Ach,wie schön! - da ist sie ja!“, höre ich Faye’s begeisterten Ausruf neben mir.
„Ich habe gerade leichte Schwierigkeiten damit, deine Freude zu teilen!“, erwidere ich und werfe ihr einen ungläubigen Blick zu.
„Es hat geklappt!“, sagt Faye und atmet erleichtert aus.
„Äh..geklappt?!“, frage ich und trete erschrocken zurück, als das Mädchen vor mir aus den Wassermassen herausgelöst wird und direkt vor mir ins Gras fällt.
„Lana!“, sagt Faye tadelnd, läuft zu dem Mädchen hin und geht vor ihr in die Knie.
„Glaubst du das ist einfach für mich? Das gerade war ja nicht wirklich normal!“, verteidige ich mich und mache langsame, zögernde Schritte auf die Beiden zu.
„Lebt sie?“, frage ich unsicher und strecke eine Hand nach ihr aus, als Faye anfängt zu lachen.
„Natürlich lebt sie!“.
„Also gut – ich würde sagen, wir schaffen sie dann mal von hier weg! So soll es ja schließlich sein, oder? Außerdem sind wir schon ziemlich lange von zu Hause weg, nicht dass es unseren Eltern noch auffällt!“, sage ich und hebe ihren Körper vorsichtig auf meinen Rücken.
Faye lächelt und folgt mir aufs Wort. In dem Moment, als wir uns vom Wasser wegdrehen, um zurückzugehen, erlischt auch das blaue Licht und die Glimmerfunken, die gerade eben noch an uns vorbeihuschten, zerspringen leise klingend in der Luft.
„Na super, das ist ja ganz toll!“, murmele ich und seufze.
„Jetzt ist das Licht weg.. wie finden wir zurück?“, höre ich Faye’s wispernde Stimme durch die Dunkelheit.
„Meine Taschenlampe ist vorhin ausgegangen, also – ich weiß nicht!“, sage ich und zucke hilflos mit den Schultern, wobei das Mädchen hinten fast von meinem Rücken rutscht.
Blitzschnell halte ich sie fest und versuche ihr Gesicht über meine Schulter hinweg zu erkennen, als ein lautes Zischen über unseren Köpfen ertönt. Faye neben mir zuckt erschrocken zusammen und ich sehe überrascht nach oben in den Nachthimmel, wo ein heller Schweif direkt über unseren Köpfen hinweg fliegt.
Eine Sternschnuppe?! Es wäre schon praktisch, wenn es diesmal eine ist, die uns einen Wunsch erfüllt und nicht irgendwie gefährlich ist!
„Hey! Kannst du uns Licht mitbringen? Wir finden sonst nicht nach Hause, die Taschenlampe ist kaputt!“.
Überrascht und gleichzeitig amüsiert über den Wunsch, den Faye der Sternschnuppe hinterhergerufen hat, fange ich an zu lachen.
„Was denn? Es kann ja nicht schaden!“.
Und sie soll sogar Recht behalten, denn schon Sekunden später hören wir dasselbe Zischen noch einmal, nur öfter – ungefähr sechs weitere Sternschnuppen fegen über uns hinweg und ziehen dabei eine helle Lichtspur hinter sich her, die den ganzen Himmel einfärbt.
„Hey, das war nicht schlecht!“, sage ich anerkennend, als ich Faye´s Jubelschrei neben mir höre.
Dann machen wir uns auf den Weg zurück, beide schweigend. Ich weiß zwar nicht, was Faye gerade im Kopf herumschwirrt, aber ich habe keine Ahnung was ich mit dem Mädchen auf meinem Rücken machen soll, wenn wir da sind! Einfach mit ins Haus nehmen kann ich sie nicht! Sie zu verstecken erscheint mir unmöglich und bei Faye kann sie ganz sicher nicht bleiben!
„Also dann, gute Nacht!“, verabschiedet sich Faye und reibt sich müde die Augen, als wir einige Zeit später vor ihrer Haustüre stehen.
„Ja..gute Nacht!“, murmele ich und sehe unsicher über meine Schulter.
„Und was sollen wir beide jetzt machen?“, frage ich sie in Gedanken als ich Faye´s Haustüre zufallen höre.
Als hätte sie meine Frage gehört, klappen ihre Augen auf wie bei einer Puppe.
Ein bedrohliches Giftgrün schimmert mir entgegen, sodass mir vor lauter Schreck der Atem wegbleibt.
Ich gerate ins Straucheln, lockere meinen Griff und lasse sie dadurch ungewollt von meinem Rücken fallen. Ich weiß, ich sollte ihr sofort wieder aufhelfen, aber ich bin immer noch so perplex, dass ich keinen Schritt setzen kann.
„Ich..!“, will ich gerade ansetzen, als etwas leise auf dem Asphalt aufschlägt .
Für einen kurzen Moment schweift ein helles, regenbogenfarbiges Licht über ihr Gesicht.
Ihr Blick begegnet meinem, wandert weiter in Richtung des kleinen Rosenstrauches neben ihr, bis er an dem Diamanten hängen bleibt, der mitten in dem Gestrüpp liegt.
Ich sehe, wie sich ihr Gesichtsausdruck verändert –, gerade noch mit müdem Blick, springt ein Ausdruck von Angst in ihre Augen.
„Ein Prisma! Du hast einen der Diamanten dabei?“, frage ich dann und gehe langsam in ihre Richtung, um nach dem kleinen Kristall zu greifen.
Ein Wimmern von ihrer Seite her ertönt. Augenblicklich ziehe ich meine Hand zurück und drehe mich nach ihr um.
„Was ist los, was hast du? Stimmt was nicht damit?“, frage ich, als es mir wieder einfällt.
Die Szene aus dem Thermalbad, die blutbefleckten Fließen, die Splitter – und wie sie von mir weggezogen wurde.
„Tut mir Leid!“, murmele ich und lächele sie entschuldigend an, als sie eine Hand hebt und auf den Strauch zeigt.
Ich schaue wieder zu dem Diamanten hinüber, zu ihr und dann wieder zum Diamanten.
„Das versteh ich jetzt nicht – soll ich..ihn dir geben?“, frage ich und schüttele dabei den Kopf.
Sie nickt und öffnet den Mund, um etwas zu sagen – doch es kommt nur ein seltsam fiepender Laut heraus, der uns beide ziemlich überrascht aussehen lässt.
Erschrocken hält sie sich die Hand vor den Mund, öffnet ihn, schließt ihn nach kurzem Zögern aber wieder und sieht schweigend zu mir.
Ich zucke nur hilflos mit den Schultern, greife nach dem Diamanten und reiche ihn ihr. Vorsichtig hebt sie ihn hoch und dreht ihn nach allen Seiten, als hinter ihr auf einmal ein grünes Licht aufflackert und ich einen erschrockenen Schrei ausstoße.
Augenblicklich schnellt ihr Kopf zu mir, sieht mich fragend an, doch ich bekomme meinen Blick nicht weg von der Gestalt, die sich da hinter ihr immer deutlicher zusammenformt.
Als sie merkt, dass ich ihr wohl nicht mehr antworten werde, dreht sie den Kopf in dieselbe Richtung, allerdings scheint sie dabei nicht ganz so sehr zu erschrecken wie ich!
Der Mann der hinter ihr steht sieht nicht gerade menschlich aus, aber unmenschlich auch nicht. Er hebt den Kopf und schaut auf das Haus in dem Faye und ihre Mutter wohnen, lächelt, hebt die Hand und winkt jemandem zu.
Ich sehe ihm hinterher, hinauf zu dem Fenster an dem eine kleine Gestalt im schwachen Licht einer Lampe steht und ebenfalls zu uns hinunter winkt.
„Faye?!“, flüstere ich erstaunt, als der Mann sich schon wieder uns zuwendet und mich mit forschendem, aber warmem Blick betrachtet.
Ich starre zurück, merke, dass irgendwas in meinem Kopf klingelt bei seinem Anblick.
„Lana Darley. Schön dich mal persönlich zu treffen!“, sagt er da aus heiterem Himmel und macht einen Schritt auf mich zu.
Zuerst schrecke ich noch zurück, dann fällt es mir plötzlich ein und ich erhebe mich ebenfalls mit einem unsicheren Lächeln.
„Mr. Sailey?“, sage ich und reiche ihm die Hand.
Er grinst, dieses typische Grinsen, das ich nur von Faye kenne – jetzt weiß ich zumindest, woher sie es hat.
„Ihr habt anscheinend ein kleines Problem hier, hm?“, fragt er dann und zeigt hinter sich.
Sie sieht ihn sichtlich neugierig an, richtet sich dann etwas schwankend auf und kommt in einem großen Bogen zu uns herüber gelaufen.
„Hallo.“, begrüßt er auch sie und hält ihr ebenfalls mit einem warmen Lächeln seine Hand hin, nach der sie aber nicht greifen will.
„Ich kann sie für heute Nacht erst einmal bei mir aufnehmen, wenn das okay für euch beide ist.“, schlägt er dann vor und sieht fragend zwischen uns hin und her.
Ich sehe zu ihr, unsicher darüber, ob ich sie einfach mit einem „Fremden“ mitgehen lassen kann, aber es könnte uns für diese Nacht auch gut aushelfen.
„Ich, - was denkst du?“, frage ich sie schließlich, weiß aber auch, dass ich keine Antwort von ihr erwarten kann.
Sekunden peinlicher Stille vergehen, bis sie mir einen scheuen, unsicheren Blick zuwirft, dann wieder zu Mr. Sailey sieht und langsam nickt.
„Es ist wirklich okay für dich?“, frage ich sie noch einmal und drücke dabei ihre Hand ganz leicht.
Sie lächelt, erwidert den Druck, bevor sie loslässt und sich mit einem Satz neben Mr. Sailey stellt.
„Und morgen kommt sie wieder?“, frage ich ihn noch einmal schnell, als der helle Schein wieder seinen Mantel um die Beiden schlägt.
„Ja, ich bringe sie dir zurück. Keine Sorge!“, lacht er.
„Okay, dann – danke, in diesem Fall! Wir sehen uns morgen?“, sage ich zum Abschied und sehe noch ein letztes Mal zu ihr, bevor ein Windstoß kommt und sie beide von der Bildfläche wegweht.
Ich seufze, sehe noch einmal zu dem Fenster, an dem Faye gestanden hat und mache mich dann ebenfalls auf den Weg zurück in mein Bett.
Das ist definitiv vielzuviel Stoff zum Nachdenken! Wenn ich daran denke, dass mein Leben innerhalb weniger Tage so auf dem Kopf steht.. mittlerweile ist es verdammt schwierig geworden, zwischen dem was „normal“ ist und was es nicht ist, zu unterscheiden.
Als ich mich zurück ins Haus schleiche, scheint alles normal zu sein.
Gott sei Dank haben Mum und Dad nicht bemerkt, dass ich weg war!
„Und jetzt zurück in mein Bettchen!“, wispere ich mir selbst zu, als ich bereits die Hand auf der Türklinke habe.
Statt ins Zimmer zu gehen, drehe ich mich aber wieder um, gehe die Treppenstufen im Zeitlupentempo hinunter und lasse mich in der dunklen Küche auf unsere Sitzbank plumpsen.
Wie wird es dann morgen ablaufen, muss ich mich auf irgendetwas gefasst machen, wird etwas Bestimmtes von mir erwartet?
Wimmernd lasse ich den Kopf auf die Tischkante sinken, als ich höre, wie von oben eine Tür aufgeht. Leise Schritte kommen die Treppe hinunter, die kleinen Lämpchen über mir flackern blitzartig auf und tauchen die Sitzecke in ein helles, warmes Licht als Mum in die Küche tritt.
„Lana? Was machst du um diese Uhrzeit in der Küche?“.
„Kann nicht schlafen.“.
„Warum denn nicht? Soll ich dir vielleicht einen Kakao machen?“.
„Das Alles wird so viel, ich kann meinen Kopf nicht ausschalten – aber Kakao klingt gut.“.
„Alles klar, dann mach ich das mal!“.
Im nächsten Moment ertönt schon das leise Klimpern der Tassen, ich höre wie sie Milch auf dem Herd aufsetzt und schiele vorsichtig in ihre Richtung.
„Ach Lana, mich beschäftigt das genauso sehr wie dich!“, seufzt sie dann und dreht sich mit der Kakaopulverpackung zu mir um.
„Was soll man machen!“, flüstere ich und zucke gleichgültig mit den Schultern.
Schweigend füllt sie unsere Tassen auf, bringt sie zum Tisch und stellt sie vorsichtig ab, damit sie nicht überschwappen.
„Im Moment weiß ich leider auch keine Lösung!“
„Das ist ja nicht so schlimm – es ist ja nicht direkt dein Problem!“, sage ich und lache verbittert.
Ich sollte ehrlichgesagt aufpassen, was und wie viel ich hier noch sage, aber im Moment – ich weiß nicht, ich bin einfach so furchtbar frustriert! Ich kann es nicht ausstehen, wenn mir eine Situation aus der Hand gleitet, absolut nicht!
„Ach Lanalein, das wird schon wieder, irgendwie! Du bist stärker als du glaubst, da kannst du mir absolut vertrauen, Schätzchen!“, flüstert sie wieder, steht auf und kramt etwas aus der obersten Schrankschublade, aus der wir eigentlich so gut wie nie irgendwas brauchen.
„Mum, was suchst du da?“, frage ich und reibe mir müde die Augen.
„Ach, eigentlich nichts Besonderes – ich habe demletzt beim Einkaufen so einen neuartigen Zucker entdeckt und dachte, ich probier ihn einfach mal aus!“.
„Achso.“.
„Ah, Moment! Da ist er ja, willst du ihn mal probieren und mir sagen, ob er erträglich ist?“, fragt sie und stellt kichernd ein kleines Fläschchen mit einem seltsam aussehenden Pulver auf den Tisch.
Eigentlich sieht es ganz nett aus, harmlos – wie Pulverschnee!
„Ja klar, warum nicht?“, murmele ich und greife nach dem Fläschchen.
Während ich mich daran mache, sorgsam ein bisschen von dem Schnee in meinen Kakao zu kippen setzt sich Mum mit einem kleinen Lächelnd im Gesicht wieder zu mir auf die Bank. Fast fühle ich mich ein bisschen beobachtet und als ich gerade den ersten Schluck nehme erhasche ich sie dabei, wie sie einen erleichterten Seufzer loslässt.
„Mum? Was ist los mit dir?“, frage ich misstrauisch und nippe dabei nochmal an meiner Tasse.
Dieser Zucker hat irgendwie was!
„Du solltest aber dann bald wirklich wieder ins Bett gehen, Lana! Auch wenn du Ferien hast, ich will dass du genügend Schlaf bekommst.“, sagt sie nur und zückt eines ihrer vielen unvollendeten Kreuzworträtsel unter der Sitzbank hervor.
Bei dem Anblick muss ich fast ein bisschen lachen – einfach, weil es so schön normal ist.
„Jaja, ich sitze hier jetzt aber noch ein Weilchen!“, verteidige ich mich, doch mein Gähnen lässt mich nicht sonderlich überzeugend klingen.
Mum rätselt also vor sich hin und ich trinke in aller Seelenruhe meinen Kakao leer, wobei ich feststellen muss, dass ich mich zunehmend seltsamer fühle, fast sogar ..ein bisschen betäubt.
„Und? Kann man den Zucker trinken?“, fragt Mum mich irgendwann und sieht von ihrem Rätselblatt auf.
Ich nicke und halte mir den Kopf. Ich weiß auch nicht warum, aber irgendwie fühle ich mich, als würde Nebel in meinem Kopf, nein – in meinen Gedanken aufsteigen, alles wird so furchtbar..unübersichtlich!
„Lana, hallo? Ist alles okay bei dir?“, höre ich Mum wieder und blinzele in ihre Richtung.
„Ja, ja – ich glaube du hattest Recht. Ich bin hundemüde, ich geh lieber ins Bett! Danke für den Kakao, Mum.“, stammele ich, schnappe mir meine Tasse und trage sie zum Spülbecken.
„Gute Nacht, Lana. Schlaf gut, ja?“.
Ich nicke und will mich gerade von der Ablage abstützen, als auf einen Schlag alles schwarz wird und ich vollkommen das Gleichgewicht verliere. Mum ist sofort zur Stelle und springt von der Sitzbank auf, um mich mit einem schnellen, unsanften Ruck am Arm hochzuziehen.
„Lana, was ist..?“, will sie gerade fragen, als ich sie unterbreche.
„Mum, was war in dem Pulver drin?“, frage ich mit aller Klarheit die noch in meinem Kopf herrscht.
Aus zusammengekniffenen Augen sehe ich, wie sie sich ertappt auf die Lippe beißt.
„Mum?!“, schluchze ich schockiert auf und versuche mich wieder alleine auf meinen wackeligen Beinen zu halten, als Dad mit einem Mal in der Küche erscheint.
„Warum machst du sowas? Was hast du mir gegeben, wieso – muss ich mich so schrecklich fühlen?“, stammele ich und bin kurz davor völlig hysterisch loszuheulen.
„Es – es..Lana, versteh doch, ich weiß nicht, wie ich dir anders helfen soll, ich kann dir anders gar nicht helfen, ich weiß nicht – ich musste das hier tun! Es soll dir nur helfen, Lana!“, antwortet sie mit hilfesuchendem Blick in meine Richtung.
„Was hast du ihr gegeben?“, höre ich da auf einmal Dad´s bebende Stimme im Hintergrund und dann – Schritte, die näher kommen.
„Versteht mich doch bitte! Es wird dir danach viel besser gehen, Lana! Ich tue nur, was nötig ist, verdammt – ich versuche hier meine Tochter zu schützen!“, schreit Mum und drückt mich dabei wieder an sich, wobei ich nicht im Stande bin, mich zu wehren.
„Oh, sag jetzt bitte nicht, du hast ihr tatsächlich etwas von dem Pulver gegeben?! Das hatten wir bereits ALLES schon einmal, diese Zeiten sind vorbei!“, brüllt Dad zurück und hält sich verzweifelt den Kopf.
„Was redet ihr da?“, frage ich mit piepsiger Stimme und stoße mich kraftlos von Mum weg.
„Lana..“, will Dad gerade mit sanfterer Stimme ansetzen, als ich ohne jede Vorwarnung zu Boden sacke.
Das Letzte was ich daraufhin noch höre, sind ihre aufgeregten Stimmen und schon im nächsten Moment, schaltet sich alles bei mir aus.
Ein leichtes Gefühl der Benebelung schwebt durch meinen Kopf , als ich aufwache und an meine Zimmerdecke starre.
„Lana?“, höre ich Mum, als sie an die Tür klopft und diese mit einem leisen Knarren öffnet.
„Morgen, Mum!“, begrüße ich sie munter und schwinge meine Beine aus dem Bett, als sie vor mir stehen bleibt und mich mit besorgtem Gesichtsausdruck mustert.
„Alles okay bei dir? Warum schaust du so komisch?“, frage ich lachend und schlüpfe in meine Hausschuhe.
„Wie fühlst du dich, Schätzchen?“, fragt sie und macht noch einen Schritt auf mich zu.
„Wunderbar! Warum fragst du denn?“, frage ich und lächele zufrieden vor mich hin.
„Du – hattest gestern nachdem wir vom Einkaufen zurückkamen einen kleinen Schwächeanfall und bist mir zusammengeklappt! Das weißt du wohl nicht mehr, was?“, fragt sie und lächelt vorsichtig.
Ich lege den Kopf schief und sehe sie an wie ein Auto.
„Tatsächlich? Ich kann mich gar nicht mehr erinnern, jetzt wo du das so sagst!“, murmele ich und schaue nachdenklich auf meine Füße.
Meine Erinnerung an gestern ist gänzlich verschwunden, aber wenn ich einen Schwächeanfall hatte, naja – dann wird das auch nicht weiter verwunderlich sein!
„Ahja, was soll´s! Mir geht´s jedenfalls wieder gut! Ist das Frühstück schon fertig? Können wir nach unten gehen, mein Magen hat mich aufgeweckt, er will jetzt was essen!“, sage ich und hüpfe munter in Richtung Türe.
„J..ja, sicher..!“, höre ich Mum hinter mir und bin auch schon auf dem Weg nach unten.
„Morgen, Dad!“, begrüße ich ihn stürmisch und renne dabei geradewegs auf die Küchenschränke zu um mir eine Müslischüssel herauszukramen.
„Guten Morgen, Mäuschen! Hast..du gut geschlafen?“, fragt er mit müder Stimme, während ich die Müslipackung auf den Tisch knalle und dabei nebenher im Kühlschrank nach der Milch krame.
„Einmalig, außer dass mein Kopf sich ein bisschen..naja, komisch anfühlt – aber Mum hat mir gerade eben alles erzählt!“, antworte ich.
Ich fülle meine Schüssel, schiebe Milch und Müslipackung an den Rand der Küchentheke und trage mein Frühstück vorsichtig zum Tisch, um bloß nichts zu verschütten.
„Ahja?“, fragt Dad erstaunt, als ich meinen Platz schließlich erreicht habe und mich ihm gegenüber auf die Sitzbank schiebe.
„Ja, aber es war nicht weiter schlimm, oder?“, frage ich munter und schiebe mir heißhungrig einen Löffel Müsli in den Mund.
Dad´s Blick rückt ins Misstrauische und seine Augen wandern Richtung Treppe, wo Mum´s Schritte zu hören sind.
„Nicht weiter schlimm?“, murmelt er leise vor sich hin und sieht dabei richtig verzweifelt aus.
„Dad..was ist denn los? Das mit dem Schwächeanfall war nicht weiter schlimm, ich meine, - sowas passiert eben mal!“, versuche ich ihn zur beruhigen, denn so wie er im Moment schaut, macht er mir richtig Sorgen!
„So, jetzt können wir in Ruhe Frühstücken!“, trällert auch schon Mum´s fröhliche Stimme aus dem Hintergrund, die soeben die Küche betreten hat.
Dad blättert ohne ein weiteres Wort in seiner Zeitung, während Mum sich mit einem breiten, fröhlichen Grinsen zu uns an den Tisch gesellt.
„Ah, du hast dein Frühstück ja schon! Na, alles klar! Möchtest du vielleicht noch einen Kaffee,..oder soll ich etwas Tee machen?“, fragt Mum und wendet sich dabei an Dad, der nur stumm den Kopf hebt und sie anblickt.
Vorwurfsvoll anblickt.
Oh mein Gott, was ist denn nur los heute Morgen?
„Dad, Mum, was habt ihr denn?“, frage ich hilflos und stochere mit meinem Löffel weiter in der Schüssel herum, während ich zwischen den Beiden hin und her blicke.
„Nein, danke – ich glaube mir reicht ein Kaffee für heute Morgen!“, sagt Dad in einer Mischung aus Wut und Beherrschung.
„Er ist heute Morgen einfach nur mit dem falschen Fuß aufgestanden, Lana! Denk dir nichts weiter dabei, wichtig ist doch nur, dass es dir nach deinem Anfall gestern wieder besser geht!“, sagt Mum und lächelt mir entschuldigend zu.
„Ja, ja..wenn du das sagst..“, murmele ich etwas verunsichert und schaufele gedankenabwesend mein Müsli in mich hinein.
„Und – was sollen wir heute dann machen?“, fragt Mum als Nächstes und ihre Augen blitzen unternehmungslustig.
Ich frage mich nur wirklich, was los ist, so habe ich sie schon lange nicht mehr erlebt! Ich meine damit nicht, dass sie sonst irgendwie langweilig oder schlecht gelaunt ist, aber – gleich so aufgedreht?!
„Machen wir doch einfach mal einen ganz normalen Ferientag!“, schlage ich vor und lehne mich mit einem tiefen Seufzer zurück.
Mum schaut mich zuerst etwas erstaunt an, doch dann nickt sie schließlich.
„Warum eigentlich nicht! Du solltest dich ja auch noch etwas erholen von Gestern! Dass ich daran nicht mehr gedacht habe..“, sagt sie und steht kopfschüttelnd auf, um ihre und Dad´s Tasse wegzuräumen.
„Dad?“, frage ich dann, als Mum gerade dabei ist, das Spülbecken mit Wasser aufzufüllen und das Geschirr hineinzuräumen.
Dad sieht etwas müde und verwirrt zu mir rüber und ringt sich dann schließlich zu einem kleinen Lächeln ab.
„Ja, Lana – was ist los?“.
„Warum bist du so sauer? Es geht mir doch jetzt wieder besser, du brauchst dir wirklich keine Sorgen mehr zu machen!“, erkläre ich ihm und versuche dabei ganz genau seine Reaktion zu beobachten.
„Ja, nicht wahr? Ich sollte eigentlich froh sein!“, sagt er und erhebt sich mit einem tiefen, traurigen Seufzer von der Sitzbank.
„Ich bin im Bad und mach mich fertig!“, murmelt er nur noch schnell, bevor er aus der Küchentüre nach oben verschwindet.
Ich sitze noch immer ziemlich überrascht da und starre an den Fleck, an dem er gerade noch gesessen hat.
Was hat er denn nur? Warum will er nicht mit mir darüber reden?
„Ach Lana, bitte, denk dir nicht soviel dabei! Er macht sich einfach nur Sorgen um dich und konnte fast die halbe Nacht nicht einschlafen wegen gestern, das musst du verstehen, - aber das legt sich bald wieder! Ich bin mir da ganz sicher.“, sagt Mum, die zwei Meter von mir entfernt ganz seelenruhig vor sich hinspült.
„Ich fühle mich irgendwie schuldig!“, murmele ich leise und verziehe mich schnell und klangheimlich aus der Küche nach oben in mein Zimmer.
Oben angekommen fällt mein Blick sofort auf die geöffnete Nachttischschublade neben meinem Fenster. Ich kann mich gar nicht daran erinnern, irgendwas herausgenommen zu haben!
„Komisch. Vielleicht war Mum noch dran?“, murmele ich vor mich hin während ich direkt darauf zusteuere, um zu sehen, was herausgenommen wurde.
„Da ist ja doch noch alles drin! Dann ist es ja…warte! Mein altes Fotoalbum, wie kommt das denn da hinein?“, jauchze ich erfreut und ziehe es blitzschnell heraus.
Während ich nach und nach die Seiten durchblättere, beschleicht mich immer mehr das Gefühl, dass es gar nicht ganz vollständig ist – kann es etwa sein, dass Bilder fehlen?
„Moment, da ist doch was!“, flüstere ich erstaunt, als ich eines der herausgenommenen Fotos genauer unter die Lupe nehme und den dicken, zusammengeklebten Rand bemerke.
„Die sind zusammengeklebt! Da ist noch eins drunter? Aber wer hat das getan– und warum?“, murmele ich und versuche vergeblich und mit größter Vorsicht, die beiden Bilder voneinander abzutrennen.
Wenn ich jetzt zu sehr daran reiße, werde ich eins von Beiden nachher nicht mehr erkennen können, das wäre eindeutig zu schade!
„Wie mach ich das bloß?“, jammere ich, als ich auf einmal Dad´s Stimme höre.
„Lana, das Badezimmer ist dann jetzt frei! Du kannst reingehen.“.
„O-kay! Ja, okay. Ich komm schon!“, rufe ich etwas zögerlich zurück und lege seufzend das Foto auf den Nachttisch zurück.
Dann kümmere ich mich eben später darum! Obwohl es mich schon gereizt hätte, zu wissen was das für ein Bild ist, dass jemand es einfach hinten anklebt!
„Lauf mir ja nicht davon, klar?“, sage ich zu dem Bild und wende mich dann meinem Kleiderschrank zu, um mein geliebtes blaugraues Volanttop und eine Jeans herauszukramen.
„Mum, warst du schon im Bad?“, rufe ich nebenbei nach unten.
„Ja, Schätzchen – ich bin schon lange fertig!“, kommt es munter von unten zurück.
„Oh Mum, deine gute Laune heute möchte ich auch gern haben!“, sage ich lachend und mache mich mit meinen zusammengerauften Klamotten in Richtung Bad auf.
Zähne putzen und dann ab unter die heiße Dusche, wie ich das liebe! Nebenbei, es wäre gar keine schlechte Idee, mal wieder Schwimmen zu gehen!
Gedankenabwesend schaue ich dabei zu, wie das warme Wasser an meinen Armen herunter rinnt und mir der heiße Dampf entgegen steigt. Nach zwanzig Minuten steige ich schließlich heraus aus meinem geliebten Dampfbad, trockne mich in aller Ruhe ab und schlüpfe in meine Kleidung, bevor ich die Fenster öffne und mich dann schließlich meinen Haaren widme.
„Wie weit bist du Lana, ich sollte mal auf die Toilette!“, ertönt gute zehn Minuten später Mum´s Stimme hinter der noch immer abgeschlossenen Badezimmertüre.
„Ich bin gleich soweit!“, rufe ich durch den Lärm meines Haarföhns nach draußen und sehe mich dabei prüfend im Spiegel an.
Haselnussbraune glatte Haare, die mir noch ein gutes Stück weit über die Schultern fallen – wirklich geschädigt sehen sie auch nie aus – wenn ich daran denke, habe ich sie mir auch nie großartig färben lassen! Keine Strähnchen, nichts – so haben sie mir schon immer am Besten gefallen!
Natürlich einfach.
Mein Blick geht weiter, trifft genau in meine Augen, blaue Augen, vielleicht mit einem kleinen Graustich.
"Lana?", ertönt Mum´s Stimme wieder von draußen.
„Und schon gehört das Bad dir!“, rufe ich und ziehe blitzschnell den Föhnstecker heraus.
„Gut siehst du aus!“, säuselt Mum mir entgegen, als ich die Türe aufreiße und an ihr vorbeistürme.
„Dankeschön!“, rufe ich lachend zurück, während ich die Treppenstufen nach unten hopse.
„Ist noch Frühstückszeit?“, frage ich unten in der Küche angekommen und bin schon dabei, erneut die Küchenschränke aufzureißen, während ich aus dem Augenwinkel Dad´s erstaunten Blick wahrnehme.
„11Uhr! Hast du etwa immer noch Hunger?“, fragt er lachend und ich seufze erleichtert, als ich das von ihm höre.
„Jap. Ich habe Ferien, ich habe Zeit.“, antworte ich putzmunter und richte mir bereits zum zweiten Mal an diesem Morgen mein Lieblingsmüsli her.
„So, jetzt kann der Tag beginnen!“, sage ich, als ich mich schließlich auf die Eckbank fallen lassen kann und mit dem Löffel meine Müslischüssel attackiere.
„Hast du heute noch irgendwas Bestimmtes vor?“, fragt Dad grinsend.
„Nein, eigentlich nicht. Wie gesagt. Entspannung!“, murmele ich und stochere dabei in meinem Müsli herum, als es auf einmal an der Türe klingelt.
„Ich geh schon!“, wehrt Dad lächelnd ab und verschwindet aus der Küchentür, um bereits schon nach wenigen Sekunden zurückzukehren – mit einem noch breiten Grinsen im Gesicht als gerade eben!
„Lana, der Besuch ist für dich!“, sagt er und winkt mich zu sich.
„Für mich?“, frage ich misstrauisch und erhebe mich zögernd von der Bank.
„Lana, Lana – hey, hallo!“, höre ich schon eine helle, aufgeregte Stimme und als mir ein kleines Mädchen mit langen braunen Locken hüpfend entgegen grinst, muss ich sogar lachen.
„Hallo!“, begrüße ich sie und lege etwas unsicher eine Hand auf die Türklinke.
„Und – ist sie schon da? Wo ist sie, kann ich sie auch sehen?“, plappert sie aufgeregt und funkelt mich neugierig aus ihren blitzblauen Augen an.
„Ähm – von wem genau redest du?“, frage ich und sehe sie erstaunt an.
Ihr Gesichtsausdruck verändert sich augenblicklich, jetzt sieht auch sie recht verdattert drein.
„Wie – ich rede von gestern. Gestern Abend!“, sagt sie wieder und lässt dabei etwas schlaff die Schultern hängen, während sie mich unsicher mustert.
Daraufhin verstumme ich völlig. Das Einzige was ich bemerke, ist die wachsende Anzahl von Fragezeichen in meinem Kopf!
„Lana? Du weißt nicht wovon ich rede?“, fragt das Mädchen und sieht mich mit einem unsicher flackernden Blick an, während sie vorsichtig einen Schritt auf mich zumacht.
„Ich – bin mir nicht sicher! Woher kennst du mich überhaupt? Was soll gestern Abend gewesen sein?“, frage ich und halte mir den Kopf, der mittlerweile zu schmerzen angefangen hat.
In meinem Kopf ist es noch immer so – benebelt, wenn ich versuche, mich an irgendetwas von gestern zu erinnern! Es will mir einfach nicht richtig einfallen! Aber es kann doch auch nicht so wichtig sein, oder?
„Oh, hallo Faye! Wie geht es dir?“, höre ich mit einem Mal Mum´s Stimme vom oberen Treppensatz.
Ich sehe mit einem schnellen Blick nach oben, dann wieder zu dem Mädchen vor mir, dem der Mund vor Staunen offen steht, bis sie ihn langsam wieder zuklappt und sich ihre Augen zu engen Schlitzen formen, die misstrauisch und fast schon etwas feindselig in Mum´s Richtung stieren.
„Ah, daher kennst du meinen Namen also! Mum hat ihn dir gesagt, ihr kennt euch also schon?“, sage ich und lache erleichtert.
„Soweit geht sie also! Ja, ja – ich glaube, jetzt kennen wir uns!“, murmelt das Mädchen wieder, tritt ein paar Schritte zurück und wendet sich dann doch noch einmal mir zu.
„Ich hab´s dir schon einmal gesagt – so leicht gebe ich mich nicht geschlagen!“, sagt sie, ballt ihre Hände zu Fäusten und rennt wütend davon, bevor ich überhaupt irgendetwas dazu erwidern kann.
„Was wollte sie denn, Lana?“.
Langsam schließe ich die Türe und drehe mich dann zu Mum um, die gerade die Treppe herunterkommt und schließlich direkt vor mir stehen bleibt.
„Kennst du sie?“, frage ich und mustere misstrauisch ihr verkniffenes Lächeln.
„Ja, das ist Faye – unser neues Nachbarsmädchen! Sie sind erst vor kurzem hier eingezogen und ihr beide habt ein paar Mal miteinander geredet, nichts das groß von Bedeutung wäre!“, winkt Mum gelassen ab und läuft dann weiter in Richtung Küche.
Eilig laufe ich ihr hinterher und stütze mich dann im Türrahmen der Küche ab, um sie forschend und aus zusammengekniffenen Augen anzusehen.
„Unser neues Nachbarsmädchen sagst du?“, hake ich noch einmal nach.
„Ja!“.
„Aber das wird einige Tage her sein! Wieso weiß ich nichts mehr davon?“.
„Du hast dir schon ein bisschen den Kopf gestoßen, nicht ganz harmlos – aber auch nicht ganz schlimm! Vielleicht kommt die Erinnerung ja wieder, schließlich ist das Ganze erst einen Tag her! Und wenn nicht, .. war es ja auch nicht soo wichtig, oder?“.
„Ich hab die Geschehnisse MEHRER TAGE vergessen? Mum, das kann kein leichter Sturz gewesen sein!“, protestiere ich und stolpere unsicher in ihre Richtung.
„Lana, Schatz! Hast du denn das Gefühl, dass irgendetwas fehlt, das wirklich wichtig wäre? Du kommst doch zurecht, oder?“, kommt es von ihrer Seite zurück.
„Ja, klargekommen bin ich bis jetzt eigentlich gut!“, gebe ich etwas kleinlaut zu und tapse in Richtung Gefriertruhe, um mir einen Eisbeutel für meinen Kopf zu besorgen.
„Na also, mach dir nicht so einen Kopf um die Sache. Du brauchst einfach noch etwas mehr Ruhe – du musst nicht in Dingen nachhaken, die dich nur sinnlos anstrengen.“, sagt Mum mit sanfter Stimme und dreht sich dann wieder zu mir.
„Hast du Kopfschmerzen?“, fragt sie erstaunt, als ich gerade dabei bin, den Beutel in ein Handtuch zu wickeln.
„Ja, schon ein bisschen! Vielleicht ist es ja genau das, was du gesagt hast! Dieses Mädchen tut mir nur einfach so Leid!“, murmele ich und halte mir den fertigen Eisbeutel gegen die Stirn.
„Das wird schon wieder!“, sagt Mum, die jetzt neben mir steht und mir aufbauend über den Arm streicht.
„Ich hoffe es auch, ich glaub ich leg mich heute einfach ein bisschen raus in die Sonne und mache gar nichts!“, sage ich und schleppe mich missmutig ins Wohnzimmer, wo ich mir eines meiner Lieblingsbücher aus dem Regal ziehe, mir meinen Mp3-Player vom Couchtisch schnappe und nach einer Decke greife um den Berg dann schließlich irgendwie nach draußen in unseren Garten zu befördern.
„Dabei ist so schönes Wetter!“, sage ich etwas gekränkt und breite meine Decke in der Mitte der großen, saftig grünen Wiese aus, um mich seufzend draufzulegen.
Zuerst starre ich nur hinauf in den strahlenden, blauen Sommerhimmel an dem unzählige, riesige Flauschwolken hängen. Es ist schon ziemlich warm, wenn man bedenkt, dass es erst Vormittag ist!
„Dich hebe ich mir für später auf!“, sage ich in Richtung meines Mp3-Players und taste mit einer Hand danach, um ihn mehr in den Schatten zu legen.
„Und du bleibst wo du bist!“, sage ich in strengem Ton zu dem Eisbeutel auf meiner Stirn und greife dann nach meinem Buch.
Ich klappe es an der Seite auf, an der ich zuletzt gelesen habe und sehe dabei zu, wie das Lesezeichen, das ich schon ganz vergessen hatte, zu Boden flattert.
Wenige Minuten später bin ich schon völlig in der Handlung der Geschichte versunken, blättere und blättere, überfliege die Zeilen und schneide dabei gänzlich meine Umgebung aus.
„Mmh!“, murre ich verschlafen, als ich widerwillig versuche meine Augen gegen die herunterknallende Mittagssonne zu öffnen.
Ich bin doch tatsächlich eingeschlafen?! Mitten in der Sonne – das ist nicht gut, aber wenigstens..fühlt sich mein Kopf besser!
„Oh man!“, murmele ich und setze mich langsam auf, während ich mit einer Hand den ausgekühlten, schlaffen Eisbeutel von meiner Stirn nehme.
„Wow, das Wetter hält sich heute aber erstaunlich gut!“, sage ich und hebe kurz den Blick in Richtung Sonne.
Für einen kurzen Moment sitze ich einfach nur so da und lasse mich von der wohligen Wärme einnehmen, bis ich endlich einmal realisiere, dass mir von der Dauerhitze, der ich bis eben ausgesetzt war, auch ein bisschen schlecht geworden ist.
„Vielleicht gehe ich doch besser ins Haus!“, murmele ich und sammele blitzschnell meine Sachen zusammen, um sie in wankendem Schneckentempo nach drinnen zu tragen.
Die Hitze hat mir wirklich mehr zugesetzt, als gedacht.
In der Küche angekommen schmeiße ich zu aller erst meine Sachen auf die Eckbank, um schon im nächsten Moment meinen Kopf gegen die Kühlschranktür zu drücken.
„Gott, ist mir schlecht!“, säusele ich und kralle mich haltsuchend an der Küchenablage fest.
Auf einmal schießt mir der Gedanke an mein Fotoalbum durch den Kopf.
Ich hatte komplett vergessen, dass ich es heute schon einmal verlegt hatte, wo ich doch etwas nachprüfen wollte!
„Naja, jetzt hab ich ja genügend Zeit!“, murmele ich und drücke mich schwungvoll und ohne jede Rücksicht auf mein Schwindelgefühl vom Kühlschrank weg.
Das Foto liegt genau dort, wo ich es habe liegen lassen. Unberührt.
„Dann komm mal her zu mir und wir nehmen dich auseinander!“, sage ich zu dem Foto und werfe mich damit auf mein Bett.
„Das tut mir jetzt ehrlich Leid, aber – es muss einfach sein!“, flüstere ich, als ich mit einem groben Ruck die beiden Seiten voneinander löse.
Vorsichtig ziehe ich beide Hände zurück und schaue von dem Bild, das mir ja bereits bekannt ist, zum anderen, auf dem ich als kleines Kind, zusammen mit einem anderen Mädchen zu sehen bin.
Beide liegen wir auf einem ausgebreiteten Badehandtuch im Gras vor einem zugegeben echt schönen Pool, im Hintergrund unzählige Berge bei strahlend schönem Wetter.
Links ich, mit ziemlich verschlafenem Blick und rechts daneben dieses Mädchen, das zufrieden und zusammengerollt neben mir in der Sonne liegt.
Verwundert bin ich allerdings nur über ihr Aussehen.
Diese langen braunen Locken, die Gesichtsform – sie sieht haargenau aus wie dieses Mädchen, das heute Morgen schon einmal bei uns war und diese seltsamen Sachen gesagt hat.
„Aber das kann gar nicht sein..!“, murmele ich und kneife angestrengt die Augen zusammen.
Faye ist doch so viel jünger. Das hier könnte eher so etwas wie ihre..ältere Zwillingsschwester sein!
Ein Klon – aber das ist genauso unmöglich.
Und allem Anschein nach muss dieses Mädchen auf dem Bild eine sehr gute Freundin von mir gewesen sein, sonst würde es nicht so vertraut wirken – so selbstverständlich.
„Ich hoffe doch, ich habe sie nicht auch so kurzfristig vergessen.“, sage ich und lache etwas verbittert auf.
„Lana?“.
Erschrocken fahre ich zusammen und drehe mich vorsichtig in Richtung Türe.
„Faye?! Wie kommst du hier rein?“, frage ich leicht verwirrt und lege blitzschnell das Foto beiseite.
„Ich bin durch die Hintertür rein, ungefähr ein bis zwei Minuten nachdem du ins Haus gegangen bist!“, antwortet sie tausend mal gelassener, als ich es bin.
„Einfach so? Und meine Eltern, was haben die gesagt?“, sage ich und kann ein Schmunzeln nicht unterdrücken.
„Dad und ich sind Einkaufen gegangen, nicht viel, nur ein paar Kleinigkeiten! Sind so gegen 17.ooUhr zurück. Bis später dann.“.
„Das stand auf dem Zettel, der für dich auf dem Küchentisch lag!“, beantwortet sie meine stille Frage mit einem erfreuten Grinsen.
„Den habe ich noch gar nicht gesehen.“, sage ich erstaunt, während sie in aller Seelenruhe an mir vorbeigeht und mein Bild vom Boden aufhebt.
„Hey-hey, vorsichtig damit!“, warne ich sie und rücke augenblicklich an ihre Seite.
„Bin ich, ich weiß, dass es wichtig ist!“, sagt sie und aus dem Augenwinkel kann ich ein leises Lächeln über ihre Lippen huschen sehen.
„Wie meinst du das? Du kannst es doch gar nicht kennen.“, sage ich überrascht.
„Nein, aber ich kenne das Mädchen.“, sagt sie in nachdenklichem Ton.
„Du kennst sie? Aber..“, will ich gerade ansetzen, als in meinem Kopf ein dumpfer, schmerzhafter Schlag ausgelöst wird.
„Alles okay, Lana?“, fragt Faye und dreht besorgt den Kopf in meine Richtung.
„Ich weiß, ich kenne sie !“.
„Tust du auch. Außerdem gibt es noch mehr davon, es ist gut, dass du das hier überhaupt gefunden hast. Kein schlechter Trick, das mit dem Zusammenkleben!“, murmelt sie und schaut wieder das Bild an.
„Wie, es gibt mehr davon? Warum hat man sie zusammengeklebt, und woher weißt du überhaupt davon?!“, sage ich und versuche das Pochen in meinem Kopf zu ignorieren.
„Wie geht es dir gerade?“, fragt sie und legt das Bild zurück auf den Teppich.
„Faye, bitte!“, rufe ich und wende meinen Blick nicht für eine Sekunde von ihr ab.
Aber sie läuft einfach wortlos an mir vorbei zu meinem Nachttisch und schnappt sich kurzerhand das Fotoalbum, um es mit beiden Händen auseinander zu zerren.
„NEIN! Bist du komplett irre, lass das!“, rufe ich, als ich bereits das Krachen höre und ein Schwall versteckter Fotos herausflattert.
„Bin ich nicht ein guter Detektiv?“, fragt Faye auf meine Entgeisterung hin und lässt die beiden zerrissenen Teile auf den Boden fallen.
Sie hat sie sauber in der Mitte durchgerissen, ohne dabei irgendeines der anderen Bilder zu zerstören.
„Sie waren IN dem Album? Zwischen den Seiten, wieso..ist mir das nie aufgefallen?“, frage ich völlig perplex.
„Es tut mir Leid um dein Album, aber für die Bilder findest du sicher ein Neues!“, sagt Faye entschuldigend und tritt vorsichtig wieder an meine Seite.
„Immerhin hab ich jetzt alle, oder?“, frage ich, immer noch ziemlich überfordert.
„Ja, jetzt sind es alle.“.
Ich beuge mich nach vorne, überfliege den Bilderhaufen nur kurz, bevor ich sie allesamt zusammenklaube und in meiner Schublade verfrachte.
Als ich mich wieder zu Faye umdrehe, steht sie nur ganz still da und sieht mich unsicher an.
„Ich will sie mir jetzt noch nicht ansehen. Das ist gerade alles ein bisschen viel!“, sage ich entschuldigend und gehe nach unten in die Küche, während sie mir wortlos folgt.
„Danke, dass du sie mir gezeigt hast. Von alleine wäre ich wahrscheinlich nie auf die Idee gekommen!“, sage ich, als ich mich in der Türschwelle nach ihr umdrehe und ein vorsichtiges Lächeln versuche.
Erschrocken, als hätte ich sie gerade aus ihren Gedanken gerissen, hebt sie den Kopf und sieht mich fragend an.
„Achso, ja – die Bilder meinst du!“, murmelt sie dann und grinst vorsichtig zurück.
Sekunden vergehen und die leise tickende Uhr, die neben uns an der Wand hängt, macht die Stille nur noch schlimmer. Irgendwie wünschte ich mir, Mum und Dad wären bereits wieder zurück und ich wäre nicht gänzlich allein mit dieser Situation!
„Reiß dich zusammen, Lana Darley! Jetzt sag schon etwas, rede mit ihr!“, ruft eine Stimme in meinem Kopf.
„Ich.. gehe dann mal wieder? Ich dachte nur, es sei besser, dir die Bilder zu zeigen – du hast immerhin ein Recht darauf.“, sagt sie schließlich und wendet dabei den Blick ab, auf das riesige Porträt, das Mum, Dad und mich beim letzten Sommerfest zeigt.
Als Faye mit beinahe lautlosen Schritten an mir vorbei zur Haustüre geht, stehe ich noch immer da, wie angewachsen.
Rede, Lana!
Sprich!
„Faye?! Hättest du eventuell noch Lust, mit mir zum See zu gehen?“, platzt es schließlich aus mir heraus und ich wirbele blitzschnell herum und sehe in ihr kleines, erstauntes Gesicht, das vom hereinfallenden Licht des schon halb geöffneten Türspalts erhellt wird.
Mit einer kurzen Bewegung wirft sie die Tür zurück ins Schloss und sieht mich zweifelnd an.
„Ich soll mit dir zum See gehen? Das ist kein Scherz?“, fragt sie.
„Wenn du Lust hast, können wir gleich losgehen! Ich habe sowieso nichts zu tun und wie du ja schon mitgekriegt hast, meine Eltern kommen erst später wieder!“, sage ich und deute mit dem Kopf Richtung Küche.
„Okay, gut!“, antwortet sie und als sie den Blick hebt, tritt ein freudiges Glitzern in ihre Augen.
Als wir am See kommen, ist dort außer uns fast keine Menschenseele zu sehen.
„Wow, so leer war es hier echt noch nie!“, murmele ich erstaunt und drehe den Kopf nach allen Seiten, als Faye mich an der Hand zum Seeufer zieht.
„Hey, was ist los?“, frage ich, als sie ganz knapp vor dem Wasser stehen bleibt, sich die Schuhe von den Füßen streift und sich rücklings ins Gras fallen lässt.
„Ich bin zu faul, mir selbst die Füße zu waschen – und ich bräuchte mal ein bisschen Entspannung!“, sagt sie und gibt einen zufriedenen Seufzer von sich, als eine winzige Welle an ihre Zehen kommt.
Lachend lasse ich mich neben ihr nieder, stütze mich aber auf den Ellenbogen ab, um noch hinaus aufs Wasser sehen zu können.
„Warst du schon einmal hier?“, frage ich und drehe den Kopf in ihre Richtung.
„Jep, war ich. Wir waren zusammen hier, aber das wirst du wahrscheinlich nicht mehr wissen, hm?“, antwortet sie und sieht mich genau eine Sekunde lang an, bevor sie die Augen wieder schließt.
„Tatsächlich?!“, frage ich überrascht und schüttele zeitgleich den Kopf.
„Das tut mir alles so leid, Faye! Ich weiß beim besten Willen nicht, wieso ich durch diesen Kopfstoß so vieles vergessen habe!“, sage ich entschuldigend und gebe mir große Mühe, nicht zu missmutig dreinzuschauen.
Jetzt hebt auch Faye den Kopf und sieht mich mit hochgezogenen Augenbrauen skeptisch an.
„Ein Kopfstoß?“, fragt sie leise und sieht mich eine Ewigkeit lang ungläubig an.
„Ja! Ach stimmt ja, du wusstest davon noch gar nichts!“, fällt es mir wie Schuppen von den Augen und ich halte entschuldigend eine Hand in die Höhe, als sie mich unterbricht.
„Meinst du wirklich, durch einen Stoß mit dem Kopf vergisst man so vieles?“, erwidert sie knapp.
Langsam lasse ich die Hand sinken und hefte meinen Blick an Fayes zweifelnde Miene.
„Nein, eigentlich nicht!“, gebe ich zögernd zu.
Faye´s Zweifel sind eigentlich nur berechtigt. Dass ich nicht weiter darüber nachgefragt habe, lag die ganze Zeit daran, dass ich das Gefühl hatte, es besser nicht zu tun.
Mum verhielt sich so seltsam aufgedreht und über Dad´s Verhalten will ich schon gar nicht mehr nachdenken.
„Also gehst du davon aus, dass es kein Schwächeanfall war?“, frage ich Faye mit leiser Stimme.
Sie ist in dieser Situation die Einzige, die ich fragen kann – wenn es stimmt, dass wir uns bereits etwas besser kannten, könnte sie immerhin etwas wissen!
„Wäre nicht ganz abwegig gewesen, aber das ist es, glaube ich, nicht!“, antwortet sie nachdenklich.
„Ich verstehe das nicht! Was ist so schwer daran, mir einfach die Wahrheit zu sagen? War das, was passiert ist denn wirklich so schlimm? Wenn sie sagen, ich hätte das Bewusstsein verloren und mir den Kopf angeschlagen..!“, zermartere ich mir den Kopf, während ich Fayes besorgten Blick auf mir spüre.
„Weißt du mehr darüber?“, frage ich und drehe augenblicklich den Kopf in ihre Richtung.
Aber sie schüttelt nur den Kopf.
„Ich..“, will sie gerade ansetzen, als sie ihren Satz mit einem Kopfschütteln unterbricht und anfängt, auf ihrer Unterlippe herum zu kauen.
„Faye, wenn du irgendwas weißt, sag es mir bitte!“, sage ich und halte stur ihren Blick fest, den sie trotz aller Unsicherheit nicht von mir wendet.
„Ich glaube, wenn ich eines mittlerweile weiß, ist es , dass deine Mutter dich wirklich liebt! Nur die Mittel, mit denen sie versucht, dich vor schmerzhaften Dingen zu schützen, sind nicht die Richtigen!“, antwortet sie und sieht mich wieder mit diesem zweifelnden Blick an.
„Was?!“, frage ich und sehe sie nur verwirrt an.
Gerade, als Faye zu einem weiteren Wort ansetzen will, lege ich ihr blitzschnell eine Hand auf den Mund.
„Belassen wir es einfach dabei, okay? Ich glaube, das was du mir zu sagen versuchst, verwirrt mich nur noch mehr!“, sage ich und spüre, wie ich innerlich immer unruhiger werde und mein Herz heftig zu pochen beginnt.
Ja, man könnte sagen ich bin ein jämmerlicher, hilfloser Angsthase. Aber ich will nicht im Minutentakt emotional so durchgerüttelt werden - das ist einfach zuviel für mich, im Moment.
„Sicher?“, fragt Faye und beugt sich prüfend über mich.
„Ja, sicher!“, stöhne ich und fasse mir mit der einen Hand an den Kopf, als Fayes Anhänger, der wie ein Pendel über meinem Gesicht baumelt, in einem blitzenden Grün aufzuleuchten beginnt.
„Ähm, Faye?! Ich glaube, mit deinem – Anhänger stimmt etwas nicht? Gehört der Leuchteffekt dazu?“, frage ich überrascht und starre gebannt auf den kleinen grünen Stein, der die Pupille eines, aus Silberdraht geformten Auges bildet.
Das hat etwas Mystisches und doch ist es irgendwie – beruhigend! Ich spüre, wie mein Herzschlag sich langsam wieder beruhigt und meine Gedanken wieder zurück in eine Ordnung springen, wo sie nicht mehr länger auf mich niederdrücken.
Mit einem erleichterten Seufzen setze ich mich langsam wieder auf.
Faye neben mir kichert.
„Was findest du so lustig?“, frage ich verwundert.
„Ja, Lana. Der Leuchteffekt gehört tatsächlich zu meinem Anhänger!“, sagt sie und zwinkert mir verschwörerisch zu.
„Du bist seltsam, Faye! Weißt du das eigentlich?“, frage ich und lächle in mich hinein, bevor ich wieder aufs Wasser hinaus schaue.
Im nächsten Moment beginnt das Gras um uns herum leise zu rauschen und eine warme Sommerbrise fegt an uns vorbei. Zufrieden schließe ich die Augen, bis Faye neben mir ein lautes, erfreutes Quieken von sich gibt.
Sie ist aufgestanden und hat beide Arme weit ausgebreitet, als wollte sie versuchen, abzuheben.
„Was machst du da? Versuchst du abzuheben?“, frage ich lachend.
„Eventuell!- hey, Lana?“.
„Hm? Was ist?“, frage ich und stütze den Kopf in die Hände.
„Warst du schon einmal in einem anderen Land?“.
Fayes Frage lässt mich erst einmal stutzig werden.
„Ähm – ich glaube ja, einmal. Aber das ist so lange her, ich weiß gar nicht mehr..!“, sage ich zögernd und gebe mir die größte Mühe, an irgendeine Erinnerung aus dieser Zeit heranzukommen.
Es geht nicht.
Warum weiß ich eigentlich nichts mehr darüber? Irgendwas davon muss doch noch präsent sein!
„Ich war noch nie weg! Geht ihr mal wieder irgendwohin?“, bohrt Faye weiter.
„Darauf kann ich wohl lange warten!“, sage ich und lache bitter auf, als mir Mum´s und Dad´s Worte vom letzten Jahr wieder einfallen.
Und die vom vorletzten Jahr..
Und die davor..
„Lana?!“, rüttelt Fayes Stimme mich aus meinen Gedanken, die gerade dabei waren, sich immer düsterer zu färben.
„Jep, was willst du wissen?“, frage ich.
„Warum geht ihr nicht mehr weg? Warum nur einmal und dann so lange Zeit nicht mehr?“.
„Frag meine Eltern!“, gebe ich zurück.
„Hm.. du würdest schon gerne wieder irgendwo anders hin, stimmt´s?“, fragt sie wieder und schaut zu mir herüber.
„Natürlich will ich das! Aber ich bekomme einfach nicht heraus, warum sie sich so anstellen!“.
„Und du hast nicht nachgefragt, warum?“.
„Glaub mir, bei Eltern wie meinen ist es manchmal besser, einfach gar nicht nachzufragen!“, sage ich und lasse einen tiefen, frustrierten Seufzer los.
Dann sagt sie nichts mehr. Und ich auch nicht.
Beide starren wir nur auf den See hinaus, wo bereits die ersten Anzeichen der Dämmerung eintreten. Die Sonne hat sich in einen große, goldene Kugel verwandelt, deren Strahlen das Wasser magisch erscheinen lassen.
Als ich einen raschen Seitenblick auf Fayes Anhänger werfe, nehme ich noch immer ein leichtes Glühen wahr.
„Warum leuchtet es immer noch?“, frage ich in die Stille hinein.
Faye dreht den Kopf zu mir. Schaut mich fragend an und dann wieder weg.
Und ich frage nicht mehr.
Wieder vergehen Minuten, in denen wir einfach nur aufs Wasser schauen, bis ich plötzlich ein leichtes Flimmern auf einem der großen Steine wahrnehme, die einige Meter vor uns aus dem Wasser herausragen.
Verwundert lege ich den Kopf schief und blinzele zwei, dreimal.
„Hast du das gerade gesehen?“, frage ich Faye, ohne den Blick abzuwenden.
„Was gesehen?“, kommt es neugierig zurück.
„Ein Flimmern, da drüben bei den Felsen!“, sage ich und noch im selben Moment taucht es wieder auf – aber verstärkt.
„Das ist keine Einbildung!“, murmele ich und stehe auf.
Es sieht aus, als ob die Lichtstrahlen sich vernetzen und ein Haufen kleiner Leuchtfuken sich darin langsam zu einer Silhouette fügen.
Einem Menschen.
Einem Mann, der genau in unsere Richtung sieht – mit besorgter Miene. Auch wenn er eigentlich nicht zu erkennen sein dürfte, kommt es mir fast so vor, als bestehe eine Ähnlichkeit mit Faye.
Faye, die neben mir vorsichtig eine Hand hebt, lässt sie jedoch gleich wieder sinken lässt.
„Kommt er dir nicht auch bekannt vor?“, frage ich leise und sehe aus dem Augenwinkel ein kleines Lächeln über ihre Lippen huschen.
Dann beginnt die Luft neben ihm ebenfalls zu flimmern und eine zweite Gestalt bildet sich aus den Lichtstrahlen heraus.
Mit dem Rücken zu uns gekehrt und von der Abendsonne durch einen hellen Schein umrahmt schaut sie über ihre Schulter zu uns herüber, wobei ihr eine lange, dunkle Lockensträhne ins Gesicht fällt.
Sie hat denselben Gesichtsausdruck wie der Mann neben ihr. Besorgt, fragend und verwundert zugleich.
Erst als sie nach Sekunden, die mir ewig vorkommen, den Kopf wieder zur Seite dreht und den Mann ansieht, verschwindet ihr Bild innerhalb eines kurzen Flackerns.
Und seins ebenfalls.
Wortlos drehe ich mich nach Faye um, die mit einem leisen Lächeln im Gesicht dasteht und noch immer in dieselbe Richtung schaut, bevor sie meinen Blick auffängt und sich zu mir dreht.
„Und, was denkst du?“, fragt sie und ein neugieriges Blitzen huscht durch ihre Augen.
„Ich denke, dass ich langsam verrückt werde!“, antworte ich und wende mich kopfschüttelnd zum Gehen.
„Willst du wirklich schon zurück?“, ruft sie mir erstaunt hinterher.
„Nein! Aber es ist wohl eine bessere Lösung!“, rufe ich zurück und schlucke den Kloß herunter, der sich in meinem Hals bildet.
„Das gerade war dir zu viel, oder?“, fragt Faye, als sie mich eingeholt hat und sieht unsicher an mir hoch.
„Ich glaube schon! Ich fühl mich im Moment einfach nicht so gut, Faye! Vielleicht sollte ich doch auf meine Eltern hören und versuchen, ein bisschen runterzukommen. Das scheint das Einfachste von Allem zu sein.“, antworte ich und biege in unseren Garten ein, während sie mir wortlos, aber mit energischen Schritten folgt.
Gerade, als ich nochmal nach den richtigen Worten suche, ertönt hinter uns Mum´s Stimme.
„Lana, es gibt Abendessen, kommst du dann?“.
Langsam drehe ich mich nach ihrer Stimme um und sehe sie lächelnd auf der Terrasse stehen und auf uns herabschauen.
Ihr Lächeln wirkt irgendwie falsch. Es ist nicht echt, eher gezwungen.
„Ich komme gleich!“, rufe ich zurück und im selben Moment als ich mich nach Faye umdrehe, ist sie wie vom Erdboden verschluckt.
Ist sie etwa einfach nach Hause gegangen? Ohne noch irgendetwas zu sagen?
„Faye?!“, rufe ich und werfe noch einen letzten Blick über die Wiese, bevor ich zurück ins Haus gehe.
Ich muss ehrlich zugeben, als ich zur Küche hereinkomme und sie neben Dad am Esstisch sitzen sehe, bin ich ein klein wenig perplex.
Aber nur ein klein wenig.
„Setz dich, es gibt nur noch Edamerkäse für dich! Den Tilsiter hab ich dir weggemopst!“, sagt sie, als sie meinen Blick auffängt.
„Faye?! Du isst mit uns mit?“, frage ich kopfschüttelnd, kann mir aber ein Grinsen nicht verkneifen, wie sie da am Tisch sitzt und augenzwinkernd die Käsepackung hochhält.
„Natürlich – und jetzt nimm Platz!“, sagt sie und deutet auf den freien Platz neben sich.
„Liebend gerne!“, lache ich und lasse mich neben ihr auf den Stuhl fallen.
„Sie kam gerade zur Küchentüre herein und da habe ich sie eingeladen, mit uns zu essen. Wenn sie schon einmal da ist – ich war mir sicher, dass es dir nichts ausmacht, oder?“, erklärt Dad neben ihr und schaut mich fragend an, als ich blitzschnell nach dem Schinken schnappe, den Mum gerade wegstellen wollte.
„Nein, ich finde es gut so!“, sage ich und schiebe mich in meinem Stuhl ein Stück zurück, um die noch fehlende Butter aus dem Kühlschrank zu holen.
„Fehlt noch etwas?“, fragt Mum in einem Ton, der ihre Stimme leicht zittrig klingen lässt.
Überrascht horche ich auf und drehe mich zu ihr um.
„Nur – die Butter. Ist ja halb so wild!“, sage ich und winke lachend ab, um mich gleich darauf in Richtung Kühlschranktüre zu drehen.
Mum´s Blick gleicht in etwa dem eines gehetzten Tieres. Nur warum ist mir schleierhaft.
Völlig in Gedanken nehme ich die Butter aus dem Kühlschrank, lasse die Türe zuschnappen und gehe damit zurück an den Tisch.
„Und Faye, schmeckt deine Neukreation?“, höre ich Dad fragen.
„Eigentlich schon, wenn man mal davon absieht, dass es eigentlich gar nicht zusammenpasst!“, antwortet sie munter und legt ihr Messer beiseite.
Dad lacht, Faye lächelt, ich schaue zu Mum, deren Blick direkt zu mir zurückgeht.
Sollte ich mir Sorgen machen?
„Bitteschön!“, holt mich Fayes Stimme aus meinen Gedanken und ich sehe, wie ein Schinken-Käse Brot auf meinen Teller rutscht.
„Ähm, Danke!“, sage ich überrascht und greife danach.
„Von welcher Kreation habt ihr gerade gesprochen?“, hake ich nach, um mich ebenfalls in ihr Gespräch einzuklinken.
„Naja, also da war das Brot – und dann noch Käse, Schinken, zwei Gurkenscheiben..und..naja, Marmelade?“, murmelt sie, als wäre es ihr nun doch peinlich.
„So seltsam klingt es doch gar nicht – das hab ich auch schon einmal gemacht!“, sage ich und muss beim Gedanken daran schmunzeln.
„Gut, dann ist es ja nicht total verrückt!“, sagt sie zufrieden und steckt den letzten Bissen ihrer Kreation in den Mund.
„Soll ich den Tisch abwischen?“, fragt Faye und stützt sich an der Tischkante ab, als Mum und Dad gerade dabei sind, das Geschirr abzuräumen.
„Nein, lass nur, wir machen das schon!“, sagt Dad und lächelt ihr kurz zu, bevor er sich wieder zu Mum dreht.
„Gehen wir Fernsehen kucken?“, fragt Faye dann und schaut fragend an mir hoch.
„Können wir schon machen. Wieso, kommt etwas Besonderes, das du sehen willst?“, frage ich grinsend und winke sie hinter mir her ins Wohnzimmer.
„Ich glaube schon und ich denke, dich könnte es auch interessieren!“, murmelt sie und folgt mir.
„So. Welcher Sender soll es sein?“, frage ich, als ich mich mit der Fernbedienung in der Hand in die Couch fallen lasse.
„Hm..ich weiß nicht genau – könnten wir mal alle durchgehen?“, fragt Faye und steht hochkonzentriert und mit verschränkten Armen vor dem Fernseher.
„Okay, an mir soll es nicht liegen.“, sage ich lachend und zippe durch alle möglichen Programme.
„Nein.“.
Ich zippe geduldig weiter.
„Nein“.
„Neein!“.
Im nächsten Moment stoßen wir auf ein Programm, in dem gerade eine Schießerei vor sich geht. Ein Knall ertönt und Faye fällt vor Schreck zurück, was mich unweigerlich zum Lachen bringt.
„Man, wechseln wir das Programm!“, sagt sie etwas verärgert und reibt sich den Kopf.
„Alles okay? Du weißt, du kannst dich auch zu mir auf die Couch setzen!“, sage ich und rutsche automatisch etwas zur Seite.
„Nein, erst finden wir den Film!“, sagt sie bestimmt und schaut schon wieder mit diesem unheimlich ernsten Blick in den Fernseher, bei dem ich mir ein Grinsen nicht verkneifen kann.
„Sollen wir nicht einfach in der Fernsehzeitung nachschauen?“, schlage ich einen gute Minute später vor und greife gerade danach, als Faye einen spitzen Freudenaufschrei von sich gibt.
„Was? Was ist jetzt los?“, frage ich überrascht und hebe den Kopf.
Faye hat sich auf den Teppich gesetzt und hängt mit den Augen förmlich am Bildschirm. Als ich sehe, was wir eingeschaltet haben, muss ich ebenfalls lächeln.
„Das lassen wir!“, sagt Faye, ohne den Blick abzuwenden.
„War es das was du sehen wolltest? Lilo&Stitch?“, frage ich und sehe überrascht zu ihr herüber.
„Ja, das war es.“, flüstert sie kaum hörbar und rückt noch etwas weiter an den Fernseher.
„Okay, dann schauen wir das. Ich hab nichts dagegen!“, sage ich und lege mich der Länge nach hin, um es ein bisschen gemütlicher zu haben.
Eine Weile achte ich gar nicht auf den Film, sondern darauf, wie gebannt Faye an der Handlung dran ist. Es ist wahrscheinlich einer ihrer Lieblingsfilme.
„Wie gesagt, du musst nicht den ganzen Abend auf dem Teppich sitzen!“, flüstere ich ihr nochmals zu, doch sie scheint mich gar nicht wahrzunehmen.
Also wende ich mich ebenfalls wieder dem Fernseher zu und beobachte in aller Ruhe, was sich darin abspielt, bis ich irgendwann leicht schläfrig werde.
Genau in dem Moment höre ich ihr leises Getrappel und schon hievt sie sich hinter meinen Füßen auf die Couch, kommt zu mir vorgekrochen und schmiegt sich dicht an mich.
„Hi, hast du dich doch entschieden, die gemütlichere Variante zu wählen!“, sage ich und werfe einen Teil der Decke über ihre Schultern.
„Ich fühl mich so einfach wohler!“, murmelt sie nur und taucht dann wieder in die Filmhandlung ab, was daran erkennbar ist, dass auch meine nächste Frage an ihr vorbeigeht.
„Jetzt kommt gleich ein guter Teil!“, flüstert Faye nach einiger Zeit und wirft mir ein kurzes Lächeln zu.
Als das kleine blaue Wesen gerade dazu ansetzt, etwas zu sagen, höre ich Faye etwas flüstern.
„Was?“, hake ich leise nach.
„Ohana.“, murmelt sie nur.
„Ohana?!“.
„Ich erkläre es dir nachher, ich will nur den Film fertig sehen, geht das okay?“, flüstert sie zurück
„Ist okay.“, sage ich und versinke, ohne es richtig wahrzunehmen, in einen Tiefschlaf.
Als ich die Augen aufschlage, sehe ich auf unseren See hinab, der komplett zugefroren ist.
Schon wieder so eine seltsame Traumvorstellung!
„Was soll ich an einem vereisten See ?!“, murmele ich leise vor mich hin.
"Das sind deine Erinnerungen an deine Vergangenheit, Ms. Darley!"
Gut, okay – ich höre Stimmen. Was ganz Neues!
„Wieso meine? Was hat ein vereister See mit meinen Erinnerungen zu tun? Die sind nicht, vereist, wie du es so schön sagst“, gebe ich zurück.
2Sind sie nicht? Stimmt, woher sollst du wissen, dass eine kleine Zeitspanne davon in deinem Gedächtnis sozusagen „eingefroren“ ist. "
Zugegeben, das schockt mich jetzt schon ein wenig.
„Das heißt, ich weiß von einem Teil meiner Vergangenheit nichts mehr?!“.
Ganz genau.
„Und der Teil scheint wichtig zu sein, hm?“.
So ziemlich. Er liegt jetzt auch schon eine ganze Weile unter Eis, metaphorisch ausgedrückt. Und es ist dir auch schon jemand über den Weg gelaufen, der es ein Stück weit zum Schmelzen bringen konnte.
Langsam beginnt es mir zu dämmern, von wem hier die Rede ist! Gerade als ich nach der Person fragen will, ruckelt die gesamte Umgebung um mich herum und der Boden rückt schubartig immer näher, was mich erst einmal nach Luft schnappen lässt.
„Halt das bitte an!“, rufe ich mit zittriger Stimme und als ich die Augen wieder aufschlage, hänge ich nur noch wenige Meter über der Eisfläche und starre auf einen kleinen Körper herab, der der Länge nach auf dem Bauch liegt und beide Handflächen ins Eis krallt.
„Faye..!“, stoße ich in einem leisen Aufschrei aus und sehe, wie mein gehetzter Atem sich in kleine, weiße Wolken verwandelt.
Es ist okay, Lana! Ab jetzt bringen wir alles Vergessene wieder in Ordnung. Es war sowieso schon lange an der Zeit dazu. Du erhältst alle deine Erinnerungen nach und nach zurück, alles auf einmal wäre zu viel. Okay?
Ich kann nicht antworten, wie ich gerne würde. Ich versuche zu nicken, doch selbst das misslingt mir.
„Faye?“, versuche ich sie nochmals zu erreichen, doch als sie wieder nicht antwortet, sehe ich, wie sich ihre Finger tiefer ins Eis krallen und ein leises Krachen ertönt.
Ich würde gerne meine Hand nach ihr ausstrecken, merke aber schnell, dass ich sie im Moment wohl nicht bewegen kann.
Also schaue ich einfach zu.
„Lana? Das ist doch okay, oder?“.
Diesmal ist es tatsächlich Fayes Stimme, die von unten herauftönt.
„Ja, vollkommen okay! Ich will schließlich auch wieder wissen, wer du bist, Faye!“, antworte ich und muss dabei sogar lächeln.
Und in diesem Moment dreht sie den Kopf für eine Sekunde zu mir.
„Ich will dir damit nicht wehtun. Ich weiß, dass es viel ist.“, sagt sie und dreht den Kopf wieder weg.
Das Wasser, das unter dem Eis ist, beginnt zu schimmern und plötzlich ist da noch eine zweite Gestalt, direkt unter Faye – die eine Handfläche direkt unter ihre hält.
Eine größere, ältere Kopie, die im Gegensatz zu uns allen ein Lächeln auf den Lippen hat.
Noch ein Krachen ertönt. Lange, dünne Schlieren ziehen sich übers Eis und verzweigen sich immer weiter und noch bevor ich mitbekomme, was genau passiert, krachen die Flächen unter Faye ein und sie taucht ins eiskalte Wasser.
Ich kann nicht einmal ihren Namen rufen, schon schießt ein ziehender Schmerz durch meinen Kopf und reißt mich völlig aus der Situation heraus.
„Dann schlaf mal gut, Faye! Es war schön, dass du mal wieder vorbeigeschaut hast!“.
Als ich die Augen öffne, muss ich mich erst einmal an das leichte Schummerlicht und die Dunkelheit um mich herum gewöhnen. Der Fernseher ist ebenfalls ausgeschaltet und nur im Flur nebenan brennt Licht.
„Faye!“, rufe ich stumm ihren Namen, als ich sie an der Haustüre stehen sehe und sie fängt meinen Blick auch sofort auf, winkt aber nur noch kurz mit dem kleinen Finger und einem Lächeln im Gesicht, bevor Dad hinter ihr die Haustüre schließt.
Dann ist sie weg.
Das Mädchen, das auf grausame Weise miterlebt hat, wie ihr Vater bei einem Autounfall ums Leben kam.
Das Mädchen, das nur ein halbes Leben hat und das jedem, der ihr auch nur ansatzweise vertrauter wird, sagt, er soll ihren ersten Vornamen streichen, wobei Faye eigentlich der Zweitname ist.
Wie gern hätte ich ihr noch gesagt, dass ich jetzt wieder alles weiß, was sie mir erzählt hat – leider auch die weniger angenehmen Sachen, die von Seiten meiner Eltern kamen. Meine gesamte Erinnerung, an die Anfänge der jetzigen Sommerferien, ist zurück.
Mein Blick wandert zurück zum Fernseher…
Was haben wir nochmal angeschaut?
..weiter zum Couchtisch, zu den Fernsehzeitungen, bis mein Blick an einem kleinen Zettel hängen bleibt, der darauf liegt und ganz offensichtlich an mich gerichtet ist. Als ich, mit zusammengekniffenen Augen, über die geschwungene, orange Filzstiftschrift fliege, weiß ich wieder, welcher Film es war und muss augenblicklich darüber lächeln.
„Ohana heißt Familie – und Familie heißt, dass alle zusammenhalten.“. Für mich gehörst du zu meiner dazu!
„Guten Morgen, Mäuschen!“.
„Ich hab nicht wirklich die ganze Nacht auf der Couch geschlafen, oder?“, frage ich mit noch geschlossenen Augen.
„Sieht für mich ganz danach aus, kommst du Frühstücken?“, fragt Dad wieder und jetzt endlich schlage ich die Augen auf und sehe direkt in seine Richtung.
„Willst du mal was wissen?“, frage ich dann und schwinge meine Beine von der Couch.
„Was denn?“, fragt er neugierig zurück.
Eine Sekunde lang halte ich an seinem Blick fest, schätze ab, ob das was ich jetzt gleich sagen werde, auch wirklich richtig ist.
Dad sollte es wohl auf jeden Fall wissen, bei Mum bin ich noch immer skeptisch. Es scheint mir besser zu sein, sie in dem Glauben zu lassen, dass alles noch nach ihren Vorstellungen läuft.
„Lana?“.
„Du warst dagegen. Gegen die Aktion mit diesem komischen Mittel, das Pulver, das Mum verwendet hat, oder?“, sage ich schließlich und lehne mich zurück, um auf eine Antwort zu warten.
Verwunderung tritt in sein Gesicht und für eine Sekunde bleibt ihm der Mund offen stehen.
„Du kannst dich nicht ernsthaft daran erinnern, oder?“, fragt er, als er sich wieder gefangen hat.
„Oh, doch. Ich kann!“.
Sekunden später hat er sich neben mir in seinem schwarzen Lieblingssessel niedergelassen und beobachtet mich aufmerksam, aber nicht unbedingt beunruhigt.
„Und was genau weißt du wieder, Lana?“, fragt er schließlich und lässt einen Seufzer los.
„Alles ab Beginn dieser Sommerferien. Die Dinge, mit denen ich über Faye geredet habe und alles, was sie mir über sich erzählt hat. Und die Aktion mit dem Pulver, das ich nachher zu allererst einmal im Müll entsorgen werde!“, sage ich etwas verärgert.
„Wie auch immer sie das hinbekommen hat, ich bin froh darüber!“.
Überrascht reiße ich den Kopf herum und sehe Dad entgeistert an.
„Froh?!“.
Er nickt und ein Lächeln huscht dabei über sein Gesicht.
„Du hast wahrscheinlich nicht mitbekommen, wie sehr mir die Aktion deiner Mutter gegen den Strich ging. Ich dachte ja eigentlich noch nie, dass es eine gute Lösung ist, dich auf eine solche Weise zu beeinflussen – aber es wäre auch nicht gut gewesen, dich von deinem Vergessen wieder zurück in die Erinnerung zu holen, nicht so – ruckartig! Ich – bin eigentlich auch, im Gegensatz zu deiner Mum, ganz froh, dass du Faye hast, auch wenn sie wirklich eine seltsame Art an sich hat, glaube ich, dass ihr euch nicht gegenseitig schadet, ganz im Gegenteil. Ich denke, sie wird dir noch bei einigem behilflich sein!“, erklärt er, hält dann kurz inne und schaut hinüber in Richtung Flur.
„Das heißt, du hast gar nichts gegen Faye!“, murmele ich ein Stück weit erleichtert.
„Absolut nicht, für mich ist sie jederzeit willkommen! Ich mache mir zwar auch hin und wieder Sorgen, aber ich glaube, dass es einfach besser so ist, wenn ihr zusammen seid!“.
„Danke!“.
„Ich will auch nicht, dass du jetzt denkst, deine Mutter wäre gegen dich! Sie macht sich nur Sorgen, das ist Alles. Sie will dir eben helfen, so gut sie kann – nur ihre Mittel sind ein bisschen, naja – fragwürdig.“.
Ich nicke nur und erinnere mich daran, wie Faye das ebenfalls zu mir gesagt hat.
In manchen Dingen sind sich die beiden wirklich ähnlich.
„Also ist es okay für dich, wie die Dinge momentan laufen?“, hake ich nochmals nach.
„Zu sagen, dass es okay ist, wird wohl schwierig. Lassen wir einfach alles auf uns zukommen!“, sagt er, erhebt sich aus dem Sessel und sieht nochmals in meine Richtung.
„Ist gut!“, antworte ich schnell und meine es auch so.
„Liebling, kommt ihr dann frühstücken. Ich hab nicht vor, noch länger zu warten!“.
„Das Staatsoberhaupt ruft!“, sagt Dad und schaut mich mit ernster Miene an, kann sich das Grinsen aber doch nicht verkneifen.
Schnell springe ich auf und rase in die Küche, während Dad ganz gemütlich hinter mir her schlurft.
„Was hattet ihr denn so lange zu bereden?“, fragt Mum erstaunt, als ich mich schließlich neben ihr auf die Bank fallen lasse und auch Dad den weiten Weg durch den Türrahmen hinter sich gebracht hat.
„Sie hat mir nur erzählt, dass sie und Faye gestern den restlichen Tag am See verbracht haben. Du hast dich doch gewundert, wo Lana so plötzlich hin ist, als wir vom Einkaufen kamen, also dachte ich, ich frag einfach mal!“, sagt er völlig entspannt und zieht den Stuhl zurück.
Ich nicke nur und widme mich vorsichtshalber meinem Frühstück.
Dad hält es also auch für die bessere Idee, das Ganze vorläufig von Mum zurückzuhalten.
Stumm macht sich jeder von uns über sein Frühstück her. Es ist erstaunlich zu beobachten, wie jede von Dad´s Handlungen entspannter wirkt, als sie es gestern war. Die Art, wie er seinen Kaffee trinkt, die Tasse abstellt – und vor allem zu mir hersieht. Dieses erleichterte, beruhigende Lächeln, das mir ein leicht schlechtes Gewissen aufdrängt, auch wenn ich weiß, dass es nicht seine Absicht ist.
Besorgt sehe ich zu Mum, die gedankenversunken in ihrer Tasse rührt. Merkt sie, dass sich etwas verändert hat? Es ist nicht unbedingt in meinem Sinne, dass irgendeine Geheimnistuerei eine Mauer zwischen uns stellt – aber in diesem Moment wirkt es beinahe so. Trotzdem versuche ich ihren Blick aufzufangen, aber sie schaut weder zu Dad, noch zu mir.
„Mum? Alles okay?“.
„Ja. Ja, was soll nicht in Ordnung sein?“, fragt sie zurück und sieht mich überrascht an.
Erfolglos suche ich nach irgendeinem Zeichen, aber ihr Gesichtsausdruck bleibt der Gleiche. Kein verräterisches, unsicheres Zucken um die Mundwinkel, dass ihre lockere Haltung als Lüge entlarven würde, einfach gar nichts!
„Lana?! Was soll denn sein?“.
„Tschuldige, ich weiß auch nicht, wie ich darauf komme – du warst gerade nur so schweigsam!“, murmele ich etwas enttäuscht und drehe mich von ihr weg.
„Das braucht dir doch nicht zu denken zu geben! Weißt du, ich glaube, dass ich dir diese Eigenschaft ziemlich gut vererbt habe!“, sagt sie lachend und schiebt ihren Frühstücksteller zur Seite.
Fragend drehe ich mich nach ihr um.
„Wovon genau redest du?“, hake ich skeptisch nach.
„Du bist in Gedanken immer irgendwo anders – und man hat leider absolut keine Idee, was dir in solchen Momenten durch den Kopf geht!“, antwortet sie und ein Lächeln huscht über ihr Gesicht.
„Stimmt. Aber hey – ich erzähle euch doch sowieso so gut wie alles!“, gebe ich zurück.
„So ist es auch gut! Das darfst du gerne weiterhin machen!“, sagt Mum und sieht mich dabei aufmerksam an.
„Ich bin 14Jahre alt – ich besitze dieses schicke Teenagerrecht, das besagt, dass ich euch wohl niemals komplett alles erzählen muss!“, sage ich und grinse erfreut vor mich hin.
Mum seufzt nur und beginnt damit, das Frühstücksgeschirr zusammenzustellen.
„Das mit dem Kontern üben wir noch, Schatz!“, sagt Dad, steht von seinem Stuhl auf und kommt an Mum´s Seite, um ihr einen Kuss auf die Wange zu geben.
„Okay, ich glaube, ich sollte langsam ins Badezimmer gehen und mich fertig machen!“, sage ich, um der mir etwas peinlichen Situation zu entfliehen, und rutsche blitzschnell von der Sitzbank.
„Gut. Mach du das mal!“, ruft Dad mir lachend hinterher, bevor ich aus der Küche verschwinde.
„Ohje, Mum!“, stöhne ich oben im Badezimmer angekommen und lasse mich rücklings entlang der geschlossenen Türe zu Boden rutschen.
War ihr Verhalten nun gespielt oder nicht? Wie kann sie in einem Moment, in dem Dad ihr von Faye erzählt, vor allem, wenn sie mit mir zusammen war, nur so entspannt bleiben?
Das ist so untypisch für sie – ahnt sie denn wirklich nicht das Geringste?!
Seufzend stelle ich mich vor den breiten Spiegel und schnappe mir meine Zahnbürste.
Würde sie wirklich solche Angst haben, vor den Dingen, die Faye mir sagt, dann müsste sie sie ja fast schon von hier wegschleppen!
Ich weiß, dass eine Person zurückkommen wird, die ich die letzten Jahre über vergessen habe – aber warum eigentlich? Wieso sollte ich jemanden vergessen, das war bisher nie der Fall.
„Lana? Hast du für heute eigentlich schon was vor?“, ertönt Dad´s Stimme von unten.
Grübelnd fahre ich mir mit der Bürste durch die Haare und ziehe die Schublade mit den Haarklammern heraus.
„Mausebär, wenn du mich nicht hören kannst, weil dein Kopf mal wieder in der Toilettenschüssel steckt – es tut mir Leid, dir das sagen zu müssen, aber da drin deine Haare zu waschen, ist nicht gerade die beste Idee um Wasser zu sparen, Liebes!“.
Grinsend flechte ich mir beidseitig jeweils eine Haarsträhne zurück und stecke sie als dünnen Kranz um den Kopf mit beiden Klammern fest.
„Warte schnell, ich komme gleich nach unten!“, rufe ich, werfe noch einen letzten Blick in den Spiegel und flitze dann nebenan in mein Zimmer, um mich anzuziehen. Nachdem ich mein geliebtes blaugraues Volanttop und die grauen Shorts endlich im Schrank aufgestöbert habe, schlendere ich zufrieden die Treppen hinunter.
„Das hat ganz schön gedauert! Also? Wie lautet ihre Antwort, Madame?“, fragt Dad, der mit verschränkten Armen vor mir steht.
„Der Witz war schon etwas veraltet!“, sage ich und klopfe ihm lachend auf die Schulter.
„Du weißt, wie gerne ich den Toilettenspruch bringe! Außerdem bist du die Einzige, die mich dabei nicht schräg anschaut!“, verteidigt er sich und dreht sich mit gespielt enttäuschter Miene von mir weg.
„Dad?“.
„Ja, Lana?“.
„Ich dachte, es wäre ganz gut, nochmal bei Faye vorbeizuschauen. Meinst du das geht in Ordnung? Auch wegen Mum?“, frage ich und sehe unsicher in seine Richtung.
„Ja, ich denke schon. Aber nicht zu lange, wir haben uns für heute auch noch etwas überlegt!“, sagt er und lächelt mir zu.
Überrascht lege ich den Kopf in den Nacken und starre für einige Sekunden an die Decke.
„Ich denke nicht, dass ich so lange brauche! Was habt ihr denn geplant?“.
„Einen kleinen Familienausflug in den Park! Was hältst du von Picknicken? Das haben wir früher immer so oft gemacht, ich dachte, es wäre mal wieder eine nette Idee!“.
Erstaunt kippe ich den Kopf zurück nach vorne.
„Ein Picknick?!“, frage ich erstaunt und schaue lächelnd in Dad´s nickendes Gesicht.
“Das ist in der Tat keine schlechte Idee!”, gebe ich schwärmerisch zu und lege schon die Hand auf die Haustürklinke.
„Gut, dann gehen wir los, sobald du zurück bist. Deine Mutter und ich bereiten schon einmal das Essen vor!“, sagt Dad und reibt sich erfreut die Hände.
„Bis gleich dann!“, wispere ich ihm zu, bevor ich aus der Tür verschwinde.
Gerade als ich auf dem Weg zu den Saileys bin, entdecke ich hinter den halbhohen Sträuchern einen rotblonden Lockenschopf. Als ich schließlich dahinter hervorsehe dreht Mrs. Sailey den Kopf in meine Richtung und ein erfreutes Lächeln umspielt ihre Gesichtszüge, während sie mit der Gartenschere in ihrer Rechten innehält.
„Hallo Lana, wie schön dass du vorbeischaust! Du kennst dich nicht zufällig mit kunstvollen Heckenschneidtechniken aus?“, fragt sie und sieht mich erwartungsvoll an. Ich schüttele nur entschuldigend den Kopf, dann fällt mein Blick auch schon auf Faye, die neben ihrer Mutter, schläfrig und etwas desinteressiert, auf einem umgedrehten Plastikeimer sitzt. Als wäre es bereits Herbst, ist sie in eine dunkelblaue Kuscheldecke eingewickelt und macht einen leicht kränklichen Eindruck.
„Faye, alles gut bei dir? Bist du krank?“, frage ich erstaunt und knie mich neben sie.
Als sie den Kopf hebt liegt zuerst ein erstaunter, dann aber ein erfreuter Ausdruck in ihren Augen.
„Lana! Ja, also – ich hab mir nur eine Erkältung geholt, das ist alles!“, sagt sie und nickt mir mit einem verschwörerischen Lächeln zu.
Ich versuche möglichst normal zurückzulächeln, was mir nicht so ganz gelingt. Nicht, wenn ich weiß, dass das Alles hier nur passiert, weil ich mit der Grund dafür bin. Rein theoretisch hat sie mir, wenn auch auf recht seltsame Weise, geholfen, meine Erinnerungen wieder aufzubrechen.
„Es ist mir ja schleierhaft wie sie das geschafft hat, mitten im Sommer! Außer ich lege Wert auf deine Regenwanderung im Alleingang letztens!“, murmelt ihre Mutter in leicht vorwurfsvollem Ton.
Faye zieht nur leicht den Kopf ein und schaut dann grinsend zu ihrer Mutter hoch.
„Wie sieht´s mit Fieber aus?“, frage ich und sehe ebenfalls zu Mrs. Sailey.
„Nur eine leicht erhöhte Temperatur, wir sind eigentlich auch nur kurz an der frischen Luft dass sie nicht den ganzen Tag im Bett liegt.“.
„Ich verstehe schon.",murmele ich leicht schlechten Gewissens, beuge mich seufzend zu Faye vor und drücke sie, wie eine kleine Schwester, an mich, wobei sie sich im ersten Moment vor Überraschung versteift.
„Ihr beiden seid mir ja welche – fast ein bisschen wie Geschwister!“, sagt Mrs. Sailey in einer Mischung aus Lachen und Rührung.
„Für mich ist sie eine Schwester!“, sage ich, löse mich von Faye, lasse jedoch beide Hände auf ihren Schultern und lächele sie entschuldigend an, worauf sie nur hastig nickt.
„Ich gehöre praktisch zur Familie!“, sagt Faye lachend und fährt sich mit dem Handrücken über die Augen.
„Das sehe ich mal als etwas Gutes an. Faye, ich würde sagen, wir gehen dann langsam mal wieder ins Haus – nicht dass du mir wirklich noch ernsthaft krank wirst.“.
Faye nickt nur und steht leicht schwankend von ihrem Sitz auf, bevor sie mir in die Arme fällt.
„Danke, dass du nochmal vorbeigeschaut hast! Hast du den Zettel gelesen?“, wispert sie mir zu.
„Hab ich, er liegt noch immer auf meinem Nachttisch.“, gebe ich zurück und winke ihr zu, als sie sich mit einem strahlenden Lächeln von mir abwendet und, mir zurückwinkend, ihrer Mutter ins Haus folgt.
„Ich schau in nächster Zeit nochmal vorbei, okay?“, rufe ich ihr noch eilig hinterher, als die Haustür schon fast zu ist.
„Wenn du meinst, dass du die Zeit dazu findest!“, gibt Faye nur zurück und ein leichtes, grünes Leuchten tritt in ihre Augen, als die Türe in einem langsamen Schwung zufällt.
Wenn ich die Zeit dazu finde?!
Kopfschüttelnd wende ich mich zum Gehen, als mir das gleißende Morgenlicht, das zwischen den Ästen der angrenzenden Allee hindurchscheint, in die Augen schießt.
„Was für ein Wetter!“, murmele ich mit zusammengekniffenen Augen, als mir die dunkle Silhouette neben einem der vorderen Baumstämme ins Auge fällt.
„Lana? Bist du dann soweit, deine Mutter fängt schon wieder mit dem Gedränge an, dass wir bald aufbrechen sollten!“, höre ich Dad´s belustigte Stimme hinter mir, beobachte jedoch nur die Hand der Silhouette, die langsam den Baumstamm entlang hinabgleitet und einen Schritt in meine Richtung setzt.
Eine Erinnerung durchzuckt mein Gedächtnis und ich sehe ein Schmunzeln, zwei leuchtende grüne Augen und ein oranges Bändchen an einem dünnen Handgelenk – all diese Dinge gehören zu einem kleinen, aufgeweckten Mädchen, dessen Gesicht mir zwar nur kurz zugewandt ist, mir aber seltsam bekannt vorkommt.
„Kriege ich keine Antwort?“.
„Kannst du noch ganz kurz warten?“, rufe ich und drehe ihm den Kopf zu, doch als ich hastig wieder Richtung Allee blicke, ist sie, wie ich es schon befürchtet hatte, bereits verschwunden.
Plötzlich legen sich von hinten zwei Hände auf meine Schultern.
„Komm schon, ich würde auch sagen, dass es langsam Zeit wird, zu gehen!“, sagt Dad munter, doch in dem Moment, in dem er mich direkt ansieht, huscht ein grünes Licht durch seine blauen Augen.
Überrascht schnappe ich nach Luft und trete automatisch einen Schritt zurück, während ich ihn, noch immer etwas perplex, anstarre.
„Ist alles in Ordnung, du schaust so komisch?“, fragt er und sein munteres Lächeln verrutscht für den Bruchteil einer Sekunde.
„Da war – deine Augen, waren gerade nur in so einem komischen Licht, tschuldigung!“, murmele ich kopfschüttelnd und muss fast schon über mich selbst lachen.
Dad hat mit der ganzen Sache schließlich nichts zu tun.
„Komm schon, gehen wir!“, sage ich, greife nach seiner Hand und ziehe ihn in meiner munteren Fassade zum Haus zurück.
Gerade als ich dem Gartentor einen sanften Tritt mit dem Fuß verpassen will, fährt aus der Ausfahrt ein Auto heraus, gurkt langsam die Straße hoch und hält neben uns.
„So eilig hat sie es also?“, frage ich und drehe schmunzelnd den Kopf in Dads Richtung, der noch immer etwas verwirrt hinter mir steht.
„Wenn ihr nicht einsteigt, gehe ich davon aus, dass ihr das Auto schieben wollt?“, tönt Mum´s ungeduldige Stimme aus dem heruntergelassenen Fenster.
„Hast du denn schon alles eingepackt? So schnell?“, hake ich nach und bin blitzschnell bei ihr am Fenster, um skeptisch einen Blick auf den Rücksitz zu werfen.
„Ich hab komplett alles im Kofferraum verstaut.“, gibt sie lächelnd zurück, als sie meinen forschenden Blick bemerkt, woraufhin ich die Beifahrertür aufreiße und mich auf den Sitz neben sie fallen lasse.
„Und wo soll ich hin? Auf den Rücksitz, als erwachsener Mann?“, fragt Dad und streckt empört den Kopf durchs Fenster.
„Nur für die Hinfahrt, bitte!“, bettele ich und klatsche beide Hände zusammen.
Es funktioniert. Seufzend greift er nach dem Griff der Hintertür und steigt in übertrieben geduckter Haltung auf den Sitz hinter mir.
„So geht das doch nicht, wo ist mein Kindersitz? Das sind ja Zustände hier, tz tz tz!“, murmelt er kopfschüttelnd vor sich hin und wirft einen gespielt genervten Blick aus dem Fenster, der mir ein Grinsen ins Gesicht treibt.
„Auf geht´s, Kinder!“, mischt Mum sich ein und startet in einem Satz den Wagen.
„So, da wären wir! Hier sind wir doch schon lange nicht mehr gewesen, oder?“, sagt Mum begeistert und läuft voraus über die riesige Parkwiese, auf der sich stellenweise bereits einige Familien tummeln.
„Stimmt, es ist wirklich schon eine ganze Weile her..“, gebe ich ihr recht.
Der Ort ist so schön ruhig und abgeschieden. Sonnig, mit einem niedrig gebauten, kunstvollen Brunnen neben einem gepflegten Teich, der von Schilfgras umgeben und mit einem breiten Holzsteg ausgestattet ist, auf dem man sich niederlassen und die Füße im Wasser baumeln lassen kann.
„Es ist großartig, wieso waren wir solange nicht hier?“, frage ich und passe mich schnell wieder ihren schnellen Schritten an, während ich begeistert um mich blicke.
„Die letzten Jahre waren einfach ein bisschen hektisch durch all die Arbeit und alleine bist du nie auf den Gedanken gekommen, hierher zu gehen.“, antwortet Dad und deutet fragend auf einen Platz der ziemlich im Zentrum der großen Liegewiese ist.
„Es hat mich eben immer mehr zum See gezogen. Wann waren wir denn das letzte Mal hier?“, hake ich nach und helfe Dad dabei, die Picknickdecke auszubreiten.
„Ich weiß es ehrlichgesagt auch nicht mehr, aber es muss schon ziemlich lange her sein. Bestimmt zwei, drei Jahre – aber es liegt auch eher abseits!“, meint er und lässt sich neben Mum, die noch im Picknickkorb nach dem Besteck kramt, auf die große Decke fallen.
„Das ist doch alles halb so wild, jetzt sind wir wieder hier, das Wetter ist traumhaft und – wir haben mal einen Tag ganz für uns, im Sinne der Familie!“, kommentiert Mum und zieht freudig drei Pappteller aus dem Korb.
„Tut mir Leid, dass ich bei der Vorbereitung nicht mitgeholfen habe – aber ich hatte noch schnell was Wichtiges zu erledigen.“, entschuldige ich mich, aber Mum winkt nur ab.
„Das ist schon in Ordnung, soviel war es gar nicht!“.
„Also gut, zeig her, was hast du gemacht?“, frage ich und beuge mich neugierig zum Korb vor, als sie jedoch schneller ist und mit beiden Händen hineingreift.
Zuerst zieht sie zwei große Salatschüsseln hervor, gefolgt von ein paar Sandwiches, einer kleinen Box voll Rohkost mit selbstgemachtem Dipp und schlussendlich eine etwas größere Box mit Fruchtspießen.
„Wow, das ist gar nicht mal schlecht für die kurze Zeit!“, gebe ich anerkennend zu und klopfe ihr auf die Schulter.
„Ich hatte das ja auch schon längere Zeit geplant!“, gibt sie schmunzelnd zu und fängt an, etwas von dem Kartoffelsalat auf ihren Teller zu schichten.
Und so verbringen wir eine ganze Zeit lang, Mum´s Essen genießend, in Gesprächen verstrickt, während Dad hin und wieder eines seiner Späßchen loslässt, mit denen er skeptische Blicke von Mum und Begeisterte von mir erntet.
„Liebling, das Essen war wundervoll!“, sagt er mit lobender Geste und lässt sich rücklings ins Gras fallen, während er sich zufrieden den Bauch hält.
„Was wird das hier? Ein Nickerchen?“, fragt sie halb amüsiert, halb ungläubig und beginnt, die Salatschüssel wieder einzupacken.
„Nur eine kleine Ruhepause, ich klinke mich auch bald wieder in eure Gespräche mit ein, versprochen! Euer euch liebender Dad und Ehemann!“, murmelt er und schirmt mit einer Hand die Sonne ab.
Mum schüttelt nur den Kopf und blickt dann zu mir herüber, als wolle sie eine Frage stellen.
„Ja, Mum – was möchtest du mir sagen?“, frage ich und grinse sie erfreut an.
„Du kannst gerne auch ein bisschen in der Gegend herumspazieren, wenn du willst – nicht dass du denkst, du bist hier für den kompletten Mittag mit uns festgebunden! Vielleicht findest du ja jemanden zum Reden, wer weiß!“.
„Naja, so redegewandt wäre ich im Moment ohnehin nicht – aber ich such mir wohl irgendwo ein schattiges Plätzchen, ich hab mir vorsichtshalber meine Musik mitgenommen!“, sage ich und halte lächelnd meinen Mp3-Player in die Luft.
„Also bis nachher, ich bleib irgendwo in der Nähe!“, sage ich und erhebe mich aus meinem Sitz, während ich nach einem geeigneten Platz Ausschau halte.
Sofort sticht mir ein Baum ins Auge, dessen stämmige Äste in der Mitte auseinander gehen und somit einen Teil des Lichts einfangen. Er steht gute 50 Meter weg, etwas abgeschieden und das Einzige was sich um ihn herum herabgelassen hat, sind keine Parkbesucher, sondern leuchtend grünes Gras.
„Das sieht doch nach einem perfekten Platz für mich aus!“, flüstere ich zufrieden und stecke meinen Mp3-Player in die Seitentasche meiner Jeansshorts.
„So, hier kommt hoffentlich niemand so schnell her!“, sage ich und stoße einen wohligen Seufzer aus, als ich mich am Stamm des Baumes niedergelassen habe und den Rücken gegen das knorrige Holz lehne, das mich jedoch nicht stört.
Ich greife nach meinem Mp3-Player, drücke einen Knopf und lasse den Zufall entscheiden, welche Lieder sich nach und nach den Weg zu meinen Gehörgängen suchen. Am liebsten würde ich die Gelegenheit nutzen und ein bisschen mehr Struktur in die Geschehnisse der letzten Zeit bringen - aber sooft ich in Gedanken damit beginnen will, so schnell höre ich auch wieder auf. Ich muss nur ein paar Sekunden mit diesem Versuch aufbringen und schon wird es mir zu viel und ich verliere die Übersicht!
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Tag der Veröffentlichung: 28.12.2011
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