Für Charlène.
Einsam stand sie da, trotz der Tatsache, dass sie nicht alleine war. Die letzten Meter fielen ihr besonders schwer. Nie zuvor in ihrem noch so jungen Leben hatte sie einen Weg wie diesen vor sich. Es war der schwerste, grausamste, verbittertste innerliche Kampf, den sie bisher mit sich selbst hatte austragen müssen. Das feuchte Laub unter ihren Füßen hatte etwas Gespenstisches.
Es passte nicht zu dieser Situation.
Es täuschte eine Art Ruhe und Ausgeglichenheit vor, eine Parallelwelt, die sich ihr gegenüber seit zwei Tagen für immer verschlossen hatte.
Nie wieder würde es werden wie es war. Nie wieder.Das erste was sie fühlte, als sie ankam, war ein Gefühl von Schwermut. Sanft und leise strich ein leichter Wind von der Seite kommend durch ihre braunen, langen Haare und gab ihr das Gefühl, existent zu sein. Und dennoch fühlte es sich an, als sei sie innerlich komplett zerrüttet. Unfähig, zu empfinden. Unfähig, sich mit der Situation abzufinden, sich darauf einzulassen. Als sei sie zerbrochen. Wie Glas, das aus hunderten Metern Höhe herunterfiel und auf einen nackten, harten Steinboden aufschlug. Zersplittert in tausend Einzelteile. Tot. Und dennoch regte sich etwas in ihr. Ein Fünkchen Widerstand, Hoffnung, Trotz. Sie wollte weiterleben, vor dem alles zerreißenden Gefühl nicht resignieren, wollte erfahren, wie sich das Leben anfühlt, auch wenn sich ab jetzt alles verändern würde. Dieses Gefühl von Trotz und Widerstand regte sich tief in ihrem Inneren, es gelang kaum merklich an die Oberfläche und dennoch war es da. Sie war noch nicht verloren. Auch wenn es sich so anfühlte. Der Wind ließ nach und Charlène sah ununterbrochen hinab.
Kein Zwinkern.
Keine Träne.
Surreal, vollkommen surreal.
Es hatte sie schier unmenschliche Kraft gekostet, alle anderen davon zu überzeugen, alleine herkommen zu dürfen. Sie hatte es unbedingt gewollt. Und sie hatte es geschafft. Zumindest die letzten hundert Meter war sie ohne Begleitung gegangen, durfte diesen Moment allein erleben. Mit ihm, so hoffte sie. Jede Faser ihres Körpers hoffte, dass er diesen Moment mit ihr teilen würde. Auch wenn er nicht mehr zu sehen war. Charlène schaffte es nicht zu weinen. Ihr Körper war noch nicht so weit. Ihr Kopf wollte es noch nicht akzeptieren. Er weigerte sich, der grausamen Realität die Erlaubnis zu geben, sich vollends in ihre Gedanken einzunisten. In diesem Moment dachte Charlène an den Tag exakt vor einer Woche, als das Leben noch lebenswert war, als der Wind in ihren Haaren noch ein Gefühl der Schwerelosigkeit ausgelöst hatte. Als Oma und Opa mit ihr im Garten Geburtstag gefeiert hatten. Als Papa dazukommen wollte. Der Tag war wie im Flug vergangen, sie hatten Spiele gespielt, Kuchen gegessen, Spaß gehabt. Und dennoch hatte etwas gefehlt. JEMAND hatte gefehlt. Charlène hatte Oma beinahe jede Stunde gefragt, wann es endlich 16 Uhr sei. Wann ihr Vater Patrice endlich vom Dienst kam, um das letzte Stück Torte zu essen, das sie ihm extra aufgehoben hatte. Himbeertorte von Oma, die leckerste Torte, die es gab. Oma liebte Torten und buk das Jahr über bestimmt zwanzig Stück für sie und ihren Vater. Charlène war gut erzogen und traute sich nicht, ihr zu sagen, dass ihr von allen Torten eigentlich nur die Himbeertorte schmeckte. Diese dafür aber unglaublich gut.
Gegen 17 Uhr hatte auch Charlène gemerkt, dass Oma und Opa nervös wurden. Nie hatte sich ihr Vater bisher verspätet, es sei denn er rief vorher an um mitzuteilen, dass es heute wieder etwas später wurde, da er noch die ein oder andere schriftliche Arbeit auf der Dienststelle zu erledigen hatte. Ihr Vater liebte Charlène, zog sie seit einiger Zeit alleine groß, ging durch dick und dünn mit seiner „Prinzessin“, wie er sie immer genannt hatte. Da würde er doch niemals zu spät zu ihrem elften Geburtstag kommen. Eine halbe Stunde später zerbrach das Leben von Charlène. Mit elf Jahren. Und das ihrer Oma. Und das ihres Opas.
Eine halbe Stunde später kam der erschütterndste Anruf, die schlimmste Nachricht, die sie jemals erhalten hatten.Jetzt stand sie hier. Eine Träne glitt langsam ihre linke Wange hinunter. Die Gedanken daran, dass vor einigen Tagen eine komplett andere, schönere, lebenswertere Realität existiert hatte, schienen ihr langsam das gesamte Ausmaß der Situation klar werden zu lassen. Und es fing an wehzutun. Es schmerzte mit jeder Sekunde mehr, die sie da stand und auf das Grab ihres Vaters blickte. Er hatte alles für sie getan, sie geliebt, so wie sie ihn geliebt hatte. Vielleicht noch ein bisschen mehr. Er hatte seine einzige Tochter nach der Trennung von ihrer gewalttätigen Mutter in Watte gepackt, sie so behandelt wie er sie immer liebevoll genannt hatte.
Seine Prinzessin.
Mein Name ist Patrice, ich bin 43 Jahre alt geworden und hatte ein beneidenswertes Leben. Bis diese unglaubliche Geschichte mich aus dem Leben riss, es zerstörte und dazu noch das der liebsten und liebenswürdigsten Person auf Erden. Meiner Tochter Charlène.
Es schien ein Tag wie jeder andere zu werden. Mein Kollege und ich fuhren Streife durch die Straßen von Paris. Einmal im Monat durften wir ein wenig Abwechslung vom Alltag erfahren und unseren Streifendienst mit dem Fahrrad versehen. So auch am Vormittag des 07. Januar 2015. Mein Streifenpartner Bernard und ich hatten uns vorgenommen, einen entspannten Dienst zu versehen – uns einen Tag Auszeit zu nehmen von der teils frustrierenden Arbeit im Funkwagen. Wir fuhren auf dem Pariser Boulevard „Richard Lenoir“, als wir über Funk mitbekamen, welche Tragödie sich kurz zuvor nur etwa 400 Meter von uns entfernt abgespielt haben musste. Mehrere bewaffnete Personen sollten in die Redaktionsräume einer Zeitschrift eingedrungen sein und um sich geschossen haben.
Mehr Informationen gab es nicht.
Wir sahen uns entgeistert an, dachten nach und überlegten, ob wir etwas falsch verstanden hatten, entschieden aber wie immer, die Meldung so ernst wie möglich zu nehmen und boten uns aufgrund der räumlichen Nähe an, in die Richtung des Tatortes zu fahren. Wir wurden angewiesen, auf Unterstützung zu warten, sollten und wollten uns nicht selbst in Gefahr bringen. Dennoch – ich habe meinen Job nie als Beruf, eher als Berufung verstanden, als Verpflichtung den Menschen gegenüber, die Hilfe und Unterstützung brauchten, als Verpflichtung der Gesellschaft und letztendlich auch der nachfolgenden Generation gegenüber – zu der auch meine Tochter gehört – eine wenn auch nur in kleinen Teilen bessere Welt zu schaffen. Für Bernard und mich war von Anfang an klar, dass wir in die Richtung fahren und uns im Schutz der Umgebung postieren würden. Gerade einmal zwei Minuten hatten wir mit unseren Fahrrädern zu den Redaktionsräumen von „Charlie Hebdo“ gebraucht, dem Satiremagazin, das seit Jahren zwar rückläufige Verkaufszahlen vorwies, jedoch alles und jeden auf die Schippe nahm, weshalb ich seit einiger Zeit sehr gerne die ein oder andere Ausgabe des Blattes verschlang. Als wir etwa 50 Meter vor dem vermeintlichen Tatort vom Fahrrad abstiegen, sahen wir von weitem, wie zwei Männer aus den Räumen gestürmt kamen, Kalaschnikows bei sich trugen und beim Herausstürmen das Feuer auf zwei Kollegen eröffneten, die gerade mit dem Funkwagen einzutreffen schienen.
„Nein!“ schrie Charlène aus vollem Hals.
Kleinste Schweißtröpfchen bildeten sich auf ihrer Haut, in Sekunden Bruchteilen fing sie an aus allen Poren zu schwitzen. Ihr Herzschlag wurde spürbar schneller, sie hatte Angst. Ihr Körper bebte und mit einem Mal riss sie ihre Augen auf und schaute ins Leere.
Es war erst wenige Sekunden her, dass sie vor Angst Herzrasen bekommen hatte und vor Panik kaum atmen konnte. Doch nun wusste sie schon nicht mehr, wovon sie geträumt hatte. Weshalb sie sich von einem bescheuerten Traum dermaßen hatte aus der Fassung bringen lassen. Ihr Herzschlag verlangsamte sich ein wenig und dennoch spürte sie Unbehagen. Das einzige Licht, das sie in ihrem Kinderzimmer wahrnehmen konnte, stammte von der kleinen blauen Digitalanzeige ihres Weckers auf ihrem Nachttisch. Ansonsten war es stockdunkel.
Wie konnte das sein?
Ihre Eltern wussten, dass sie es hasste, im Dunkeln zu schlafen . Noch nie in all den Jahren war es vorgekommen, dass sie das Licht der kleinen Nachttischlampe gelöscht hatten. Möglich, dass die Nachwirkungen des Traumes in diesem Moment zum Vorschein kamen, doch Charlène fing leise an zu weinen. Zu unheimlich und fremd schien ihr die gesamte Situation. Vorsichtig robbte sie sich von ihrem Bett in die Richtung des Weckers, wo sich auch die Lampe befand. Sie drückte auf den kleinen, schwarzen Lichtschalter, der an der dazugehörigen Strippe hing. Nichts. Vielleicht war die Birne kaputtgegangen. Charlène sah auf den Wecker.
02:25 Uhr.
Es war mitten in der Nacht. Sie spürte den Drang, in das Schlafzimmer ihrer Eltern zu gehen und ihren Vater leise zu wecken, um das gewohnte Gefühl von Geborgenheit wiederzuerlangen. Charlène stand aus dem Bett auf und ging leise zur Tür ihres Zimmers. Mit einem Mal und ohne Vorwarnung durchfuhr sie ein eiskalter Schauer, der sich seinen Weg vom Kopf bis in die Zehenspitzen bahnte. Ein entfernt klingender und doch aus vollem Halse hervorgebrachter Schmerzensschrei erfüllte das gesamte Haus. Spätestens jetzt wäre Charlène ohnehin aufgewacht. Die Angst aus ihrem Traum kehrte zurück, reglos und unfähig, zu wissen, was sie nun tun sollte, stand Charlène an ihrer Zimmertür. Wer hatte da geschrien? Doch was ihr am meisten Angst einjagte – der Schrei, das hätte sie schwören können, kam eindeutig aus Richtung des Schlafzimmers, in dem ihre Eltern normalerweise ruhig hätten schlafen sollen.
„Warum stehen die da alleine?“ war das einzige, was ich Bernard gegenüber in der Situation herausbekam und sah das Entsetzen in seinem Gesicht.
Ohne ein weiteres Wort stürmten wir instinktiv in die Richtung, in welcher sich eine Tragödie abzuspielen drohte. Welches Ausmaß diese Tragödie letztendlich haben würde, war mir in dieser Situation nicht mal ansatzweise bewusst. Vor Ort angekommen, war schnell klar, dass wir eingreifen mussten, um unsere Kollegen zu schützen. Wir eröffneten ebenfalls das Feuer mit unseren den Kalaschnikows um Welten unterlegenen Pistolen.
Eine Szene wie aus einem Hollywood-Blockbuster. Einem Kriegsfilm, in welchem sich völlig ungleiche Kontrahenten gegenüberstanden. Und doch war es die Realität. Was sich in der Kürze der Ereignisse vor Ort nicht realisieren ließ. Dann ging alles sehr schnell. Ich kann bis heute nicht genau sagen, wie es dazu kam. In diesen Momenten spürte ich mein Herz bis zum Hals schlagen. Das Adrenalin schien meinen Körper fast zu zerreißen, eine Anspannung wie ich sie noch nie zuvor erlebt hatte, baute sich in mir auf. Ich fühlte mich nackt, ungeschützt, unsicher.Ich weiß, dass ich mehrere Schüsse abgefeuert hatte, ehe es mich traf. Ein stechender Schmerz durchzog meine rechte Schulter, ich verlor meine Schusswaffe, fiel seitlich auf den harten Steinboden. Auch meine Kollegen wurden getroffen, versuchten, aus einer sicheren Deckung heraus auf die Attentäter zu schießen. Alles, was ich dann wahrnahm, spielte sich in Zeitlupe ab. Von einer auf die andere Situation schien alles vorbei zu sein. Einer der maskierten Männer stand plötzlich über mir. Mit der Kalaschnikow in der Hand, direkt auf mich zielend. Ich spürte die Kälte der Steinplatten, dachte wahnwitziger weise daran, meinen linken Einsatzschuh etwas hochziehen zu wollen, nachdem dieser durch den Sturz auf den Gehweg verrutscht war und mein Fuß halb herausschaute.
Es war eine Situation, die ich nicht begriff. Eine Situation, die von niemandem zu begreifen ist, der sich nicht darin befunden hat. Und ich wünsche jedem, diese Situation niemals erleben zu müssen. Ich erkannte die Augen des maskierten Täters. Voller Hass, Kälte, Aggression. Und dennoch wusste ich, dass mein letzter Gedanke nicht einem fremden Menschen gelten durfte, der mir mit dem, was er nun vorhatte, nicht nur den letzten Atemzug, sondern auch meine Würde nehmen sollte. Er konnte mir meinen letzten Gedanken nicht rauben. Er galt meiner über alles geliebten Tochter. Sie hatte heute Geburtstag. Ihr Daddy würde nicht kommen können. Würde seine kleine Prinzessin nicht in die Arme schließen, ihr freudiges Lachen sehen, nicht in die strahlenden Augen blicken, die voller Vorfreude sein würden ob der Geburtstagsfeier sowie der möglichen Geschenke. Charlène, mein letzter Gedanke galt dir! Ich glaube fest daran, dass du fühlst, was ich dir noch mit auf den Weg geben will. Dass du weißt, wie sehr dein Papa dich geliebt hat. In dem Moment auf dem Boden unter den Augen des Monsters und seiner Waffe, habe ich nur an dich gedacht. Charlène, dein Daddy liebt dich über alles, du bist der tollste Mensch, der mir auf Erden je begegnet ist. Du bist stark, eine Kämpfernatur. Ich weiß, dass du darüber hinwegkommen wirst, dass du ein tolles und erfülltes Leben leben wirst. Ich werde an deiner Seite sein, das verspreche ich dir!
Weitere Gedanken gab es nicht. Ich habe das, was ich soeben beschrieben habe, in jener Sekunde gedacht, in der sich mein Leben dem Ende entgegen neigte. Dann wurde es dunkel.
Charlène brauchte ein paar Sekunden, um wieder zu sich zu kommen. Die Angst lähmte ihre Beine.
Schreie.
Wild durcheinander.
Charlène war sich mittlerweile sicher, dass diese aus dem Schlafzimmer ihrer Eltern kamen. Langsam öffnete sie ihre Tür einen Spaltbreit und sah auf den Flur hinaus. Ein sanfter Lichtschimmer, der seitlich aus den Ritzen der Schlafzimmertür hervortrat, erhellte den Flur so weit, dass sich Charlène halbwegs sicher bis zur Schlafzimmertür vortasten konnte. Mit jedem Schritt wuchs ihre Anspannung. Sie konnte immer noch nicht identifizieren, von wem die Schreie kamen und hoffte nur, dass sie nicht von ihren Eltern stammten. Doch wer sollte sich um diese Uhrzeit sonst im Schlafzimmer ihrer Eltern befinden?
Charlènes Gedanken wurden durch ein lautes, dumpf wirkendes Poltern unterbrochen. Gefolgt von einem weiteren, eher leisen Schrei eines … Mannes?
Sie war sich nicht ganz sicher, aber dieser Schrei hatte sich eher dunkel angehört. Sie nahm all ihren Mut zusammen und legte ihre Hand an die Türklinke des Schlafzimmers. Sie hatte große Angst und spürte die Kälte der Türklinke unter ihren zittrigen Fingern. Ihr Herz pochte bis zum Hals. Dann überkam sie ein kurzes Gefühl von Wut. Was, wenn irgendjemand ihren Eltern wehtat? Oder sie quälte? Das würde sie nicht zulassen. Charlène drückte die Türklinke mit einem kräftigen Ruck nach unten, doch nichts passierte. Sie war mittlerweile so nass geschwitzt, dass sie von der Klinke abrutschte. Abermals legte sie ihre rechte Hand auf die Türklinke und drückte erneut zu. Die Tür sprang auf und Charlène stand im Schlafzimmer ihrer Eltern. Sie brauchte etwa eine Sekunde, um die ganze Szenerie zu erkennen und zu begreifen, was sich nun vor ihr abspielte.
Als sie soweit war, wurde die Szene aus ihrem Traum Realität. Die Szene, in der sie laut und voller Panik losschrie, weil sie sich nicht anders zu helfen wusste. In diesem Moment schrie sich Charlène vor Angst und Entsetzen die Seele aus dem Leib.
Mittlerweile sind einige Wochen vergangen. Es ist viel passiert in dieser Zeit. Ich vermisse sie. Ihr Strahlen, wenn sie mit einer guten Note (und davon hatte sie bisher einige!) von der Schule nach Hause kam und mir stolz erklärte, dass sie zu den Besten in ihrer Klasse gehörte. Ihre unbeschwerte, naive Art zu denken, Hausaufgaben wären eines der größten Probleme des Lebens und diese regelmäßig mit einem genervt klingenden und gleichzeitig leicht ironisch anmutenden „Man, ist das öde!“ zu quittieren. Natürlich vermisse ich auch meine Eltern, die mir das Leben geschenkt haben und die ganze Zeit lang nur das Beste für mich wollten, immer für mich da gewesen sind. Ich vermisse meine Freunde, Bernard, meine Weggefährten. Doch am meisten tut es weh, von Charlène getrennt zu sein. Sie kommt langsam in die Pubertät und ihr Daddy kann nicht bei ihr sein. Er wird nie wieder bei ihr sein, er ist tot.
Und doch werde ich sie niemals im Stich lassen. Das ist mein Versprechen bis weit über den Tod hinaus! Diese Monster konnten mein Leben zerstören. Sie konnten das Leben vieler unschuldiger, liebenswerter Menschen zerstören, die sie nie kennengelernt hatten. Doch niemals werde ich zulassen, dass sie das Leben meiner Tochter kaputtmachen!Die Anteilnahme Europas, der Welt, der gesamten Öffentlichkeit, war groß nach diesem schrecklichen Ereignis. Auch wenn ich mein Leben verloren habe, habe ich mitbekommen, welche Auswirkungen dieser schreckliche Tag hatte, weit über die Grenzen Frankreichs hinaus. Demonstrationen für die Pressefreiheit wurden zunächst scheinbar überall abgehalten. „Je suis Charlie“ verbreitete sich rasant über alle Grenzen der Erde hinaus. Die Solidarität der Menschen schien ungebrochen. Doch es gab auch eine Schattenseite. Demonstrationen wurden gewaltsam unterbunden, weitere Menschen verloren ihr Leben. Die Auswirkungen des Angriffs auf Charlie Hebdo schienen weitreichender als befürchtet. Zunächst wurden überall weitere „Mohammed-Karikaturen“ gedruckt, sie waren für kurze Zeit der Renner und sollten das Sinnbild dafür sein, dass man sich von einigen wenigen geisteskranken Menschen nichts aufdiktieren lassen wollte. Dass die größte Errungenschaft der Demokratie, die Freiheit eines jeden Menschen, die Pressefreiheit eingeschlossen, über der brutalen Ideologie des Fanatismus steht. Mein Name ist Patrice, ich bin 43 Jahre alt geworden. Ich habe den Hass in den Augen eines Menschen gesehen, der besessen davon war, im Namen seines „einzig wahren Gottes“ richtig gehandelt zu haben. Indem er mordete. Menschenleben zerstörte. Meines war dabei nur der Anfang.
Markerschütternd.
Verstörend.
Angsterfüllt.
Charlène schrie, wie sie es noch nie zuvor getan hatte. Sie hatte die Situation erkannt, doch ihr Verstand weigerte sich vehement, das Bild, welches sich auf ihre Netzhaut brannte, zu akzeptieren. So etwas durfte es nicht geben. So etwas durfte nicht passieren – hier, in ihrer Familie. Wie in Zeitlupe senkte sich das aufblitzende Messer in der Hand ihrer Mutter, die mit ihrem ganzen Körper auf dem nackten Bauch von Charlènes Vater Patrice saß, der, die Augen weit aufgerissen, panisch zusah, wie das Unheil seinen Lauf nahm. Charlène fühlte sich hilflos. Wie hatte es soweit kommen können? Wie hatte ihr Vater diese Situation überhaupt zulassen können? Charlène wusste, dass ihre Mutter wohl wieder getrunken hatte. Es wäre nicht das erste Mal, dass sie dadurch einen ihrer Gewaltausbrüche bekommen hatte, doch sehr wohl das erste Mal, dass sie über ihrem Vater saß und versuchte, ein Küchenmesser in seinen nackten Oberkörper zu stoßen.
Dann ging alles ganz schnell.
Patrice schrie kurz auf, krümmte sich vor Schmerzen. Charlène verstummte mit einem Mal. Es war zu spät. Sie hatte es wirklich getan. Wie konnte sie? Wie konnte ihre Mutter die gesamte Familie mit einem Mal zerstören? Charlène erkannte, dass das Messer nicht den Oberkörper ihres Vaters getroffen hatte, sehr wohl aber in seinem rechten Arm steckte. Blut floss aus der Wunde. Ihre Mutter musste sich durch Charlènes plötzliches Auftauchen etwas erschrocken haben und hatte ihn nicht voll getroffen. Sie blickte sich um und sah voller Wut in Charlènes entsetztes Gesicht. Voller Wut darüber, gestört worden zu sein. Wut darüber, dass Charlène nicht in ihrem Bett lag und es gewagt hatte, sie von ihrem Plan abzubringen. Wieder hatten sich ihr Mann und ihre Tochter gegen sie verschworen. Wieder war sie diejenige, die sich rechtfertigen musste für alles, nur weil sie sich betrunken hatte und ihrem bisherigen Leben ein eine bessere Richtung geben wollte, indem sie allein von nun an für ihre ungezogene Tochter da gewesen wäre und von einem tragischen Unfall gesprochen hätte. Ihr Plan war fehlgeschlagen.
Charlènes Mutter stand langsam auf, torkelte mit hochrotem Gesicht und voller Zorn in Richtung der Schlafzimmertür, an welcher Charlène lehnte und vor Schrecken keinen Ton mehr herausbekam. „Ungezogene Göre, undankbares Pack!“Das waren die letzten Worte, die Charlène von ihrer Mutter hörte. Die letzten Worte, bevor ihr Vater mit dem Messer in seinem Arm hinter ihrer Mutter gestanden und sie von hinten überwältigt hatte. Trotz brutaler Schmerzen, wie er ihr im Nachhinein erzählt hatte. Danach ging alles ganz schnell. Unter Schock liefen die nächsten Stunden für Charlène ab wie in einem Film. Sie wirkte teilnahmslos. Polizei und Feuerwehr nahmen das Schlafzimmer in Beschlag, ihre Eltern kamen in ein Krankenhaus, bevor ihre Mutter wenig später einem Haftrichter vorgeführt wurde und die nächste Zeit im Gefängnis zu verbringen hatte. Ihr Vater erholte sich erstaunlich schnell von der Stichwunde, konnte einige Monate später gar wieder arbeiten. An diesem Tag hatte Charlènes Mutter die scheinbar heile Welt auf den Kopf gestellt. Auch wenn längst klar war, dass es irgendwann zum Eklat kommen musste. Seit diesem Tag wurde die Verbindung zwischen Vater und Tochter so eng wie nie. Und Charlènes Vater für sie die engste Vertrauensperson in ihrem Leben.
„Allahu Akbar“, in etwa „Gott ist am Größten“ – das waren die Worte der Terroristen bei dem feigen Anschlag.
Worte, die richtig verstanden werden müssen und leider schamlos missbraucht wurden. Überzeugt von einer Ideologie, die es nur in den Köpfen einiger Verwirrter gibt.
Mich haben sie getötet.
Ich weiß, dass viele weitere Menschenleben dazukommen werden im Laufe der nächsten Jahre oder vielleicht gar Jahrhunderte. Und dennoch ist meine Hoffnung groß, dass diese vermeintliche „Ideologie“ sich niemals durchsetzen wird. Im Islam, genauer im Koran, gibt es keine Stelle, an der zu Gewalt aufgerufen wird. Es gibt keine Stelle, an der erwartet wird, einem Mitmenschen etwas Nachteiliges anzutun. Die Religion an sich ist friedfertig, sie ist auf den Menschen ausgerichtet, sie ist für das gemeinsame Miteinander. Der Großteil der Menschen versteht es auch so. Ein geringer Anteil instrumentalisiert diese Religion leider für eigene, terroristische und radikale Ansichten. Haben diese Menschen ihrem Propheten tatsächlich zugehört?
Allah ist groß.
Gott ist groß.
Jede Religion verdient es, akzeptiert und respektiert zu werden. Weil es auch jeder Mensch verdient. Doch verdienen es auch diejenigen, die nicht verstanden haben, was ihr Gott ihnen eigentlich mitteilen möchte? Mein Name ist Patrice. Ich habe islamische Wurzeln. Und schäme mich für genau diese Menschen, die meine Religion durch Gewalt und Terror weltweit in den Dreck ziehen.
Nachdem überall tagtäglich neue Mohammed-Karikaturen gezeigt und veröffentlicht wurden, verflachte diese Haltung umso schneller. Sicherheitsmaßnahmen wurden in vielen Ländern der Welt hochgefahren, die Angst vor Anschlägen kehrte zurück. In Dänemark gab es einen Angriff eines Einzeltäters auf eine Demonstration für Meinungsfreiheit, bei der auch ein bekannter Mohammed-Karikaturist anwesend war. Demonstrationen wurden aus Angst vor Anschlägen verboten. Eine Zeitungsredaktion in Deutschland wurde Ziel eines weiteren feigen Anschlages wegen der Veröffentlichung mehrerer Karikaturen des Propheten Mohammed mit dem Titel „So viel Freiheit muss ein“. Die Karikaturen wurden weniger, eine Woche später gab es keine Zeitung mehr, die sich noch traute, Mohammed-Karikaturen zu veröffentlichen. Die Menschen wollten zu alten Mustern zurück, sehnten sich nach Sicherheit und verspürten zum ersten Mal in ihrem Leben eine Angst vor einer unsichtbaren Gefahr, die überall lauern konnte und mitten in Europa angekommen war. Es wurde still um Mohammed. Still um Charlie Hebdo. Kritische Äußerungen? Fehlanzeige. Es schien, als würde die Welt einknicken, Wochen nach dem barbarischen Akt. Die Terroristen hatten gewonnen.
Charlène, ich wünschte, du könntest mich hören. Es bricht mir das Herz, dich an meinem eigenen Grab stehen zu sehen. Aber du sollst wissen, dass dein Daddy dir nie von der Seite weichen wird. Du bist stark. Stärker als jeder Mensch, der mit Waffengewalt versucht, etwas zu verändern.
Dein Daddy liebt dich!
Die Träne fiel in Zeitlupe auf das Laub direkt unter ihr.
Doch genau in diesem Moment spürte sie eine kleine Veränderung. Tief in ihrem Inneren. Charlène wusste nicht, woher dieses Gefühl kam, doch es fühlte sich gut an. Als wäre er irgendwie anwesend und würde auf sie blicken.
Jetzt spürte sie es ganz deutlich.
Er war da.
Und er würde sie nie verlassen. Ein kleines, kaum merkliches Lächeln huschte über ihr Gesicht, ein Gefühl von Zuversicht mischte sich unter die allumfassende Trauer.
Sie wusste, dass er sie nicht verlassen hatte.
Nur Gott kann uns richten. Allahu akbar.
Tout est pardonné. (Alles ist vergeben.)
Texte: Copyright by Sekkon
Bildmaterialien: Copyright by Seehund - Danke für das perfekte Cover!
Tag der Veröffentlichung: 09.03.2015
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