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Dunkelheit.
"Hey, du, Junge! Komm herüber!Die Stimme zog ihn aus einem Zustand der Leere hinauf, aus der Dunkelheit, dem Licht entgegen. Es war ein graues, kaltes Licht, es musste später Abend sein.Er blinzelte, öffnete dann die Augen ganz und sah den kleinen Jungen an, der sich über ihn beugte. "Bist du endlich angekommen", stellte dieser fest und reichte ihm seine kleine Hand, um ihm beim Aufstehen zu helfen.
Um ihm herum stand ein Kreis aus Kindern, sicherlich keines älter als zwölf. Er sah keinen erstaunten Ausdruck oder Ähnliches in ihren Augen, als wäre es für sie Alltag, dass plötzlich ein Wildfremder zu ihren Füßen liegend auftauchte.
Er sah sich unter ihnen um. Sie lächelten verständnisvoll und einladend. Der Junge, der ihm aufgeholfen hatte, sagte: "Wir dachten schon, du schaffst es nicht."
"Was schaffe ich nicht? Wo bin ich hier?"
Sein Kopf dröhnte und in seinem Kopf machte sich ein lautes Rauschen bemerkbar. "Das geht vorbei", sagte der kleine Junge wieder, als wüsste er genau, was los war. "Es sah kritisch aus für dich. Hier kommen täglich Kinder an, aber bei dir dachten wir schon, du würdest uns wieder verlassen."
"Wo bin ich denn hier?"
"Das weißt du nicht?", fragte der Junge erstaunt und machte große Augen. "Aber du musst es doch auf deiner Reise irgendwie geschafft haben, den Weg hierher zu finden. Andere sind schon verschollen und treiben irgendwo umher. Aber du hast es geschafft, denn du bist hier."
Ich weiß doch aber gar nicht, wo HIER ist", beteuerte er.
"Das musst du aber wissen, wenn du doch zu uns kommen wolltest."
"Das wollte ich gar nicht. Ich weiß ja nicht mal, was das für ein Ort ist. Träume ich? Lag ich nicht gerade noch in meinem Bett? Wo bin ich hier?" Er war verwirrt und drehte sich mehrmals um sich selbst.
in der Gruppe um die beiden herum erhob sich aufgeregtes Flüstern. "er weiß es nicht, er weiß es nicht. Wie ist das möglich, er hat es doch geschafft."
"Er weiß es nicht", sagte der kleine Junge. "Ja, das ist seltsam, dass du das nicht weißt, Junge. Denn wer nicht von diesem Ort weiß und sich nicht zu ihm wünscht, der kann ihn nie erreichen."
"Was ist das denn für ein Ort? Warum ist alles hier so grau und sieht so trostlos aus? Alles wirkt so heruntergekommen."
"Das ist das Land der verlorenen Träume", erklärte der kleine Junge endlich. "Das Land sieht so grau aus, weil unsere Träume es so erschaffen."
"Habt ihr denn aber keine schönen Träume?", fragte er.
"Die hatten wir", sagte der kleine Junge traurig, mit hängendem Kopf. "Ja, früher hatten wir die mal."
"Und warum jetzt nicht mehr? Wie seid ihr denn alle hierher gekommen?"
Um ihn herum wurde Gelächter laut. "Was für eine Frage", hörte er ein kleines Mädchen mit langen roten Zöpfen rufen. Ihr Gesicht sah blass aus und sie war sehr dünn, ihre Augen schienen ausdruckslos.
Aber der kleine Junge schien zu verstehen. "Du bist nicht aus freiem Willen hier. Du bist ein Unfall, ein Versehen, Junge."
"Was heißt das?", herrschte er den Jungen laut an. "Wer seid ihr?"
Aber der Junge blieb ruhig. "Wir sind die Kinder, von denen die verlorenen Träume sind. Aber wer bist du, Junge?"
"Na, ich bin ich! Ich bin niemand. Ich bin Ich!"
"Jetzt bist du nicht mehr du. Du bist jetzt nur noch ein verlorener Traum. Einer von uns."
"Das will ich aber nicht! ich will nach Hause!"
Panisch blickte er sich um. Der Kreis der KInder stand am Fuße eines alten Baumes, der verdorrt und tot zu sein schien. Aus seiner kahlen Krone flog jetzt, von seiner lauten Stimme aufgeschreckt, ein Krähenschwarm auf und verschwand über das große, leere Feld, auf dem eine Menge Gerümpel, kaputte Gegenstände schien es, herumlag.
"Unser Zuhause", sagte der Junge mit einer ausladenden Geste, aber völlig tonlos. "Jetzt ist es auch deines, Junge."
"Nein, ich bin hier nicht zu Hause. Wie bin ich hierher gekommen? Wie seid ihr alle hierher gekommen? Wie kommt man wieder zurück?"
"Gar nicht", sagte der Junge und hob grinsend die Schultern. "Wir sind schließlich alle tot."
"Was, tot? Wieso denn das?"
"Ganz einfach, wir sind Selbstmörder", sagte der Junge gelassen.
"Selbstmörder?! Aber ihr seid doch alle noch so jung. Warum seid ihr denn alle noch so jung?"
"Als wir gestorben sind, waren wir älter. Aber bei unserem Tod wurden wir wieder so alt wie wir waren, als unsere Träume uns verlassen haben. Aber du siehst älter aus als wir, Junge. Wie alt bist du?"
"Vierzehn."
"Das ist zu alt für uns.Wir verlieren unsere Träume schon viel früher."
"Und warum bringt ihr euch dann später erst um?"
"Wir wissen es erst später. Aber du wusstest es wohl gar nicht, was?"
"Nein, ich war glücklich und ich hatte viele Träume. Ich will jetzt nach Hause. Wie komme ich zurück?"
"Du kommst nie mehr zurück. Du hast dich umgebracht, wahrscheinlich in dem Augenblick, als dir deine Träume verlorengingen. Das ist selten, aber nicht unmöglich. Und jetzt bleibst du hier bei uns, wenn nötig halten wir dich mit Gewalt. Es gibt keine zweite Chance mehr für dich, für niemanden von uns, wie viele sich das auch wünschen mögen." Der Junge schüttelte den Kopf.
"Aber ich habe mich doch gar nicht umgebracht! Ich will zurück, ich bin kein Selbstmörder. Ich will zurück!"
"Das musst du aber sein. Vielleicht hast du es ja vergessen. Wer hier bei diesem Baum liegt, hat sich umgebracht und dessen Träume sind verloren."
"Das ist nicht wahr! Das ist nicht wahr!", schrie er, doch seine Schreie verhallten ungehört über dem weiten Feld. Während er immer weiter und weiter schrie, traten die Kinder näher zu ihm und hielten ihn mit kleinen, schwachen Händen fest. Der Kreis zog sich um ihn zu wie eine Schlinge. Die Luft wurde ihm abgeschnürt, er hustete und konnte nicht mehr atmen. Das Drönen in seinem Kopf wurde stärker, das Rauschen immer lauter....
Dunkelheit.

Eine Selbsttötung sollte man sich überlegen denn man macht sie nur ein mal und dann nie wieder.

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Tag der Veröffentlichung: 24.08.2011

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