„Wenn wir zu schlechten Methoden greifen, um das Schlechte zu besiegen, dann sind oder werden wir selbst schlecht und verewigen das Schlechte.“
Jiddu Krishnamurti
Für Cathy.
„Cathy...
CATHY…
OH GOTT, CATHY….
WARUM???“
Langsam, fast andächtig, aber mit starrem Blick, ging sie weiter. Schritt für Schritt. Atemzug für Atemzug. Links. Rechts. Links. Einen Fuß vor den Anderen.
Der Himmel war leicht bewölkt. Es war eine angenehme Nacht, nicht zu kalt. Der sanfte Schimmer des Mondes ließ die Umgebung, in der Cathy sich befand, lediglich schemenhaft erkennen. Noch fünf Meter, bis ihre Füße das schimmernde und friedfertig anmutende Wasser erreicht hatten. Der See schien keinen Laut von sich zu geben und fast ehrfürchtig auf sie zu warten.
Auf Cathy.
Auf ihren Körper.
Auf ihre Seele.
Cathys Augen waren weit aufgerissen, sie dachte nicht nach, empfand nichts außer diesem unbändigen Drang, all ihre Last abzuwerfen und einzutauchen. In eine Welt ohne diese schwere Bürde. Cathy war entschlossen, empfand weder Schmerz noch Wut. Sie zeigte keine Regung, als das kalte Wasser ihre Zehen berührte und ging weiter. Als Cathy sich knietief im Wasser befand, blieb sie stehen.
Sie bewegte ihren Kopf. Langsam. Leise atmend. Andächtig.
Sie drehte ihn in Richtung des Halbmondes, der sich rechts über ihr in weiter Ferne befand und ununterbrochen auf sie hinuntersah. Ein kaum wahrnehmbares Lächeln huschte über Cathys Lippen. Langsam drehte sie ihren Kopf zurück, sah weiter stur geradeaus .
Nichts als graue Konturen. Und Wasser.
Cathy ging weiter. Wie besessen erhöhte sie nun ihre Schrittfrequenz, ungeduldig, erwartungsfroh.
Im tiefsten Inneren merkte Cathy so etwas wie Widerstand, Uneinigkeit mit dem, was ihr Körper tat. Doch es war zu spät. Längst hatte dieses tiefe Innere nicht mehr die Kraft, den Lebensmut, den Willen, den es einmal gehabt hatte. Jetzt hatte ER die Oberhand über sie. Und das war auch gut so.
Wie in Zeitlupe tauchte Cathy unter, bis auch die letzte Haarsträhne die Wasseroberfläche verlassen hatte und mit ihr in die Tiefe schwamm. Da lag er, der See. Im schimmernden Mondschein. Still. Friedlich. Als sei nichts passiert. Als hätte es sie nie gegeben.
„Ich habe keinen Hunger“, giftete Anna nachdrücklich in Kirks Richtung, als dieser sie zum wiederholten Male aufforderte, doch wenigstens einmal von ihrem Frühstücksbrötchen abzubeißen. Es war vielmehr ein Bitten, fast schon ein Flehen. Es schien Kirk extrem mitzunehmen, dass seine Frau sich seit Wochen so gehen ließ. Und ihm Tag für Tag die kalte Schulter zeigte. Nicht aus Wut Kirk gegenüber. Sondern aus unbändiger Trauer. Diese Ungewissheit. Dieser Schmerz. Was war mit Cathy passiert? Diese Frage trieb Anna und Kirk seit nun mehr sechs Wochen Tag für Tag, Nacht für Nacht in den Wahnsinn. Anna konnte weder richtig essen, noch sich auf ihren Job, die Hausarbeit oder andere Dinge konzentrieren. Beide waren krankgeschrieben. Der Fall ging durch die Presse und ihre Arbeitgeber hatten vollstes Verständnis für diese außergewöhnliche Situation.
Anna, Kirk und Cathy lebten in einem beschaulichen Dorf in Nordamerika, wo es die drei vor gut zwei Jahren hingezogen hatte. In diese ruhige, beschauliche Gegend. Mit Wäldern, Natur und ohne diese nervenaufreibende Großstadthektik. Das Einfamilienhaus hatten sie sich locker leisten können, Kirk verdiente gut in seinem Job als Immobilienmakler. Er hatte einen guten Ruf weit über die Stadtgrenzen hinaus.
Anna und Kirk hatten mittlerweile den Großteil des Ersparten in die Suche nach Cathy gesteckt. Die Öffentlichkeit hatte reges Interesse an dem Fall.
„Du musst doch was essen, Süße“, entgegnete Kirk so einfühlsam wie möglich.
„Sag mal geht’s noch? Kannst du mich nicht einfach mal kurz in Ruhe lassen? Ich muss noch einkaufen, außerdem wollte ich nochmal zur Polizei.“
„Schatz, es ist für uns beide nicht leicht. Seit Wochen denke ich an nichts anderes als an Cathy. Ich bete jede Nacht, dass sie vielleicht doch bei einer Freundin untergekommen ist. Aber was bringt es, wenn du jeden Tag zur Polizei…“
„Halt die Klappe!“, schrie Anna.
Sie stand vom Frühstückstisch auf, ging auf Kirk zu und schlang ihre Arme um ihn. Dann ließ sie ihren Tränen freien Lauf, krallte sich wie besessen an seinem weißen Hemd fest und schrie aus vollem Hals. Kirk hielt Anna fest in seinen Armen.
„Es tut mir Leid“, sagte sie.
„Es tut mir Leid.“
„Cathy Hempton, was hast du getan?
Bist du weg?
Für immer?
Das kannst du nicht tun.
Das darfst du nicht.
Ich vermisse dich.
Ist es wegen uns?
Warum hast du nichts gesagt?
Hat es dir nicht gefallen?
Bitte komm zurück.
Ich will nicht leben ohne dich.
Ohne dein Lachen.
Ohne deinen Duft.
Ohne deinen zierlichen Körper.
Tu mir das nicht an.“
Das Haus von Anna, Kirk und Cathy Hempton glänzte wie nie. Anna putzte Tag für Tag, Stunde um Stunde. Ablenkung hieß das Zauberwort. Nicht noch mehr Schmerz zulassen. Es war bereits genug. Zu viel. Noch mehr und es würde sie zerreißen.
Anna weinte beinahe jede Nacht durch, es gab nur wenige Stunden, in denen sie ununterbrochen schlafen konnte. Ohne Kirk an ihrer Seite hätte sie wahrscheinlich längst aufgegeben. Die Suche. Und sich selbst. Sie fühlte sich leer, kraftlos. Kirk hielt sie jeden Abend fest in seinen Armen, bis sie irgendwann die Augen schloss. Anna schreckte dutzende Male in der Nacht hoch, weil sie der Meinung war, ein noch so kleines Geräusch gehört zu haben, was eventuell darauf schließen ließe, dass Cathy zurück kam.
Doch sie kam nicht.
Heute nicht.
Und auch an den darauffolgenden Tagen nicht.
Was war nur passiert am 20. Oktober, als Cathy nicht aus der Schule zurückkam? Wo war sie? Sie war doch gerade erst zehn Jahre alt. Mit ihren langen, braunen Haaren sah sie zweifelsfrei ein bis zwei Jahre älter aus, aber es würde doch wohl niemand auf die Idee kommen, eine Zehnjährige… Anna zwang sich dazu, diese Gedanken nicht zuzulassen. Sie lebt. Cathy lebt. Es geht ihr gut. Sie kommt wieder. Wenn nicht heute, dann morgen. Wenn es richtig sauber war in diesem Haus. Putzen. Sie musste weiter putzen. Der Fernseher war wieder voller Staub. Dann klingelte es an der Tür.
Anna schreckte hoch. Panik stieg in ihr auf, kroch langsam und ohne jegliche Vorwarnung in jede Zelle ihres Körpers. „Cathy?“, schrie sie aus vollem Hals.
Kirk wirkte überrascht, legte die Zeitung weg und ging langsamen Schrittes in Richtung Haustür, wo Anna bereits angekommen war und die Tür aufriss.
Dann folgte ein unbeschreiblich beklemmendes Gefühl, ein Stich in Annas mütterlichem Herzen, das so voller Liebe ihrer einzigen Tochter gegenüber war, ein Gefühl der Ohnmacht, der Hoffnungslosigkeit. Schuldgefühle, tiefe Trauer. Und all das in einem einzigen Moment. In dem Moment, als Kommissar Atkins ihr mitteilte, dass sie Cathy gefunden hatten. Im „Grand Lake“, einem See, nur einen Kilometer weit von hier entfernt.
Weitere zwei Wochen waren vergangen, seitdem diese unbegreiflichen Worte über die Lippen des Kommissars kamen. Der seine Dienstmütze abnahm und sichtlich betroffen gewirkt hatte. Anna hatte sofort gespürt, was hier vor sich ging. Was der Beamte ihr gleich mitteilen würde. Und dennoch hatte sie nicht geahnt, mit welcher Wucht, welcher Kälte und unausstehlichen Härte es sie treffen würde. Und welch schlimme Nachricht sie zwei Tage nach dem Besuch des Kommissars ereilen würde.
Nach dem Wortlaut des Polizisten konnte Fremdverschulden am Tod ihrer Tochter zum jetzigen Zeitpunkt ausgeschlossen werden. Aber sie hatten etwas gefunden.
Etwas Schreckliches, Grauenvolles, Unbegreifliches. Die Obduktion dauere an, hieß es. Und dennoch seien sie sich bereits sicher, dass Cathy ein dunkles Geheimnis mit sich herumgetragen haben musste.
Es konnte eindeutig festgestellt werden, dass Cathy berührt wurde. An Stellen, an denen kein zehnjähriges Mädchen der Welt je berührt werden sollte. Und nicht nur das. Sie waren sich sicher, dass sie missbraucht wurde. Weit vor ihrem Tod. Und das nicht nur einmal.
Die Worte lösten bei Anna zunächst keinerlei Reaktion aus. Zu viel hatte sie bereits ertragen müssen. Zu wenig konnte sie es begreifen. Wer hatte ihrer kleinen Tochter das angetan? Wer hatte sie so behandelt? Wer hatte ihre kleine Tochter so verzweifeln lassen, das sie sich nicht einmal mehr ihren Eltern gegenüber hatte öffnen können und ihr noch so junges Leben selbst beendete? Denn danach sah es jedenfalls aus, wenn man den Aussagen des Kommissars Glauben schenken mochte. Anna wollte und konnte nicht weiter darüber nachdenken.
Ihre kleine, süße Cathy. Noch so jung. So verzweifelt. Und sie und Kirk hatten es nicht bemerkt. Das heißt…Moment…Anna ging die letzten Wochen im gedanklichen Schnelldurchlauf noch einmal durch. Hatte Cathy sich nicht hier und da doch ein wenig merkwürdig verhalten? Anna erinnerte sich an einen Tag vor gut drei Wochen, an dem sie an ihre Tochter so gut wie gar nicht herangekommen war. Cathy hatte sich komplett zurückgezogen, als sie aus der Schule kam. Beziehungsweise von ihrer besten Freundin Marley, mit der sie nach der Schule noch zusammen an den Hausaufgaben saß. Anna hatte diese leichten Stimmungsschwankungen von Cathy, die ihr vielleicht erst jetzt, wo es zu spät war, deutlich auffielen, der frühpubertären Phase ihrer Tochter zugeschrieben.
Doch sie hatte sich tatsächlich ein wenig verändert gezeigt in der letzten Zeit. Nicht stark. Aber etwas. Manchmal gar leicht melancholisch. Am Tag darauf wieder anhänglich und lebenslustig. Hatte Anna das alles zu sehr auf die leichte Schulter genommen? Hätten sie und Kirk etwas ahnen müssen? Hätten sie ahnen müssen, dass Cathys seelischer Zustand nicht stabil war? Aber weshalb? Was war passiert? Cathy war seit etwa einem halben Jahr mit Marley befreundet und immer mal wieder bei ihr, um mit ihr zusammen für die Schule zu lernen. Das war eigentlich nichts Außergewöhnliches. Doch jetzt dachte Anna plötzlich anders darüber. Was, wenn dort irgendetwas vorgefallen war? Wie gut kannten sie und Kirk Marleys Eltern? Die Frage beantwortete Anna sich gleich darauf gedanklich mit einem „nicht allzu gut“. Auch wenn sie immer einen netten Eindruck gemacht hatten. Genau wie Marleys älterer Bruder, der gerade den Highschoolabschluss nachholte. Nein, was sollte dort vorgefallen sein… Anna versuchte, diese Gedanken beiseite zu schieben. Sie war verwirrt und verzweifelt, wusste nicht mehr, was sie denken und woran sie glauben sollte. Kirk und sie standen vor einem schier unlösbaren Rätsel. Und schwuren sich, diesem auf den Grund zu gehen. Für ihre Tochter.
Seit dem Tag, an dem der Polizist vor ihrer Tür stand, war nichts mehr wie es war. Anna und Kirk bekamen täglich Beileidsbekundungen und standen unter der Beobachtung eines renommierten Psychologen, Herrn Dr. Kingsley. Jeden Tag sprachen sie mit ihm. Anna weinte. Sie hatte in all den Sitzungen bisher noch kein einziges Wort herausgebracht.
Kirk versuchte, ihr die starke Schulter zu bieten, die sie zweifelsohne benötigte. Doch es gelang ihm nicht immer. Er tat sein bestes. Anna dankte es ihm. Sie dankte es ihm in dieser Nacht mit zarten Berührungen, die ihnen beiden so sehr fehlten. Die eine Art Vertrautheit widerherzustellen versuchten, die in letzter Zeit komplett abhanden gekommen war. Die eine Art Schutz herstellen sollten, der schon längst nicht mehr da war. Anna zwang sich dazu, die Berührungen zuzulassen. Eigentlich war sie es, die das unbedingt wollte. In dieser Situation. An diesem Abend. In dieser Nacht. Seit Monaten mal wieder. Aber komplett anders, als sie es beide gewohnt waren. Den Sex.
Anna sehnte sich nach Halt, Geborgenheit. Jede Sekunde dachte sie an ihre verstorbene Tochter. An die Beerdigung, die organisiert werden musste. Versuchte sich abzulenken. So auch in dieser Nacht. Ablenkung hieß das Zauberwort.
Es war ein Gefühl, das sie beide nicht mehr kannten. Nicht erst seit Cathys Verschwinden, schon vorher war ihr gemeinsames Sexleben nicht mehr das gewesen, was es mal war. Das sollte sich diese Nacht ändern. Hemmungslos. Vertraut. Innigkeit sehnsüchtig herbeirufend. Verlangend. Anna genoss es, Kirk so nah bei sich zu spüren, ihn zu lieben, zu berühren und von ihm wieder als Frau gesehen zu werden. Weg mit den schlimmen Gedanken. Diese Nacht gehörte ihnen beiden. Kirk war vorsichtig, einfühlsam und liebevoll. Er gab ihr das, was sie jetzt so sehr brauchte. Ihre Körper waren eng umschlungen, die rhythmischen Bewegungen ihrer Becken variierten in Tempo und Impulsivität. Sie ließen sich vollends gehen. Zärtlich küsste Kirk Annas Nacken, bis zu ihrem linken Ohr. Leise flüsterte er ihr von seinen Gefühlen übermannt ins Ohr. „Ich liebe dich!“ Anna genoss jede einzelne Silbe. „Du bist mein Ein und alles.“ „Ich will dich. Ich will dich ganz nah bei mir spüren, Cathy!“
Anna öffnete schlagartig die Augen, drückte Kirk mit einem Ruck von sich, sodass dieser über die Bettkante auf den grauen Schlafzimmerteppich fiel. Anna nahm die Bettdecke, verdeckte sofort ihren Körper, spürte Ekel und Wut in sich aufkommen, wollte diesen Menschen, der ihr gerade noch so nah war, nicht mehr an sich rankommen lassen.
„NEIN“, schrie sie verzweifelt.
„Anna…“, begann Kirk diese grausame Stille nach einer ewig wirkenden Minute zu durchbrechen.
„Anna, ich…“
Kirk schluckte, doch er konnte sich nicht mehr zusammenreißen. Tränen liefen ihm das Gesicht herunter. Noch immer hockte er zusammengekauert neben dem Bettkasten wie ein Kind, das bei etwas Bösem erwischt wurde, und sah in Annas Richtung. Sie stand noch immer in der Tür und sah völlig entgeistert in seine Richtung.
„Anna, Süße, bitte sag doch was. Oh Gott, es tut mir so leid! Ich wollte niemals, dass es so weit kommt, bitte, das musst du mir einfach glauben, du kennst mich!“
Keine Regung.
„Ich habe nicht gemerkt, was ich in Cathy ausgelöst habe. Ich habe mir eingeredet, dass sie das genau so will wie ich. Anna, ich wollte ihr niemals wehtun. Ich habe unsere Tochter geliebt!“, brachte Kirk hervor, bis er vollends die Fassung verlor und die Tränen nur so seine Wangen herunterliefen.
Die erste Regung.
Anna hob langsam ihren Kopf, drehte sich wie in Zeitlupe weg von dem Häufchen Elend, das soeben noch irgendwelche Laute von sich gegeben hatte, die sie weder verstand noch verstehen wollte. Langsam ging Anna den kleinen Flur entlang, ohne den Lichtschalter zu betätigen. Die klagenden Laute dieses dreckigen Stücks wurden von Schritt zu Schritt immer leiser. Je weiter sie sich von ihm entfernte. Doch sie wusste, was zu tun war. Dass sie gleich wieder zurückkommen musste. Und den alles entscheidenden Schritt durchzuziehen hatte.
Annas Augen schienen glasig. Fixiert auf irgendeinen Punkt irgendwo im Dunkeln vor ihr. Vollkommen konzentriert. Sie schien von einer Sekunde auf die Andere nichts weiter um sich herum wahrzunehmen.
Eine Art Trance.
„Cathy hatte ein schweres Trauma, ausgelöst durch diverse Situationen, die ihr Kopf nie verarbeiten konnte. Dadurch hat sie „ES“ zugelassen und „IHN“ die Kontrolle über sie übernehmen lassen. Sie war gefangen in ihrem eigenen Körper. Unfähig, nach eigenem Willen zu handeln. Hat in kurzer Zeit eine extrem schwere Form der Persönlichkeitsstörung entwickelt. Lassen Sie zu, dass Ihnen geholfen werden kann, Anna! Kämpfen Sie gegen Ihr Trauma an! Ihnen darf so etwas nicht auch noch passieren. Den Wind können Sie nicht ändern. Lediglich die Segel anders setzen!“ Die Worte von Dr. Kingsley waren die letzten Gedanken, die Anna in dieser Situation zuließ. Bevor sie tat, was sie nun zu tun hatte. Wie recht Herr Doktor doch hatte. Mit all seinen Befürchtungen.
Als Anna wieder im Türrahmen des Schlafzimmers auftauchte, kauerte das verlogene Stück immer noch weinend neben dem Bett. Als er sie sah, zuckte er kaum wahrnehmbar zusammen. Kirk riss seine Augen weit auf.
Drei Worte waren es. Drei letzte Worte. Drei letzte Worte, die Anna oder der Mensch, der jetzt noch von ihr übrig geblieben war, in unmissverständlicher Weise von sich gab. Die volle Kontrolle behaltend. Fest entschlossen.
„SIEH MICH AN!“
Kirk flehte um Vergebung. Um Vergebung gegenüber der Frau, der er alles genommen hatte. Gegenüber der Frau, der er der einzig verbliebene Halt gewesen war. Ein bodenloser Halt. Er hatte seine gesamte Familie zerstört. Das alles ging ihm in diesem Moment durch den Kopf. Ihm wurde bewusst, was sie vorhatte, als er das riesige Küchenmesser in ihrer rechten Hand sah, das sie beide vor zwei Jahren zu ihrem Einzug von Annas Mutter geschenkt bekommen hatten.
„Anna, es tut mir leid! Ich weiß, dass ich es nicht anders verdient habe. Ich bin ein schlechter Mensch, ich habe nur an mich gedacht. Nicht an dich. Nicht an Cathy.“
Kirk sah Annas versteinerten Blick, den Mund zusammengekniffen und die Augen weiter aufgerissen als sonst, als sie langsam auf ihn zuging. Er wusste, was die Stunde geschlagen hatte und nahm es seiner geliebten Frau kein bisschen übel. Er bereitete sich auf das vor, was nun geschehen würde. Dachte noch einmal an all die schönen Momente, die sie zu dritt im Zoo von Vancouver verbracht hatten. Oder im Garten vor ihrem Haus. Mit diesem einen dunklen Geheimnis, das Cathy nie verraten hatte. Aus Angst. Aus Angst vor ihm. Dem Monster. Es wurde ihm in diesem Augenblick bewusst.
Zu spät.
Kirk sah, wie Anna das Messer langsam anhob, als sie etwa einen halben Meter vor und über ihm zum Stehen kam. „Die Segel anders setzen“, dachte Anna. Die lange, stählerne Klinge reflektierte die sanften Strahlen der Lampe von Kirks Nachttischschrank. Die letzten Sekunden. Kirk dachte noch einmal an Cathy. An seine eigentlich so intakte Familie. Daran, dass er an allem schuld war. Im nächsten Moment geschah es. Kirk rechnete mit dem Schlimmsten. Und dennoch – so hatte er es sich sicher nicht vorgestellt.
So nicht.
Er wich panisch zurück.
Nach Luft ringend.
Lauthals schreiend und unfähig, auch nur einen einzigen klaren Gedanken zu fassen, als Anna sich die eiserne Klinge mit einem Mal schlagartig in ihren eigenen Hals rammte.
Tief hinein.
Ganz schnell.
Kirk bildete sich ein, einen leicht triumphierenden und zugleich erlösenden Blick in den Augen seiner Frau zu erkennen. In dem letzten Gesichtsausdruck, der ihn für immer verfolgen würde. Mit einer Last auf seinen Schultern, die schon jetzt unerträglich war.
Kirk beugte sich über sie, als Anna zu Boden sackte.
„NEIN“, schrie er verzweifelt, wie er es nie zuvor im Leben gewesen war.
Ich bin wieder bei dir.
Texte: Copyright by Sekkon K.
Bildmaterialien: Vielen Dank an Ultranumb für das erneut mehr als gelungene Cover!
Tag der Veröffentlichung: 09.02.2014
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