Cover

Kapitel 1





Verstohlen starrte ich die Wand an. Wie fassungslos ich doch war. Wie konnten sie mir das nur antun. Umziehen!
Wenn ich nur daran dachte umzuziehen kam in mir der Ekel hoch und vermieste meine Laune mehr, als sie ohnehin schon war. Von Wut und Verzweiflung bis zu Brechreiz war alles dabei.

Ihr ganzes Leben hatten sie sich nicht um mich gescheert, ich war ihnen egal gewesen.
Ich musste mein Leben schon mit zwölf in die eigenen Hände nehmen.
Die letzten Jahre hatte ich es hier so weit geschafft, meine Persönlichkeit entfaltet, wenn auch sehr tollpatschig. Und nun sollte ich hier weg.
Doch ich wollte nicht weg, meine Freunde waren hier und ohne dieses Internat, würde ich wohl alleine in unserem Haus wohnen.
Gerade erst hatte ich mich an all das hier gewöhnt, die Lehrer, die vielen neuen Schüler und auch an das ungewöhnliche Schulsystem. Ich gewöhnte mich sehr, sehr langsam an neue Dinge.

"Mensch, Amy,..."
Ich schrak hoch, schon wieder hatte ich mich in meinem Gedankenfluss vergessen.

"... Du hast ja noch immer nicht gepackt. In einer halben Stunde wirst du abgeholt. Willst du etwa deinen Flieger verpassen?", sagte eine mir allzu bekannte Stimme. Meine Mitbewohnerin im Internat und zugleich beste Freundin Alicia. Das wohl liebste und aufrichtigste Mädchen, das ich kannte. Ihre Stimme klang mehr zutraulich als besorgt. Also zwang ich mir ein Lächeln auf.

"Nun trödle nicht so rum, na los, komm ich helfe dir."
Nun schaute ich zu Alicia auf und mir bot sich dasselbe gewohnte Bild, wie auch sonst, meiner Freundin. Rotes Haar, das gekonnt streng zu einem Pferdeschwanz gebunden wurde und doch sich immer wieder einpaar Strähnen aus ihrem Haargummi verirrten, mit blassblauen Augen, in denen ebenfalls ein Feuertornado von Orangetönen herrschte, die sich um die Pupille herum zogen und ihren vollen, runden Lippen, die jeder Junge wahrscheinlich gern einmal küssen würde.

Ich dagegen hatte kastanienbraunes Haar, das zu meinem bedauern gelockt war, doch im Sonnenlicht ein goldenen Schimmer hatte. meine Augenfarbe war auch nicht eine so sonderbar schöne wie Alicia's, meine waren von einem tiefgrün, in denen sich schwarze und goldene Sprenkel tummelten. Und ebenfalls war meine Haut nicht so sauber wie ihre, damit meinte ich, dass ich, egal wohin ich schaute, überall nervige Sommersprossen hatte, die wenigstens im Winter nicht so extrem zu sehen sind, aber doch umso mehr im Frühling und im Sommer. Ich würde sagen, ich bin die Definition für Durchschnittlichkeit, welches meine Größe von 1,65m noch unterstreicht.

Mein Name ist Amy Newcastle und ich bin das, von der Familie alleingelassene, verärgerte, wütende Mädchen. Verärgert, weil ich nun von meiner gewohnten Umgebung weg musste und wütend auf meine Eltern, weil sie mich dazu anscheinend zwangen.

Warum wollten sie mich so plötzlich zu sich holen? Natürlich freute ich mich auf meinen Bruder Jason. Der blondhaarige, große, maskuline Bruder, der mich ärgerte und mich in traurigen Momenten tröstete, wenn ich mal wieder anfing, vor Wut und Enttäuschung, zu weinen.
Nur Jason zeigte ich meine Verletztheit, meine sensible Seite, nur bei ihm konnte ich schwach sein, sonst spielte ich jedem die starke Amy vor. Es beruhigte mich immer wenn er mich an seine Brust drückte. Er war als einziges immer für mich da gewesen.

Ich erinnerte mich, wie er mich immer aufzog. "Du kannst doch nicht meine Schwester sein! Mein Haar ist blond, deines braun. meine Augen sind hellblau, deine grün!" Dabei packte er mich mit seinen Pranken an den Hüften, schmiss mich über seine Schulter und lief mit mir so zur Schule. Er wusste genau, dass ich das nicht leiden konnte. Denn mein Arsch war dann immer ein wunderbarer Blickfang.

Anfangs dachte ich mir nichts bei seinen Sprüchen. Doch es blieb doch immer im Hinterkopf und brachte mich dazu darüber nachzudenken.
Jason war unseren Eltern wie aus dem Gesicht geschnitzt. Das blonde Haar und die Augen von unserer Mutter und die markanten Gesichtszüge, sowie die ausgeprägten Wangenknochen von unserem Vater.

Ich dagegen, hatte mit ihnen rein gar nichts gemeinsam. Niemand hatte Sommersprossen, besonders nicht so ausgeprägte wie ich. Außerdem kam noch dazu, dass alle außer mir, unbeschreiblich schön waren.
Mir kam auch schon der Gedanke adoptiert worden sein zu können, doch den hatte ich schnell verworfen.

 


"Nicht träumen, Amy! Du bist doch sonst nicht so, außerdem ist das Auto schon da. Das heißt wohl Abschied nehmen..." Schnell unterbrach ich den Redeschwall meiner Freundin.
"Ich werde dich vermissen, Alicia."
"Oh mein Gott, ich werde dich auch so vermissen!", rief sie aus und schmiss sich mir an den Hals.

"Hey, pass auf!", lachte ich. "Sonst passiert hier wieder ein Großunfall!"

"Stimmt! Wir wollen ja nicht, dass du einen Genickbruch erleidest!", witzelte Alicia, wohlgemerkt, über meine Tollpatschigkeit.

Ich schmollte.

"Jetzt spiel mir hier nicht die Beleidigte, Amy! Das konntest du nie gut"
"Was?!", fragte ich gespielt nachtragend.
"Du weißt, was ich meine. Und du wirst es auch nie können", meinte sie.

"Und weshalb bitte, könnte ich nie Schauspielen?" "Weil du immer rot wirst, du Tomate", kicherte sie. Ein Grund, warum ich nie lügen konnte. Ich flog immer auf, wegen diesem verräterischen rot.
Bestimmt hat man jetzt gemerkt, dass ich mit mir selbst nicht im Einklang bin?
"Na das wollen wir mal sehen!" Man musste immerhin auf alles gefasst sein.

Da, wo ich jetzt hinziehen sollte, würden wir mit meinem Onkel zusammenwohnen, oder zumindest so etwas ähnliches, väterlicher seits. Anscheinend ferne Verwandte und ganz ehrlich, die ersten die ich kennenlernen würde.
Vor zwei Tagen, als ich die frohe Botschaft vom Umzug erhalten hatte, wurde mir so richtig klar, dass ich keine Verwandten kannte. Nicht einen einzigen.

"Na los, jetzt aber. Außerdem, was meinst du was Shane macht; Zu Hause Wurzeln schlagen? Sicherlich, wenn seine beste Freundin zu einem anderen Kontinent zieht!" Da hörte ich doch eine Spur Sarkasmus raus... Also konnte Shane doch kommen?! Er war doch schon vor zwei Tagen mit seinen Eltern nach Kalifornien in Urlaub geflogen. Wie hat er erfahren, dass ich umzog? Natürlich hatte Alicia es ihm bestimmt berichtet. Und nur wegen mir ist er zurückgekommen, nur um sich von meiner Wenigkeit verabschieden zu können?

Als wir endlich draußen waren und zum Auto gingen, sah ich auch schon Shane auf uns zukommen. Man konnte in diesem Augenblick nicht mal annähernd beschreiben wie glücklich ich war ihn, meinen besten Freund, mit den braunen, verwuschelten Haaren auf dem Kopf, zu sehen. Erst jetzt wurde mir blöden Nuss klar, wie sehr ich ihn vermissen würde.

Schnell in eine stürmische Umarmung zog er mich zu sich hoch. Meine Güte, ich hatte vergessen wie stark er war!

Ich keuchte. "Keine- Luft..."

Er lachte in sich rein. "Sorry, Kleine! Du kippst aber nicht m, wenn ich dich wieder loslasse? Oder stolperst von meinem heißen Anblick über deine eigenen Füße?"

Mussten mich immer alle daran erinnern, wie tollpatschig ich doch immer war?

Ich haute ihm leicht auf die Brust. "Blödmann!" Wir liebten es uns zu necken.
"Du wolltest wohl ohne mir Bescheid zu sagen abhauen. Aber das lasse ich nicht zu!"
"Wer hat es dir verraten?" Ich verschränkte meine Arme vor der Brust.

"Ich hab so meine Quellen!"

Ich schielte zu Alicia rüber. Sie grinste mich tatsächlich unschuldig an. "Nennt sich diese Quelle zufällig 'Alicia'?", fragte ich grinsend.

"Ach, Amy. Du freust dich, gib's zu. Außerdem weiß ich doch wie du bist. Du hättest Gewissensbisse gehabt und furchtbaren Kummer!" Sie hatte wie immer Recht, also lächelte ich sie nun besänftigt an.

"Oh, hät ich fast vergessen. Das hier ist für dich." Mein Kopf schoss wieder zu Shane, der in seiner Hosentasche wühlte, bis er schließlich gefunden hatte, wonach er suchte.
Ich schaute dieses wunderschöne, glitzernde Etwas an, bis er meinen Arm nahm und es um mein Handgelenk befestigte.
Oh, dieses 'Etwas', war ein ausgesprochen schönes Armband.

Es hingen vier Figürchen daran, die erste warbeine Banane, die zweite ein Pferd, die dritte eine Sonne und die vierte ein Apfel. Als ich mir die Kette so betrachtete und versuchte zu verstehen, warum er mir gerade diese Kette geschenkt hatte, traf es mich plötzlich wie die Faust auf's Auge. Wie konnte ich nicht gleich darauf kommen?! Jedes von ihnen stand für ein Erlebnis.
Die Banane symbolisiert unser erstes Treffen. Als ich im Kindergarten auf einer Bananenschale ausrutschte und er mich auffing; natürlich waren wir von dem Zeitpunkt an die besten Freunde.
Das Pferd steht für das Riesenkarusell, als ich beim Aufsteigen auf der einen Seite des Pferdes zu viel Schwung hatte und auf der anderen Seite wieder runterfiel.
Die Sonne. Ich lachte belustigt auf. Sie stand für unseren ersten Kuss bei Sonnenuntergang. Wir wollten nur rausfinden, ob zwischen uns mehr war, als nur gute Freundschaft, also gaben wir alles in den Kuss rein, ein richtiges Knutschmarathon wurde es. Uns beiden ging es jedoch im Nachhinein gleich. Es war als würdest du deinen Bruder bzw. Schwester knutschen. Im Endeffekt: Es war eklig!
Dann gibt es noch den Apfel, daran erinnerte ich mich nur ungern zurück. Ich schaute kurz zu Shane, der mich mit einem breiten Grinsen im Gesicht abwartend ansah. Daran konnte ich schon erahnen, wie mein Gesichtsausdruck in diesem Moment aussehen musste. Eine schiefe, selbstmitleidige Grimasse.
Tja, der Apfel stand für den Tag, an dem ich ein Minirock trug und ein weißes schlicktes Tank-Top, das jedoch nicht mehr ganz so schlicht war, als ich über diesen verfluchten Apfel stolperte und in der verflucht nassen Rasen auf dem verfluchten Pausenhof fiel.

Ihr könnt euch sicherlich vorstellen,mwie das vor den ganzen Mitschülern ausgesehen haben musste.

Doch ich konnte nicht anders, ich musste Shane einfach angrinsen. Auch wenn das total peinliche Erinnerungen waren, es waren Einmalige und es waren unsere. Er musste dieses Armband selbst gemacht haben. Die Perlen wurden alle in silber gehalten, nur die vier Figuren waren golden. Schlicht, doch perfekt für mich.
"Danke", sagte ich aufrichtig. "Es ist perfekt."

"Nichts zu danken! Dann hast du wenigstens immer ein Teil von mir bei dir."
Jetzt mischte auch Alicia sich wieder ein. "Als könnte sie dich bzw. uns jemals vergessen, du Macho! Außerdem, ich hab auch noch etwas für dich, Amy!" Sie streckte mir ein eingepacktes Päckchen entgegen. Nicht dick, in der größe eines DIN A5 Blattes. Man könnte meinen, es sei ein Buch, doch dafür fühlte es sich zu uneben an.
"Du brauchst es nicht jetzt sofort zu öffnen. Öffne es, wenn du angekommen bist. Sonst verpasst du ernsthaft deinen Flieger!"
Alicia war immer so. Fürsorglich, es musste alles perfekt sein und sofort funktionieren. Diese ungeduldige Seite war zwar sehr gewöhnngsbedürftig, doch mit der Zeit war es anscheinend auch auf mich abgefärbt.

Plötzlich drückten mich beide gleichzeitig. Und ich muss nicht erwähnen, dass es nicht gerade eine leichte Umarmung war! "Keine- Luft...", keuchte ich zum zweiten Mal an diesem Tag hervor.
Sie ließen von mir ab.

"Ich rufe euch an, sobald ich meine neue Nummer habe"

"Natürlich tust du das, wie könntest du mir denn auch widerstehen?" Shanes strich sich gespielt durch's Haar.
"Nun sei mal nicht so eingebildet!" Ich stöhnte. "Alicia, Pass auf, dass er keine Dummheiten macht..."

Sie kicherte. "Klar doch!"

Nun wurde es Zeit, ich stieg ins Auto und kurbelte noch mein Fenster herunter. Mir fiel gerade noch die Frage ein, die ich Shane noch stellen wollte.
Als ich ihn anblickte, lachte ich laut auf.

Er schmollte wegen meiner letzten Aussage.

Doch sofort lächelte er auch wieder.
"Wie hast du es geschafft deine Eltern zu überreden, zurückzukommen?"
Sein Grinsen wurde breiter. "Ganz einfach, ich hab sie gezwungen den Flug zu verschieben. Sie wissen wie wichtig du mir bist." Das war typisch Shane. Sie waren eine sehr wohlhabende Familie und er nutzte das aus. Doch seine Aktion berührte mich zugleich.

"Danke, für alles ihr zwei", sagte ich gerührt. Dann fuhren wir los. Ich lehnte mich im Sitz zurück und schloss die Augen. Alles verlief problemlos.

Alicia sei Dank!

Kapitel 2





Willkommen in Schottland. Da war ich nun. Tausende von Meilen von Alicia und Shane entfernt und man konnte nicht behaupten, dass ich besonders freudig dreinschaute.

Ich hatte schon längst meine Koffer wieder, stand draußen und, wie sollte es auch sonst sein, wartete. Nicht, dass ich ungeduldig war. Jahrelang hatte ich gewartet, genau genommen fünf Jahre. Diese paar Minuten konnte ich auch noch warten.

"Amy!" Ich horchte auf. Sofort durchflutete mich ein Gefühl der Wohlheit. Ich sprang auf- ich saß vorher auf einer Bank in der Empfangshalle -, leider geriet ich wuchtig ins Schwanken. Bei meinem Versuch der Selbstrettung verlor ich schließlich gänzlich die Orientierung und flog geradewegs in ein Paar starker, breiter Arme. Blasser Arme. Diese würde ich immer wieder und überall erkennen.

"Jason!", kreischte ich ausgedehnt und schlang meine Arme fest um seine Mitte.

"Hey, hey. Das nenne ich eine stürmische Begrüßung! Womit hab ich das nur verdient?"

"Gar nicht! Aber ich bin so froh dich zu sehen!"

"Ist auch toll dich wieder zu sehen, Zimtzicke!" Ich runzelte die Stirn.

Zimtzicke?

Also zickig war ich nun wirklich nicht. Und ich konnte mich auch nicht erinnern jemals eine Zicke gewesen zu sein. Das war so wahrscheinlich das Letzte, was ich sein würde. Stur ja, aber zickig? Da hatte er sich kräftig mit der Wortwahl vergriffen!

"Bohnenstange!" Etwas anderes paradoxes zu Jason fiel mir im Moment einfach nicht ein. Doch irgendwie musste ich ihm den richtigen Weg weisen! Wir gingen in der Zwischenzeit auf das Auto zu, das er zuvor vor der Eingangshalle geparkt hatte.

Als nächstes hörte ich seine verständnislose Frage. "Bohnenstange? Also Amy, dass du so einfallslos bist hätte ich nicht gedacht. Das ist so ziemlich das genaue Gegenteil dessen wie ich aussehe, das ist das Letzte, das ist sein werde, und auch nicht mehr in diesem Leben!"

"Dasselbe kann ich auch von dir behaupten! Einen sehr erweiterten Wortschatz scheinst du mir nicht zu haben. Denn das ist zickig sein würde ist so ziemlich das Falscheste, das ich je gehört habe!" Und ich hatte vieles gehört.

Mittlerweile waren wir am Auto angekommen, doch erst jetzt warf ich einen Blick darauf. 

Mir blieb die Spucke weg.

Jason runzelte die Stirn. "Sturkopf!"
"Na das passt schon eher", murmelte ich, mehr zu mir, als zu ihm.

Mich haute noch immer dieses unglaubliche, teuer aussehende Auto um. Ich wusste nicht viel über Autos, erst recht nicht über Sportwagen, doch ich wusste, das hier, das war ein einmaliges Einzelstück. Zu mehr war ich nicht in der Lage, dazu fehlt mir schließlich die Fachbegriffe.

"Gefällt es dir? Es ist hauptsächlich ein Cabrio, du siehst es hat kein Dach?" Der wollte mich wohl für dumm verkaufen. So viel Kenntnis hatte ich nun auch wieder.

"Der ganze Rest ist komplett geändert. Es hat sogar Extrafelgen und einen stärkeren Motor! Ich nenne sie 'Babe II'."

WAS hat der seltsame Bruder, von dem ich eigentlich nichts anderes hätte erwarten können, gerade gesagt?!
Babe? Babe?! Innerlich haute ich mir die Handfläche vor die Stirn.

"Jason!"
"Was? Wer ist tot?"
"Das arme Auto!"
"Babe II? Ne, ihr geht es doch gut." Er fing jetzt schon an mir auf die Palme zu gehen.
"Der Name! Und was zur Hölle soll 'II' heißen?" Ich setzte mich auf den Sitz und knallte die Tür geräuschvoll zu.
"Aufpassen! Sie ist sehr sensibel!" Sensibel mein Hintern. "Ja, also ich fand Babe klasse. Du nicht?" Doch, natürlich, ich schiebe diese ganze Szene gerade nur aus Langeweile. Du bist SO einfallsreich. Ich antwortete ihm nicht, also fuhr er fort.
"Die Erste habe ich wohl geschrottet..." Ich riss die Augen auf und starrte ihn an. Doch er fuhr seelenruhig weiter, bloß weg vom Flughafen.
"Du hattest auch schon davor eine... Babe?" Den Namen brachte ich nur widerwillig über die Lippen. Ich sollte mich besser anschnallen...

"Tja, so ist wohl das Leben. Manche Dinge kommen und gehen." Aww, er konnte auch weise sein! "Ist wie ein One-Night-Stand mit Straßenrand-Nutten!"
Was um Himmels Willen?! Okay, vergisst was ich gedacht habe. Und da hatte ich ernsthaft angenommen, er habe sich ein wenig eingekriegt.

"Jasoon!!"

"Was? Achso. Also hör mal! SO Notgeil bin ich nun auch nicht. Meinst du wirklich ICH hätte so etwas nötig? Schau mich an!"
Natürlich wusste ich, dass er so etwas nicht nötig hatte, nur seine Ausdrucksart brachte mich immer wieder aus dem Konzept. Er sah, wohl für andere Mädchen unbeschreiblich 'geil' aus, nicht so für mich. Wuuäh, allein der Gedanke...

In der Vergangenheit, als wir alle noch zusammen gewohnt hatten, kam er jede Woche immer mit einem anderen Mädchen nach Hause. Zuerst dachte ich es seien Freunde, doch irgendwann bemerkte ich die Blicke, die sie ihm immer zuwarfen, bevor sie in seinem Zimmer verschwanden. Als würden sie ihn ausziehen. Es war ein scheiß Gefühl zu wissen, was die da jeden Moment machen würden.

"Ja ja, schon klar." Auf dieses Gespräch hatte ich keine Lust mehr. Ich konnte also herzlichst drauf verzichten.
Eine Weile sagte niemand etwas, als ich aus dem Fenster starrte, bemerkte ich, dass wir auf einem Waldweg waren. Links war ein Fluss, ansonsten bestand die Welt nur noch aus Bäumen.
Ich erinnerte mich, wie ich einmal mit Jason durch das ShoppingCenter schlenderte. Er bemerkte die Blicke, der anderen Mädchen auf mir. Ich kriegte noch jetzt Gänsehaut davor, denn ich konnte in ihren Augen sehen wie sie mich förmlich zerissen und auseinanderpflückten. Natürlich konnte keiner ahnen, dass wir Geschwister waren, dafür mangelte es uns an Ähnlichkeit.
Doch als sei das nicht genug gewesen, legte er seinen Arm um meine Schulter und hauchte mir ein Kuss auf die Wange. Ich schwöre, was als nächstes passierte war pure Absicht gewesen, doch ihm verklickerte ich, es sei ein Reflex gewesen. Ha! Ich stieß ihm also mein Ellbogen in die Magengrube, denn ich hatte kein Bock auf Ärger mit solchen Bimbo-Tussies. Doch im nachhinein war mein Ellbogen das Einzige, was schmerzte. Er hatte nur laut losgeprustet.

"Na, froh über die Sommerferien?"
"Nein." Ich blickte aus dem Fenster. Mir bot sich eine miese graue Wolkendecke. "Ich könnte nicht behaupten DAS hier Sommer zu nennen und Ferien erst recht nicht." Er wusste genau, dass ich der Sommertyp war, trotzdem hatte er, so hinterlistig wir er manchmal sein konnte, trotzdem nachgefragt. Nur, um mich, erneut, auf die Palme zu bringen.
"Ich bin mir sicher, du findest etwas zum Spielen, bevor die Schule wieder anfängt!"

Schule.

Warum musste er auch noch dieses Thema erwähnen? Wie alle normalen Menschen hasste ich es in neue Umgebungen gestoßen zu werden. Ich musste mich wirklich zusammenreißen, um nicht ausdrucksvoll zu schnauben.

Der Wagen fuhr durch ein großes Eisentor. Es war wirklich schön, mit Verschnörkellungen an denen blutrote Rosen hinaufkletterten, und wunderschönen Verzierungen. Es wurde in schwarz gehalten, was ein wunderbarer Kontrast zu der Farbe der Rosen war.
Das Grundstück, auf dem wir nun waren, war eingegrenzt von Hecken und Bäumen, der Fluss verlief genau quer durch das Grundstück, über den wir, über einer majestätischen Brücke, hinwegfuhren und um die Ecke bogen.

Ich hielt den Atem an.

Ich hatte zwar keine Ahnung von Häusern, doch alles was alt war, war mir sympathisch. Dieses Haus war ein Traum.

Ein altes, steinernes Herrenhaus.
Wunderschön war es und riesig noch dazu. Der Untergrund hatte sich inzwischen geändert, also hielten wir auf einem von Natursteinen asphaltierten bunten Boden an.
Als wir ausstiegen, betrachtete ich es noch weiterhin. Die Front war gesäumt mit einer langen Reihe großer Fenster. Die Vorstellung in solch einem Haus zu wohnen.
Der Wahnsinn.
Ich fühlte mich unfreiwillig wie eine Prinzessin, obwohl ich diese Kitschgeschichten von Prinzessinnen nicht ausstehen konnte.

"Willkommen in Ames Manor."
Ich konnte Jasons Grinsen geradezu spüren. Es war atemberaubend. Natürlich würde ich Shane und Alicia vermissen, doch das hier war schon nicht schlecht. Bis jetzt dachte ich immer, das Internat sei das schönste Gebäude gewesen.-
Mein ehemaliges Internat ...


Kapitel 3

  

 

 

 

Als ich durch die Tür trat, musste ich erstmal schwer schlucken. Der Wahnsinn. Das Innere des gigantischen Herrenhauses war atemberaubend. 

Ich stand in einem riesigen Saal, in dem alles geradezu funkelte. Alles war golden und weiß gehalten, ausschließlich dem majestätischen - und anscheinend neu gesäuberten - Teppisch, der mit seiner Rubin-roten Farbe herausstach. Die Schritte meiner Schuhe hallten auf dem weißen marmornen Boden wider. 

In der Mitte der ovalförmigen hohen Decke hing ein, in Regenbogenfarben schimmernder, Kronleuchter, natürlich golden. Links und rechts des Saals führten Treppen in einem Außenbogen in die oberen Etagen. Oben auf dem Gang, an der alle zwei Treppen endeten, war ein Teppisch aufgehangen. Es war befestigt an zwei hohen Säulen die jeweils links und rechts des Teppichs standen. Ich wusste nicht wie ich ihn beschreiben solte. Es war ein Teppich, zweifelsohne, doch es sah aus, als würde es eine Geschichte erzählen... 

Doch erst jetzt merkte ich eine Gestalt die davorstand und zappelte. Ich richtete meine Aufmerksamkeit auf sie und stellte dabei mein Handgepäck ab. Es tat fast weh, meine unbedeutenden Sachen auf den teuren Marmor abzustellen.

"Da kommt ja die dynamische Persönlichkeit. Amy, ich bin dann weg, bis später!" Das war nicht Jasons Ernst! Das konnte er mir nicht antun. Mist, der meinte es ernst, der hatte mir den Rücken zugedregt und ging!

"Jason! Was soll das? Was heißt hier später? Verzieh dich gefälligst wieder hierher zu mir!", zischte ich ihm zu, doch er verschwand schon in der nächstbesten Tür.

Langsam drehte ich meinen Kopf wieder der anderen Person zu. Sie - ja, genau, es war ein Mädchen - tänzelte elegant die letzten paar Stufen hinunter auf mich zu. Erst jetzt richtete ich meinen Blick auf ihr Gesicht. Ich zog die Luft zischend ein und verschluckte mich auch promt an ihr. Wortwörtlich atemberaubend. Vor mir stand ein kleines, zierliches Mädchen, dessen Haar seiden und schwarz wie die Nacht selbst war. Ihre hellblauen Augen waren umrahmt von dichten Wimpernkränzen und ihre Lippen waren rot und perfekt geschwungen. Ich wusste nicht, wo ich zuerst hinsehen sollte.

"Hi! Wie geht's dir? Du musst Amy sein. Glaub mir, ich bin echt froh nicht mehr das einzige Mädchen in diesem Haus sein zu müssen. Warte, nicht nur froh, sondern überglücklich! Wir waren hier eindeutig in der Unterzahl. Jason und Duncan sind mir schon auf der Nase herumgetanzt. Und Arem, tja, ist zwar auf meiner Seite, aber wird dadurch trotzdem nicht weiblich. Nein, jetzt ist mir das schon wieder passiert! Ich glaube, ich sollte mich erstmal vorstellen. Hallo, ich bin Eve Ames, 16 Jahre alt und suche nach Verbündeten."

Das haute mich glatt von den Füßen. Mir hatte niemand etwas von Kindern gesagt! Diese hier schien mir sogar sehr hyperaktiv zu sein. Alicia war dagegen noch harmlos! Ich sah wie sie mir ihre winzige Hand ausstreckte, also ergriff ich sie, jedoch zögerlich und musste leider auch noch feststellen, dass ihre Haut weich und zart war, wie die eines Babys. In diesem Moment kam ich mir ziemlich leidlich vor.

Jetzt verstand ich auch Jasons Aussage. Dynamisch. Das passte wie die Faust auf's Auge (kam drauf an, auf wessen Auge, aber Jason verdiente es definitiv).

 

"Mensch, Eve, das solltest du dir wirklich abgewöhnen. Schau doch wie überrumpelt sie ausschaut." Ich erschrack und fuhr herum, da ich niemanden kommen gehört hatte. Doch promt setzte mein Herz für einpaar Sekunden aus.

Es war eine männliche Stimme gewesen, also musste es eindeutig ein Junge sein. Sehr logische Schlussfolgerung, Amy ...

Er war genau so schön. Wunderschön. So schön, dass es mich fast nervte. Seine Haut so rein und blass wie Eve’s und Jason’s. Der Shampoogeruch seiner wirren, langen, glatten und braunen Haare wehte zu mir herüber, als er seine hellblauen Augen auf mich richtete.

 

„Tut mir Leid, ich hätte mich nicht anschleichen sollen. Mein Name ist Arem Ames.“ Auch er streckte mir seine Hand entgegen, die ich, diesmal etwas gefasster, ergriff.

„Amy Newcastle. Du willst mir nicht dein Alter und deinen Lebenslauf verraten?“ Er war mir auf Anhieb symphatisch. Eve auch, doch eher auf eine andere Art. Bei ihm fühlte ich mich nicht ... bedrängt.

 

Er lachte ein bezauberndes Lachen. „Ich bin 18. Das ist typisch Eve, sie ist immer so aufgeregt, wenn ein neues Mädchen da ist. Doch das wird sich legen. Na ja, es wird wenigstens nicht mehr SO übertrieben sein, aber es ist ein Teil von ihr.“ Er grinste und entblößte mir seine perfekt weißen Zahnreihen.

„Sehr interessant, Arem. Geh mit deinen Basketbällen spielen. Amy kommt jetzt mit mir!“, sagte Eve kurz und bündig. Da schien mir jemand sehr launisch.

Hilfesuchend schaut ich Arem an, doch er zuckte entschuldigend mit der linken Schulter.

„Ich musste sowieso noch zu Mutter. Zeig Amy doch schon mal ihr Zimmer, sie sollte sich ausruhen. Der Flug war doch bestimmt lang.“

 

Und dann verschwand er nach oben, in der Tür am linken Ende des Ganges. Eve schnappte sich meine Hand und zog mich hinter sich her nach oben.

„Wohin bringst du mich? Und was ist mit meinem Gepäck?“

„Die werden in dein Zimmer gebracht, keine Sorge! Doch zuerst zeige ich dir mein Zimmer!“ Somit liefen wir schon fast, ich natürlich darauf bedacht nicht über meine Füße zu stolpern, in die entgegengesetzte Richtung wie Arem.

 

Wir waren nun in einem scheinbar unendlich langen Flur. Dieses Haus hatte definitiv zu viele Türen...

Plötzlich blieb sie abrupt stehen und ich konnte mich gerade noch abhalten in sie hineinzulaufen. Es war ja schon ein Wunder, dass ich nicht hinflog, doch das Glück sollte man nicht herausfordern.

 

„Das hier ist mein Zimmer. Deines ist zwei Türen weiter, davor ist auch das Bad.“ Ich folgte ihr also in ihr Zimmer, und Oh-Mein-Gott. Hier würde ich mich wahrscheinlich nicht oft herumtreiben. Ich musste schlucken. Alles war rosa. Das Zimmer war riesig, wahrscheinlich wie alle Zimmer hier, doch ich konnte einfach keinen Bezug zu diesem raum aufbauen, ich hasste diese Farbe.

„Wie findest du es?“, fragte mich Eve. Verdammt. Eine Notlüge musste her. Ich hoffte, dass es sich glaubhaft anhörte.

„ Es ist ... äh ... sehr besonders ...“ Mist.

„Danke!“ Sie strahlte vor Freude. Puh, doch gut gegangen.

„Jetzt ist aber dein Zimmer dran.“ 

Zwei Türen weiter reichte sie mir einen Schlüssel, anscheinend zu meinem Zimmer. Dann verabschiedete sie sich mit einer herzlichen Umarmung und verschwand im Gang.

Ich stand eine Weile perplex im Flur. Irgendwie war sie schon liebenswürdig. Eine sehr lebensfreudige Person.

 

Schließlich schloss ich meine Tür auf, der Flur war kühl – und es war Sommer, wie würde es wohl im Winter sein? - außerdem machte sich die Erschöpfung ebenfalls bemerkbar.

Ich sollte dringend duschen, der Flug war anstrengender als gedacht. Ich schloss die Tür hinter mir und lehnte mich dagegen.

Endlich allein, dachte ich, und als ich aufsah weiteten sich meine Augen. 

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 05.08.2011

Alle Rechte vorbehalten

Nächste Seite
Seite 1 /