Cover



I Die Freiheitsbewegung


1.

Das Hochhaus, in dem Maximilian Oxford mit seinem Vater wohnte, war das Beste der ganzen Stadt. Es hatte insgesamt 16 Wohnungen, die sich jeweils über zwei Stockwerke ausbreiteten. Die Wohnung im 15. und 16. Stockwerk links bewohnten die Oxfords. Ging man durch die holzvertäfelte Eingangstür und durch den Flur, am Fahrstuhl, der ins untere Stockwerk führte, vorbei, befand man sich direkt in Maximilians Wohnzimmer. Dort stand an der einen Wand ein großer Fernseher, an der gegenüberliegenden ein breites schwarzes Ledersofa. Der Raum war, abgesehen von dem Ledersofa, in weiß gehalten und verströmte eine angenehme Kühle. An der linken Wand befanden sich zwei Türen. Die eine führte in das warme, in rot und orange gehaltene Schlafzimmer, durch die andere gelangte man in ein Arbeitszimmer.
Als Mex an diesem Nachmittag die Wohnungstür aufsperrte, wartete sein Vater, Michael Oxford, schon im Wohnzimmer auf ihn. Er hatte die Beine übereinander geschlagen und wippte nervös mit einem Fuß. Gerade als Mex durch die Tür trat, sprang sein Vater auf: „Da bist du ja endlich! Hast du dich wieder herumgetrieben? Das gehört sich nicht für einen Oxford!“, raunzte sein Vater ihn an.
„Reg’ dich nicht wieder so auf. Ich war in der Bibliothek und habe gelernt.“, antwortet Mex gelangweilt. Er kannte dieses Spiel nur zu gut, erst versuchte sein Vater, ihn einzuschüchtern und dann wollte er wieder, dass Mex zu einer dieser Parteiveranstaltung ging, die er nicht ausstehen konnte.
„Also, zu welcher Veranstaltung soll ich diesmal wieder?“, fragte Mex.
„Du sollst zu keiner Veranstaltung gehen!“, sein Vater schüttelte den Kopf, „Du sollst dich endlich dafür entscheiden, Mitglied der PdE zu werden!“, Michael Oxfords sonst so ruhige Stimme ging in einer Kakophonie lauter Hysterie unter.
Mex Vater hatte schon vor zwei Monaten vorgeschlagen, dass es das Beste für Mex und seine Zukunft wäre, wenn er Mitglied in der Partei seines Vaters würde. Mex selbst sah das jedoch ganz anders. Er konnte nicht verstehen, warum er in die Fußstapfen seines alten Herrn treten sollte und die größte Partei des Landes anführen sollte.
Mex Vater war davon überzeugt, dass sein Sohn der geborene Führer war, er merkte nur nicht, dass Mex sich nicht für Politik interessierte. Und falls er es wider erwarten doch bemerkt haben sollte, ignorierte er es.
„Vater, ich will nicht in deine Partei eintreten, ich will in überhaupt keiner Partei Mitglied sein!“, Mex hoffte, dass die Sache hiermit vom Tisch sei, doch da hatte er sich getäuscht.
„Maximilian, als dein Vater verlange ich von dir, dass du Mitglied der PdE wirst! Das bist du der Familie schuldig!“, mit hochrotem Kopf stand Michael Oxford vor seinem Sohn. Er konnte nicht fassen, dass sein Sohn sich ihm widersetzte.
„Ich bin der Familie gar nichts schuldig!“, zischte Mex wütend, „Und dir schon gar nicht!“
Mit diesen Worten drehte Mex sich um, ging energisch den Flur entlang und griff nach der Türklinke, als sein Vater ihm verächtlich nachrief: „Ja, renn nur weg! Du brauchst dich hier nicht wieder blicken zu lassen!“
Mex blieb einen Moment stehen.
Dann riss er entschlossen die Tür auf und schlug sie hinter sich wieder zu. Er rannte die Stufen in die unteren Stockwerke hinunter.
Wieso sollte er seiner Familie etwas schuldig sein? Sein Vater hatte nie Zeit für ihn übrig gehabt, die Partei und die Arbeit waren immer vorgegangen. Und seine Mutter war genau aus diesem Grund weggegangen, hatte ihn bei seinem tyrannischen Vater allein gelassen. Er war niemandem etwas schuldig, nur sich selbst.
Stundenlang irrte Mex durch die Straßen. Sein Kopf war voller Gedanken. Verrückter Gedanken. Sinnloser Gedanken. Sollte er einfach abhauen, nicht wieder auftauchen? Oder sollte er wieder nach Hause gehen?
Nein. Er würde nur seine Sachen holen und dann verschwinden. Doch wo sollte er dann hingehen? Zu einem seiner Kommilitonen brauchte er nicht zu gehen, die waren um diese Uhrzeit bei irgendeiner Party oder einem Saufgelage.
Er konnte zu Anna gehen. Es wäre nicht das erste Mal, dass er bei ihr schlief. Sonst kam sie zwar immer zu ihm, aber sie waren immerhin seit einem halben Jahr zusammen, da konnte sie ihn ja schlecht wieder mit der Begründung rausschmeißen, sie bräuchte ihren Freiraum.
Am nächsten Morgen konnte er sich dann um ein Zimmer im Studentenwohnheim bemühen. Hoffentlich war es nicht zu teuer. Er verdiente zwar sein eigenes Geld, aber besonders viel war es nicht.
Nach einer Viertelstunde stand der junge Mann mit den dunklen Haaren wieder vor dem Wohnhaus, von dem aus er losgegangen war.
Oben in der Oxfordschen Wohnung angekommen, ging Mex auf Zehenspitzen durch den dunklen Wohnraum in sein Schlafzimmer. Es fröstelte ihn, wahrscheinlich hatte sein Vater die Heizung abgedreht. Leise nahm er seine Reisetasche und packte ein paar Kleidungsstücke hinein. Seinen Communicator verstaute er in einer kleinen Seitentasche. Auf dem Weg wollte er Anna noch eine Nachricht schicken, dass er bei ihr vorbeikommen würde.
Er sah sich in seinem Zimmer um und trat dann einen Schritt auf seinen Kleiderschrank zu. Ihm fiel ein Stein vom Herzen, als er in dem Schuhkarton auf seinem Schrank sein ganzes Erspartes fand. Sein Vater hatte es nicht mitgenommen, wusste wahrscheinlich nicht einmal, dass es existierte.
Mex Magen knurrte vernehmlich und ihm fiel ein, dass er seit Stunden nichts mehr gegessen hatte. Das Letzte, was den Weg in seinen Magen gefunden hatte, war ein lauwarmer Pfannkuchen in der Universitätskantine gewesen.
Er fuhr mit dem Fahrstuhl nach unten in die Küche. In eine kleine Tasche, die er unter der Spüle gefunden hatte, packte er eine Flasche Wasser, Brot, ein Packen Wurst und ein Messer. Alles zusammen stopfte er in seine große Reisetasche und wollte schon wieder den Fahrstuhl betreten, als er ein Stöhnen hörte. Leise, zaghaft, aber es war zu hören. Es kam aus dem Wohnbereich seines Vaters. Mex wollte sich schon abwenden, doch das Stöhnen wurde immer lauter und durchdringender. Das Geräusch, das sich den Weg in sein Ohr bahnte, musste von einer Frau kommen. Er lauschte irritiert.
Und dann erkannte er sie.
Anna.
Er ließ vor Schreck die Tasche fallen und eilte von einem Zimmer ins andere. Sah sich überall um, bis nur noch ein Raum übrig war.
Im Schlafzimmer seines Vaters fand er seine Freundin. Nackt. Ihre roten Haare flossen über ihre Brüste. Ihr Blick war leicht entrückt zur Decke gerichtet.
Über ihr der massige Körper seines Vaters, der sich rhythmisch auf und ab, auf und ab bewegte.
Beide stöhnten. Beide zuckten vor Erregung. Mex musste sich fast übergeben, doch statt seinem Gefühl nachzugeben, stolperte er zwei Schritte zurück und zog die Tür zu, um dieses Bild nicht länger mit ansehen zu müssen. Er schloss die Augen, doch die Bilder wollten nicht verschwinden. Das Stöhnen drang weiter unablässig durch die Ritze zwischen Tür und Boden. Verzweifelt versuchte Mex, die Geräusche mit seinen Händen auf den Ohren auszusperren, doch es gelang ihm nicht.
Er rannte zum Fahrstuhl, griff nach seiner Tasche und fuhr nach oben. Dort stürzte er Hals über Kopf aus der Haustür und die Treppen hinab. Auf der kaum beleuchteten Straße blieb er stehen und sah unbewegt die Hausfassade hinauf. Vor seinen Augen flimmerten immer noch die Bilder, die er sich ansehen musste. Seine Freundin mit seinem Vater.
Ohne einen Funken Trauer, aber voller Wut wandte er sich ab und rannte in die schwarze Nacht einem unbekannten Ziel entgegen.


2.

Durch die Dunkelheit wandernd entfernte Mex sich immer weiter vom Stadtkern mit der Parteizentrale. Er lief durch die Täler, die von den Hochhäusern begrenzt wurden.
Nach und nach wurden die Lichter der Autos immer seltener, andere Lichter gehörten meist zu einfachen Wohnhäusern.
Irgendwann nach einer schier endlosen Zeit gelangte Mex in einen Bezirk, den er nicht kannte.
Die Straßen waren wie leer gefegt, in den Geschäften brannte kein Licht mehr und zu wohnen schien hier auch niemand.
Mulmig wurde es ihm zu Mute, als er merkte, dass sich dunkle Gestalten in die Seitenstraßen drückten und ihn beobachteten.
Er fühlte Blicke in seinem Rücken und drehte sich abrupt um.
Ein Schatten verschwand in einem Hauseingang an der linken Seite eines Kosmetikgeschäfts.
Beunruhigt drehte sich der junge Mann wieder nach vorne und ging weiter, auch wenn er noch nicht wusste wohin.
An einer Kreuzung hielt Mex inne. Sollte er weiter geradeaus, zum Stadtrand gehen? So weit war er noch nie außerhalb der Stadt gewesen.
Von rechts kam ein hinkender Mann die Straße entlang. Mex wollte sich in die andere Richtung wenden, doch auch da standen Männer und versperrten ihm den Weg.
Einer der Männer hatte einen metallenen Baseballschläger in der Hand und ließ ihn über den Boden schleifen. Das Metall glänzte bedrohlich im Mondlicht.
Die dunkle Straße zum Stadtrand erschein Mex nun sehr viel einladender zu sein, als noch vor einer Minute. Mit großen Schritten überquerte er die Kreuzung. Bei einem kurzen Blick nach rechts sah er, dass der Mann nicht mehr hinkte und auch die anderen Männer kamen näher. Schnell, bedrohlich.
Mex schulterte seine Tasche und nahm die Beine in die Hand.
Als er einige Meter die Straße entlang gerannt war, hörte er zwischen den Schritten auf dem Asphalt ein Surren in der Luft und dann einen dumpfen Aufschlag.
Mex bog um eine Ecke und sah im Augenwinkel zwei der drei Verfolger hinter ihm herlaufen. Doch wo war der Dritte?
Er drehte den Kopf leicht zur Seite und sah den zuvor hinkenden Mann flach auf dem Boden liegen.
Es surrte erneut und der zweite Mann lag mit dem Gesicht nach unten auf der Straße, der Baseballschläger drei Meter entfernt.
Der letzte noch verbliebene Mann sah sich verwirrt um, als er nur noch seine eigenen Schritte hörte und sonst nur Stille.
Es surrte ein drittes Mal und der Mann wurde von etwas Dunklem am Kopf getroffen und auf die Straße geworfen. Mex sah in die Richtung, aus der das Geschoss gekommen sein musste.
Auf einem niedrigen Flachdach hockte ein Mann. Mex konnte ihn nicht ganz erkennen, es war zu dunkel. Doch der blonde Bart und die langen, zerzausten Haare hoben sich stark von den Schatten um ihn herum ab. Die Augen des Mannes schienen zu blitzen, als er sich aus seiner Position erhob. Er ging zu der Mex zugewandten Seite des Hauses und ließ sich von dort auf einen Container fallen. Von dessen Dach sprang er auf die Straße und ging gelassen an den am Boden liegenden Männern vorbei, auf Mex zu.
Mex musterte den Fremden aufmerksam. Ihm fiel eine Steinschleuder in seiner linken Hand auf.
Die Rechte hielt er Mex hin, dieser ergriff sie und schüttelte sie kurz.
„Hallo! Ich bin Rudi!“, sagte der Blonde ruhig.
Mex war zu überrascht, um Konversation zu betreiben, deshalb sagte er nur: „Mex!“
„Was wollten die Kerle von dir?“, fragte Rudi, während er mit dem Daumen über die Schulter zeigte.
Er schüttelte den Kopf, Mex wusste es nicht.
Rudi sah Mex mit hochgezogener Augenbraue genauer von oben bis unten an.
„Wahrscheinlich deshalb.“, für Rudi schien der Fall klar zu sein.
„Weshalb?“, fragte Mex verwirrt.
„Na, wegen deinen Klamotten. So läuft hier kein Mensch ’rum.“, der blonde Mann deutete mit dem Zeigefinger von Mex’ Hals hinunter zu seinen Schuhen und wieder hinauf.
Als Mex an sich hinunter sah, merkte er was Rudi meinte.
Er trug ein weißes T-Shirt und ein kariertes Baumwollhemd darüber, seine Hose war mit dem eindeutigen Emblem einer bekannten teuren Marke versehen. Seine schwarzen Schuhe glänzten selbst nach diesem Gewaltmarsch durch die Stadt noch.
Von sich sah Mex langsam an Rudi hinauf.
Ausgelatschte Schuhe, zerrissene Hose und ausgewaschener Pullover.
Die Männer am Boden trugen ähnliche Kleidung.
Mex leuchtete es ein, dass er ziemlich aufgefallen sein musste, als er ziellos durch diese armen Bezirke gelaufen war.
„Was machst du hier?“, wollte Rudi wissen, „Für jemanden wie dich ist es hier sehr gefährlich!“
„Ich bin abgehauen!“, sagte Mex.
„Abgehauen? Bist du dafür nicht schon ein bisschen zu alt?“, schon wieder zog Rudi seine Augenbraue hoch. Die Skepsis stand ihm förmlich ins Gesicht geschrieben.
„Ich hatte eben die Schnauze voll!“
„Na gut.“, Rudi schnaubte belustigt, „Ich würde mich ja gerne noch länger mit dir unterhalten, aber ich hab’ noch zu tun. Ich muss noch meinen ganzen Krempel in den Park schaffen.“
„In welchen Park?“, fragte Mex. Der blonde Mann kam ihm immer seltsamer vor.
„In den Nationalpark!“, Rudi schaute ungläubig, „Sag bloß, du warst noch nie im Nationalpark?! Das sollten wir dringend ändern! Aber nicht heute.
Rudi trat einen Schritt auf Mex zu und visierte ihn mit seinen Augen an.
Mex wich mit dem Oberkörper ein Stück zurück: „Was ist?“
Wieder hob Rudi eine Augenbraue. „Du siehst müde aus!“, sagte er und trat wieder ein Stück zurück, „Wenn du willst kannst du bei mir pennen. Oder kennst du hier jemanden?“ Der Sarkasmus in seiner Stimme war unüberhörbar.
„Woher weiß ich, dass du nicht zu denen“, Mex zeigte mit dem Kinn zu den Männern, die immer noch am Boden lagen, „gehörst?! Vielleicht willst du dir mein Vertrauen erschleichen und mich dann im Schlaf bestehlen?“
Rudis Augenbrauen sprangen synchron drei Zentimeter höher. „Wenn du meinst, ist deine Entscheidung. Aber hier draußen ist es gefährlicher, als wenn du mit mir kommst!“, sagte der blonde Mann, drehte sich um und ging davon.
Mex blieb zurück und überlegte, was er jetzt tun sollte. Er sah ein, dass es töricht war, zu denken, dass Rudi ihn ausrauben wollte. Wenn er an sein Geld wollte, hätte er ihn einfach mit der Schleuder außer Gefecht setzen können. Es gab nur eine Möglichkeit für ihn.
Nach einem kurzen Blick in den nachtschwarzen Himmel, lief Mex Rudi hinterher und erreichte in nach wenigen Metern.
„Stört es dich auch nicht, wenn ich mitkomme?“, fragte Mex ein wenig kleinlaut. Doch Rudi winkte nur ab und lief zielstrebig die Straßen entlang.

Nach einiger Zeit hatten sie Rudis Behausung erreicht. Sie setzten sich an einen alten, morschen Tisch, der in einer Küche zu stehen schien. Doch von dieser war nicht mehr besonders viel übrig. Lediglich eine Herdplatte und eine freistehende Spüle gab es, der Rest war wohl ausgebaut und verkauft worden.
„Sag mal“, Rudi sah Mex leicht verschüchtert an, „Hast du was zu Essen?“
Erst hier im künstlichen Licht erkannte Mex, dass Rudi ziemlich abgemagert war. Seine Wangen waren eingefallen, seine Hände knochig.
Ohne ein Wort zu sagen, zog Mex seine Tasche näher heran.
Das Päckchen mit dem Brot und der Wurst befand sich immer noch dort, wo er es hingepackt hatte. Er öffnete es und holte den Laib heraus, gefolgt von der Wurst. Rudi bekam große Augen beim Anblick der frischen Lebensmittel.
Mex schob alles zu ihm hinüber. Nur zögerlich streckte Rudi seine Hand aus. „Nimm ruhig!“, Mex nickte ihm aufmunternd zu und lächelte, „aber lass mir auch noch was übrig!“
Gierig machte sich der ausgehungerte Mann über das Essen her und Mex bemerkte, wie sich seine Augen langsam aufhellten.
„Wann hast du das letzte Mal etwas gegessen?“, fragte Mex und Schnitt sich eine Scheibe Brot ab.
Rudi überlegte mit vollen Backen: „Vor…zwei Tagen?“
Er biss erneut ab, kaute.

Einige Zeit sah Mex Rudi beim Essen zu, doch dann brannte es ihn unter den Nägeln zu erfahren, wo und was dieser Park war.
"Was ist das jetzt eigentlich, dieser Park?", Mex sah seinem Gegenüber mit gerunzelter Stirn ins Gesicht.
"Ein Nationalpark halt." "Erzähl mir ein bisschen darüber.", bat Mex, während ein weiteres Stückchen Brot den Weg in seinen Mund fand.
"Naja, eigentlich ist er nur ein größeres Stück Land, um das sich niemand kümmert. Es ist alles verwildert. Und niemand hat Lust da zu wohnen, sie wohnen lieber hier in der Stadt und lassen sich von Leuten wie euch benutzen.", Rudi schüttelte den Kopf, um seinem Unverständnis über die Dummheit der Menschen Ausdruck zu verleihen, "Jedenfalls hab ich mir vor ein paar Jahren gedacht, 'Warum ziehst du da nicht raus, weg von dem ganzen Scheiß.' Nahrung gibt’s da draußen genug und vor allem keine Menschen, die mich benutzen und dann wegschmeißen!"
Zwischen Mex Augenbrauen bildete sich eine tiefe Falte: "Wieso bist du dann hier und nicht da draußen?"
"Im Winter ist es ziemlich ungemütlich da draußen. Ich bin auch nur in den kältesten drei Monaten hier, den Rest des Jahres bin ich in meinem Lager.", eröffnete Rudi Mex, während er im fest in die Augen schaute. Dann zuckte sein Blick auf das halbaufgegessene Stück Brot vor Mex. "Isst du das noch?", fragte er verlegen.
Mex schüttelte den Kopf und reichte dem immer noch hungrigen Mann das Stück. Nachdem er es bis auf den letzten Krümel verschlungen hatte, sagte Rudi: "Ich werde dir morgen den Park zeigen. Aber wir sollten jetzt schlafen gehen. Wenn du morgen mitkommen willst, solltest du ausgeschlafen sein."
Kurz darauf lag Mex auf einer dünnen Matte auf dem Boden, zugedeckt mit einer kratzigen Wolldecke. Doch müde wie er war, merkte er nicht, dass der Boden keineswegs so weich war wie das Bett, das er Stunden zuvor, zwar nicht für immer, aber dennoch verlassen hatte.


3.
Am nächsten Morgen fuhr Mex erschrocken und von lautem Getöse geweckt aus seinem Lager hoch. Verwirrt sah er sich um, fuhr sich durch die verwuschelten Haare. Er erinnerte sich, wo er war.
Als Mex gerade auf sein Messaging Piece sah, um die Uhrzeit zu erfahren, kam Rudi durch die morsche Türe gestürmt.
"Ein Glück, du bist schon wach! Du musst mir helfen! Mir ist gerade der Karton mit dem Werkzeug vom Schrank gefallen und ...", Rudi hielt inne, der Mund offen, "Was hast du da?"
"Mein Messaging Piece. Ich hab nur eben geschaut, wie spät es ist.", antwortete Mex und zuckte mit den Schultern.
Mit ausgestrecktem Arm und interessierten Augen sagte der Blonde: "Zeig mal!"
Mex hielt es ihm hin und er ergriff es schnell, riss es Mex beinahe aus der Hand.
Rudi sah es sich kurz an, dann sagte er: "Das brauchst du nicht mehr." Er ließ es zu Boden fallen und trat fest mit seinem Schuhabsatz darauf.
"Nein!", Mex war schockiert, "Was soll das? Bist du verrückt geworden?"
"Nein, ich bin nur vernünftig.", sagte Rudi ruhig.
"Was?"
"Nicht 'Was?'. Viel mehr 'Warum?' Mit dem Ding können sie dich orten und das werden sie tun, wenn du weggelaufen bist.", Rudi wollte sich schon umdrehen, fügte dann aber noch hinzu, "Und wenn du der bist, für den ich dich halte."
Mex sank zurück auf seine Matte. Er starrte sein zerstörtes MP an, das Glas war vollständig zersplittert, auf der einen Seite hingen Kabel heraus. Rudis Absatz hatte ganze Arbeit geleistet.
Rudi, der schon wieder in die Küche gegangen war, rief Mex zu: "Kannst du mir jetzt eben helfen, bitte?"
Der junge Mann stand auf, schüttelte beim Anblick seiner zerstörten Verbindung zur Außenwelt noch einmal den Kopf und ging ebenfalls in die Küche zu Rudi.
Noch bevor Mex die Küche betreten hatte, sah er Rudi unter die Spüle kriechen.
"Was zum Henker machst du da?", wollte Mex wissen.
"Man, mir sind da Schrauben und ein Schraubenzieher runtergerollt. Und jetzt bekomm ich sie nicht wieder hervor!", war die dumpfklingende Antwort.
Grinsend kam er näher. "Komm, lass mich mal!", Mex berührte Rudi leicht am Rücken, der dann auch umständlich unter den Brettern hervorkroch. Voller Staub und Spinnenweben, aber Stolz hielt er zwei Schrauben in die Höhe.

Nachdem Mex,dessen Arme um einiges länger waren als Rudis, alle Schrauben und auch den Schraubenzieher hervorgefischt hatte, half er Rudi noch das restliche Gepäck, vor allem Decken und kleine nützliche Gegenstände, wie ein Taschenmesser, auf einem kleinen Wagen zum Ziehen zu verstauen.
Es war noch ziemlich früh am Tag, als die beiden samt Wagen in Richtung Nationalpark aufbrachen.
Sie liefen solang auf derselben geraden Straße bis sie in einen Feldweg überging. Auf diesem gingen sie bis zu einem hohen Zaun, der fast von Sträuchern und Gebüsch überwuchert war.
Hier machten sie erstmal eine Pause und Rudi fragte Mex: "Bist du sicher, dass du mitkommen willst? Du hast noch die Möglichkeit wieder umzukehren."
Mex sah den Weg, den sie gekommen waren, zurück.
Vor seinem inneren Auge blitzen wieder die Bilder des letzten Abends auf. Sein Vater. Seine Freundin. Beide zusammen im Bett....
Er schüttelte entschieden den Kopf. Dahin wollte er nicht mehr zurück!
Hier draußen in der Natur konnte er atmen. War nicht dem Willen seines Vaters ausgesetzt und konnte tun und lassen, was er wollte.
"Nein, ich komme mit.", sagte er dann grimmig zu Rudi.
"Hey man. Ich hab ja gestern nicht gefragt, aber warum willst du eigentlich weg?", Rudi schien erschrocken über Mex' Reaktion, "Ich meine, du hattest doch bestimmt ein gutes Leben da in der IC, oder nicht?"
Mex lachte. "Ja, ich hatte nie Hunger und mir war nie kalt. Aber ich habe auch nie richtige Zuneigung erlebt, alle sind so narzistisch, denken nur an sich. Man ist nur auf seinen eigenen Vorteil bedacht.", seine Miene veränderte sich von heiter zu düster und er fuhr fort, "Es geht nur um Macht, immer Macht, Macht, Macht und Geld! Und du musst dich fügen und auch nach Macht und Reichtum streben, sonst bist du nichts wert... Dann komme ich lieber mit dir und habe Hunger!"

Impressum

Texte: Alle Rechte liegen bei der Autorin.
Tag der Veröffentlichung: 10.04.2012

Alle Rechte vorbehalten

Nächste Seite
Seite 1 /