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Prolog

„Was ist mir dir?“

„Was soll mit mir sein?“

„Stefan, ich bin nicht bescheuert!“

„Sorry, ich weiß auch nicht. Es war…es war wirklich schön mit dir, echt…“

„Und wo liegt dann dein Problem? Wie hast du das gesagt? Du siehst das alles ganz entspannt…“

„Ja, das dachte ich. Sonja, du weißt genau, dass ich damit zu kämpfen habe. Ich meine…ich liege nicht umsonst hier mit dir, letzte Nacht war…irgendwie nicht greifbar, es war atemberaubend, wunderschön, ich liebe es. Ich liebe es, dich so nah zu spüren, das weißt du.“

„Aber…?“

„Aber? Da fragst du noch? Sonja Schatz, du bist mir wirklich wichtig und der Sex mit dir ist das Beste, was mir je wiederfahren ist, aber irgendwie liebe ich meine Frau einfach immer noch.“

 

 

Es war Samstag, der 23. März 2013, als Stefan seinen Fiat aus der gemeinsamen Garage fuhr und es sich auf dem Fahrersitz bequem machte. Er rückte den Gurt zurecht und schloss kurz die Augen.

Runterkommen.

Den Kopf frei kriegen.

Durchatmen nach all dem Stress.

Wie lange ging das nun schon so? Klar, der Streit war wenige Minuten her, sie würden sich früher oder später schon wieder zusammenraufen. Doch wenn er ehrlich war, war ihre Ehe bereits seit Monaten komplett am Boden. Zermatscht wie eine dreckige Stubenfliege, einfach so. Wer schuld war? Stefan wusste es nicht, er mied es, die Schuldfrage zu stellen, wollte weder sich selbst noch Nadine die Schuld in die Schuhe schieben.

„Schuld“, murmelte Stefan das ein oder andere Mal vor sich hin. „Jeder hat Schuld. Oder auch niemand. Oder das Schicksal“. Dieses verdammte Schicksal, wusste es eigentlich, dass seine Ehe mehr war als nur eine beschissene, kleine Stubenfliege? Dass es verdammt viel Mühe, Nerven, Hingabe und auch Geduld gekostet hatte, diese Partnerschaft so aufzubauen? Dass er mit Nadine früher oder später eigentlich Kinder zeugen wollte? Dass man nicht einfach so mir nichts dir nichts alles zerstören konnte? Stefans Verzweiflung wuchs von Tag zu Tag, von Streit zu Streit. Kleinigkeiten waren es, mit denen der Stress begann. Vergessen, Milch einzukaufen. Den Kühlschrank nicht richtig zugemacht. Am Ende des Tages ging es um den eigentlichen Sinn der Ehe und die mangelnde Einfühlsamkeit des Anderen. Stefan nahm sich selbst dabei nicht aus, wenn er darüber nachdachte, wie unnötig dieser Streit schon wieder vom Zaun gebrochen wurde.

„Alles hat seinen Sinn, Stefan. Auch wenn du nicht gleich verstehst, warum. Das Schicksal weiß es und es meint es gut mit dir“, hatte Bernd ihm geraten. Er stand auf so Esoterik-Zeug. Und er hatte es gut gemeint.

 „Beschissenes Schicksal.“

 Stefan drehte den Zündschlüssel um und startete den Motor.

 

In den nächsten zwanzig Minuten war Stefan wie weggetreten. Immer wieder gingen ihm die Worte seiner „Noch-Ehefrau“…

Oh Gott.

 Hatte er das gerade tatsächlich gedacht?

 Wie konnte er nur?

Gedanken wegwischen.

Nur so ein Hirngespinst.

 Nicht beachten.

Nochmal von vorne.

Immer wieder gingen ihm die Worte seiner „Ehefrau“, wie Stefan sie nun absichtlich in Gedanken  laut bezeichnete, durch den Kopf. Der letzte Streit vor nicht einmal einer halben Stunde hatte es schon ganz schön in sich. Worum ging es noch mal? Womit hatte es angefangen? Eigentlich wie immer mit einer Nichtigkeit. Ausgeartet war es wie so oft. Im Prinzip ging es doch nur darum, Macht zu demonstrieren. Am Stärksten zu sein im Streitgespräch, nicht nachzulassen. Stefan wusste, dass dieses Verhalten kontraproduktiv war und doch erwischte er sich selbst immer wieder in selbigem Verhaltensmuster, welches auch Nadine an den Tag legte.

Es musste bereits kurz vor Mitternacht sein, der Starkregen peitschte nur so gegen die Frontscheibe, die Scheibenwischer liefen bereits auf höchster Stufe. Stefan verlangsamte seine Geschwindigkeit ein wenig. 80 Stundenkilometer sollten reichen, um so schnell wie möglich aus dieser dreckigen Stadt in den nächsten oder übernächsten Ort zu fahren, Hauptsache weg von den Problemen. Flucht nach vorn. Um 23:04 Uhr klingelte Stefans Handy.

 

Stefan ahnte, wer das war. Er nahm sein Handy vorsichtig mit der linken Hand aus seiner Hosentasche. Die Rechte am Steuer, noch langsamer werdend, um dem Verlauf der Landstraße zu folgen. Er musste bereits mehrere Kilometer raus sein aus Potsdam.

Hier war nichts.

Nichts.

Karge Landschaft, Bäume, Dunkelheit. Und dieser grässliche Regen.

„Was für ein Tag...“

Als Stefan erkannte, dass der Name seiner „Ehefrau“ auf dem Display erschien, lachte er kurz lauthals los. Ironie? Oder doch pure Verzweiflung? Stefan jedenfalls beging nun den folgenschwersten Fehler seines Lebens. Mit dem linken Daumen wischte er über das Display. Er nahm den Anruf von Nadine entgegen und schaltete sofort den Lautsprecher an. Dann legte er es auf den freien Beifahrersitz und meldete sich.

„Hallo.“

Mehr schien für Stefan in dieser Situation unangemessen.

 

 

„Hallo? Stefan? Bist du eigentlich bescheuert?“, meldete sie sich.

„Willst du, dass ich gleich wieder auflege, Nadine Voigt?“

„Spar es dir!“, zischte ihm Nadine über den Lautsprecher entgegen. „Sage mir sofort wo du bist. Komm von deinem beschissenen Ross runter und rede anständig. Was fällt dir ein, mich hier alleine zu lassen und das mitten in der Nacht, hast du…“

„Schrei mich nicht an, Nadine, geht’s noch?“

„Wie bitte? Ich habe jedes Recht dazu, dich anzuschreien, du selbstverliebtes Ego. Verpisst dich gleich ohne zu sagen wohin, nach dem erst besten Streit, ich glaub es echt nicht.“

Kurze Pause.

„Nadine. Ich halte es nicht mehr aus, schreie jemand anderen an, ich bin es langsam leid. Du hast mir vorhin nen Becher an den Kopf geworfen, mich beleidigt. Weil mir mein Job ja so viel wichtiger ist als du, ich glaub bei dir stimmt was nicht, ich hab dir  tausend Mal…“

„Es reicht, Stefan! Das war ein Plastikbecher, wie zerbrechlich bist du bitte?! Es ging nicht um deinen beschissenen Job, das weißt du ganz genau. Du verbringst jede freie Minute mit dieser Tussi aus deinem Büro, du weißt, dass mich das stört, aber du änderst nichts. Mittagspause, Kaffeepause, ich will nicht wissen was ihr sonst noch zusammen macht.“

„Nadine, du gehst zu weit…“

„Zu weit? Es ist dir unangenehm, stimmt’s? Komm, sag es ruhig, nimmst du sie ran? Nimmst du sie so richtig ran in der Mittagsause? Freust du dich, dass dich so ne Schlampe wie sie anhimmelt?“

„Nadine…“

„Nix Nadine. Sag die Wahrheit, Stefan. Bist ja so ruhig auf einmal. Sie scheint dir ja mächtig das Blut in die Hose schießen zu lassen…“

„Es reicht!“ Stefan schrie in den Hörer.

„Wenn du es so genau wissen willst, ja, ich habe was mit ihr und ja, es ist der Hammer und weißt du warum? Weil sie mir endlich wieder das Gefühl gibt, ein Mann zu sein, weil sie weiß, was ich will und…“

Klick.

Stille.

Kein Ton.

„Nadine?“

„Scheiße.“

 

 

Stefan wurde schlagartig bewusst, was er da gerade gesagt hatte. Doch viel Zeit, nachzudenken, blieb ihm nicht. Der Regen war nicht weniger geworden, die Scheibenwischer vollbrachten Höchstleistungen. Es war schwer, viel zu erkennen zwischen all den Bäumen auf dieser verlassenen und ewig währenden Landstraße.

Dann passierte es.

Es dauerte wenige Sekunden, Stefan hatte keine Chance. Ein riesiger Baumstamm, mitten auf der Fahrbahn. Quietschende Reifen. Weit und breit kein Mensch. Nur dieser Baum und sein eigenes Auto. Stefan versuchte, rechtzeitig zu bremsen, doch er erkannte das Hindernis viel zu spät. Mit satten 60 Stundenkilometern traf er den massiven Stamm frontal und wurde aus seinem Sitz gerissen. Stefans Auto kam ins Schlingern, stürzte den Abhang hinunter durch die Bäume und Sträucher hindurch und kam alsbald zum Stehen.

Wenige Sekunden.

Alles anders.

Keine Orientierung.

Stefan versuchte zu verstehen, was gerade geschehen war. Er musste einen Moment lang unaufmerksam gewesen sein, vielleicht hatte ihn das Telefonat mit seiner Frau zu sehr abgelenkt. Schmerzen zogen sich von seinen Beinen bis  in den Kopf. Stefan erkannte erst allmählich, dass er unter seinem eigenen Wagen lag. Sein Fiat lag auf der Seite, direkt über ihm, quetschte seine Beine ein, der Motor lief noch. Über ihm der Auspuff, das rechte Hinterrad befand sich etwa zwei Meter über seinem Körper, das Linke lag direkt auf seinen Beinen. Er musste aus dem Fahrzeug geschleudert worden sein. Es ging schnell. Zu schnell. Zu schnell, um es sofort zu verstehen. Adrenalin schoss durch seinen Körper, der Schmerz war dennoch qualvoll. Stefan konnte sich kaum einen Zentimeter bewegen ohne dass er das Gefühl hatte, seine Extremitäten würden ihm bei lebendigem Leib abgetrennt werden. Es musste gleich halb zwölf sein, alles war dunkel, der Regen ging in Schnee über. Stefan erinnerte sich kurz an den Wetterbericht von heute Morgen. Nachts bis zu drei Grad. Oder waren es minus drei?

„Hilfe!“

Stefans Schreie verhallten in der Nacht.

Nacht 1

03:24 Uhr.

Lange konnte es nicht mehr dauern, bis er gefunden würde. Stefan hatte keine Ahnung, wo genau er sich befand. Er hatte kein konkretes Ziel gehabt, war in Gedanken versunken gewesen und wollte einfach weg. Raus aus dem ganzen Schlamassel, ein paar Tage ins Hotel. Und dann das. Wie hatte es so weit kommen können? Er hatte kaum noch etwas gesehen, sich an den Straßenmarkierungen orientiert und gehofft, dass der Regen bald nachließe. Dann der Anruf. Der Baum. Nur Sekunden.

Auch wenn es eine eher unbefahrene Landstraße war, die er benutzt hatte, so musste doch der ein oder andere früher oder später dort entlangfahren. Man würde Reifenspuren erkennen, den umgestürzten Baum sehen, vielleicht sogar Wrackteile seines zerstörten Fiat. Er war weit gestürzt. Einen steilen Abhang hinunter, die Straße war von hier aus nicht zu erkennen. Ohnehin war alles finster. In den letzten Stunden hatte Stefan verzweifelt versucht, nach Hilfe zu rufen, sich selbst zu befreien, irgendeine Möglichkeit zu finden, diesen Koloss von seinen Beinen runter zu hieven. Doch er schaffte es nicht. Jede Bewegung ließ das Blut in seinen Adern gefrieren. Es waren höllische Schmerzen, die ihn jedes Mal aufschreien ließen, als er versuchte, seinen Oberkörper auch nur ein wenig aufzurichten. Seine Beine mussten bereits komplett zerquetscht sein, so fühlte es sich jedenfalls an.

03:55 Uhr.

Stille. Kein Vogel. Kein Uhu. Nichts. Soeben war der Motor seines Fiat ausgegangen und es war erleichternd für Stefan. Man kannte es aus dem Fernsehen. Auslaufendes Benzin, eine Explosion, das war’s. Und dennoch waren die Schmerzen beinahe unerträglich, wenn auch nicht sein einziger Feind. Er hatte zuhause glücklicherweise noch schnell seine Winterjacke angezogen, etwas wärmer als alle Jacken, die er besaß, und dennoch begannen seine Zähne zu klappern und die Stille der Nacht zu durchbrechen.

Nachtfrost. Er wusste es wieder. Nachtfrost hatten sie angesagt. „Scheiße.“ Mehr fiel ihm in dieser Situation nicht ein.

04:58 Uhr.

Yeah, I wanna have the time

And I wanna see you cry…

Stefan fing an zu weinen. Seit Stunden lag er nun schon hier, die Kälte hatte ihn vollends im Griff, er spürte seine Beine kaum und auch sonst schien sein Körper langsam zu erstarren. „Bloß wach bleiben“, dachte Stefan. „Sie wird dich sicher suchen.“ Was hatte er bloß getan? Warum hatte er Nadine seinen Seitensprung gebeichtet und das auch noch am Telefon? War das wirklich nötig? Er konnte es verstehen, wenn sie nun nichts mehr von ihm wissen wollte. „Selbst schuld“, ging es Stefan durch den Kopf. Und immer wieder dieser Song. Dieser Ohrwurm. Er passte so gut. „Rescue me.“  Rette mich. Ziemlich alter Song. Wie hieß die Gruppe doch gleich? Irgendwas mit Candle?

I wanna feel your body

And I wanna get closer

Gotta rescue me, rescue me

Rescue me, let me have a good time.

Falls er das hier überleben würde, würde er versuchen, Nadine alles zu erklären. Auch wenn es für manches vielleicht gar keine Erklärung gab. Er würde sich etwas einfallen lassen. Sie hatte es verdient. Im Grunde liebte er sie doch abgöttisch. War es das wert? War es das wert, diese Ehe aufs Spiel zu setzen für ein sexuelles Abenteuer? Warum mussten immer erst solche Ausnahmesituationen eintreten, ehe er merkte, wie sehr Nadine ihm doch fehlte? Stefan hatte keine passende Antwort.

And I wanna feel you moving

And I wanna feel good

I wanna feel your love for sure.

Nacht 2

00:33 Uhr.

Stefan zitterte am ganzen Leib. Die Kälte hatte sich durch seinen Körper gefressen, bis in die letzte Pore seiner Haut, bis in die letzte Zelle seines Körpers. Wieder war es stockdunkel. Der Tag war nicht vergangen. Ewig hatte es gedauert, bis die Sonne einmal über den Himmel gewandert war. Und keine Menschenseele hatte ihn gehört. Seine Schreie. Oder das, was davon übrig geblieben war. Den ganzen gottverdammten Tag hatte Stefan damit verbracht, aufzupassen. Aufzupassen, nicht einzuschlafen. Aufzupassen, sich immer wieder so gut es ging zu bewegen, die Arme nach oben zu nehmen und wieder runter, damit nicht auch noch das letzte bisschen Gefühl aus seinem Körper wich. Es hatte geschneit, stundenlang. Stefans Wimpern waren bedeckt mit einer extrem dünnen Eisschicht, sein Körper zitterte wie verrückt. Er wusste, dass es sein Todesurteil war, wenn ihm nicht bald jemand zu Hilfe kam. Auch am Tage hatte er die Straße nicht sehen können, er musste tiefer gefallen sein, als er es für möglich gehalten hatte. Einmal gelang es ihm unter teuflischen Schmerzen, seinen liegenden Oberkörper so weit aufzurichten, dass er einen Blick auf seine Beine erhaschte. Dabei fiel er fast in Ohnmacht. Spüren konnte er sie schon lange nicht mehr, und sie sahen unter dem Gewicht seines Autos aus, als wären sie komplett plattgedrückt worden. Etwas weiter den Abhang hinunter hatte Stefan heute Mittag etwas entdeckt. Er konnte es nur nicht einordnen. Es sah aus wie ein altes Wrack. Vielleicht Trümmerteile eines alten Flugzeugs, vielleicht ein Auto, das ebenfalls mal hier heruntergestürzt war. Genau einmal hatte Stefan Hoffnung geschöpft am vergangenen Tag. Um sofort wieder enttäuscht zu werden. Ein lautes Geräusch hatte ihn kurz aufhorchen lassen. Nur um ernüchternd festzustellen, dass es sein Handy war, das sich irgendwo im Auto befand und nun automatisch abgeschaltet hatte.

Akku leer.

Wie bei ihm.

Stefan hatte Hunger. Es hatte aufgehört zu schneien, und dennoch waren es bestimmt drei Zentimeter, die den Tag über heruntergekommen waren. Der Schnee schmeckte nicht besonders, doch ihm blieb nichts anderes übrig. Sollte es das echt gewesen sein?

„Ein erbärmlicher Tod. Geschieht dir recht!“

Stefan hatte nachgedacht. War hart mit sich selbst ins Gericht gegangen. Und doch wollte er unbedingt überleben. Allein schon, um Nadine zu zeigen, wie sehr er seinen Fehler bereute und sie über alles liebte. Immer noch. Wie damals. „In guten wie in schlechten Zeiten.“

Wie hieß der Film doch gleich, wo der Typ irgendwo in Amerika abstürzt und mit seinem Arm in so einem Felsvorsprung stecken bleibt? 127 hours! Das war er. So hieß der Film. „Blöder Name“, dachte Stefan. Er hätte ihn irgendwie spannender genannt, vielleicht „Todeskampf“ oder „Gefangen in der Wüste“? Egal. Der Typ hatte sich letztendlich selbst den Arm abgetrennt, um zu überleben. Und seinen eigenen Urin getrunken. Stefan musste leicht würgen bei diesem Gedanken. Zum Glück hatte er den Schnee. Noch.

 

 

04:16 Uhr.

„Mama, Papa, Nadine. Ich liebe euch. Es tut mir leid, was ich euch angetan habe. Nadine, ich konnte mein Versprechen nicht halten. Ich habe dich nicht verdient. Mama, Papa, ich hätte euch viel mehr achten sollen. Mein ganzes Leben lang. Ich hoffe, ihr könnt mir verzeihen.“

Stefan betete. Er zitterte so stark, dass sein tauber Körper mit jedem kleinen Ruck stichartig Schmerzen hervorrief, die Stefan sein Leben lang noch nie vernommen hatte. Jedes Mal schrie er auf. Auch in der Hoffnung, irgendwann gehört zu werden.

 

 

 

05:00 Uhr.

Nummer vier. Nummer fünf. Oder zählte der Kleine auch dazu? Stefan war sich nicht sicher. Mindestens sechs kleine Schneeflocken waren es, die sich innerhalb der letzten Sekunden auf seiner Handfläche niedergelassen hatten. Jede für sich individuell geformt. Und doch recht gleich aussehend.

„I wanna feel your love for sure.“

Die Stille verunsicherte Stefan. Sie zeigte ihm seine ausweglose Situation, sie schmerzte, sie strahlte Hoffnungslosigkeit aus. Seine Beine taten schon längst nicht mehr weh. Waren sie überhaupt noch da? Er wollte nachsehen, sich ein klein wenig mit den Händen vom Boden abstützen. Da passierte es. Ein Geräusch. Kurz darauf ein weiteres.

Schritte. Eindeutig Schritte. Schritte im Schnee, daher gut zu hören.

„Hallo?“ Stefan war erschrocken über sich und das, was aus seinem Mund kam. Wenn diese Worte seinen Mund überhaupt verlassen hatten, dann doch höchstens ein paar Zentimeter weit zur nächsten Schneeflocke. Doch es ging nicht lauter. Stefan versuchte zu schreien, sich bemerkbar zu machen. Es gelang nicht. Seine Stimme versagte. Und dennoch. Plötzlich stand sie vor ihm. Keine Schritte mehr, sie stoppte direkt vor Stefan und blickte auf ihn herab.

Stefan war fassungslos. Nadine hatte ihn tatsächlich gefunden. Nur wie? Ganz egal. Sie war da. Das zählte. „Hol einen Arzt, Schatz, bitte schnell, ich kann mich kaum bewegen“, krächzte es aus seinem Hals. Wie in Zeitlupe nahm Nadine ihre Arme nach vorne, welche sie die gesamte Zeit über hinter ihrem Rücken verschränkt hatte. Ein riesiger Eiszapfen befand sich in ihrer rechten Hand, lang und spitz. Gewaltig.

„Nadine…“

Stefan verstand nicht.

Nadine holte aus, sie zielte haargenau auf Stefans Gesicht und ließ den Eiszapfen pfeilschnell mit der Spitze nach vorn auf ihn hinunter schnellen.

Stefan schreckte hoch. Er schrie auf. Fasste sich an sein Gesicht. Kein Blut. Keine Nadine. Nichts. Nur er und seine beschissenen Beine. Und die Schmerzen vom Hochschrecken.

Halt!

Hochschrecken?

HOCHSCHRECKEN?

Das musste bedeuten, er hatte geschlafen.

„Oh Gott!“, dachte Stefan. „Bloß nicht einschlafen? Toll hingekriegt!“, sagte er laut vor sich hin. Da war sie wieder, seine Stimme. Sie hatte ihn also tatsächlich noch nicht im Stich gelassen, sie brachte noch Worte hervor. Einerseits war er froh, das gerade Erlebte nur geträumt zu haben. Andererseits…

 

Nacht 3

03:03 Uhr.

Sonne. Das war das erste, was ihm einfiel, als er an damals dachte. Sonne, Hitze, nichts tun. Es war noch nicht lange her, als er mit Nadine drei Nächte auf Mallorca verbrachte. Nicht Ballermann. Kein Komasaufen. Das war einmal. Mit Nadine hatte er sein Glück gefunden, dachte Stefan damals. Es war ein wunderschöner Urlaub. Gemeinsam am Strand liegen, lesen, sonnen, schwimmen. Die Insel erkunden. Stefan liefen winzige Tränen über das Gesicht. Er spürte sie nicht. Der Schnee war ein wenig getaut und doch war es zu kalt, um noch einen weiteren Tag durchzustehen. „Deine letzte Nacht. Und du denkst an deine Frau. Warum nur hast du sie so verarscht?“

Stefans innere Stimme sprach mit ihm und sie tat es erbarmungslos, hemmungslos, schonungslos. Sie fraß ihn förmlich auf. Sein Atem wurde von Minute zu Minute flacher, er spürte Stiche im Inneren seines Brustkorbs, und das mit jedem Atemzug.

Einatmen.

Ausatmen.

Einatmen.

Er war am Ende.

Nichts mehr sehen, nichts mehr fühlen. Diese unerträgliche Stille loswerden, raus aus der Kälte. Das war Stefans sehnlichster Wunsch in diesem Moment. Der tauende Schnee ließ ein paar braune Grashalme hervor blitzen. Doch noch etwas anderes kam zum Vorschein. Nicht weit von Stefan entfernt. Er kam mit seiner linken Hand ran. Stefan hatte Mühe, dieses Ding zu greifen, doch er wollte es haben, schauen, was die Sonne am vergangenen Tag so freigelegt hatte. Bisher war es ihm nicht aufgefallen. Es war eine Tube mit Flüssigkeit. Kleber. Sekundenkleber.

 „Was um Himmels Willen soll ich damit anfang…“ Stefan unterbrach seinen eigenen Gedanken. Einen Wimpernschlag hatte es gebraucht, da kam ihm die einzig logische Idee. Ein Wimpernschlag und er hatte die Lösung. Den Frieden. Alles auf einmal. Stefan fühlte, was er die letzten Tage nicht ein einziges Mal mehr gefühlt hatte. Zuversicht. Eine Spur der Erleichterung. Gleich würde alles ein Ende haben. Es würde wehtun, keine Frage. Es würde hart werden. Doch es würde nichts sein im Vergleich zu den Torturen der letzten Tage und Stunden. Die Unerträglichkeit würde verschwinden. Wenn auch qualvoll.

Er musste es tun. Aufdrehen, die Tube ausquetschen und schlucken. Einfach runter damit. Egal.

Er tat es.

Aufdrehen.

Die Tube zum Mund führen.

Drücken.

Erst kam gar nichts. Er drückte fester. Nichts. Er nahm alle Kraft zusammen.

„Aufhören!“

Stefan erschrak. Er ließ den Kleber fallen. Wieder so ein beschissener Traum? Ein Streich seines Hirns? Oder sollte es tatsächlich…

Er wirkte jedenfalls erschreckend real, dieser Typ. Stefan sah die Umrisse eines Mannes. Oder nein. Es waren zwei. Mindestens. Der Vollmond ließ die Gestalten ein wenig bedrohlicher wirken, als sie vermutlich ohnehin schon waren, doch so konnte Stefan sie wenigstens ein bisschen besser erkennen. Nur eines sah er nicht. Ihr Gesicht. Alle hatten Sturmhauben oder irgendetwas Ähnliches auf ihrem Kopf, nur die Augen waren zu erkennen. Der Typ, der ihn gerade angesprochen hatte, hatte große Augen, weit aufgerissen, Farbe grün, wenn ihn nicht alles täuschte. Er lehnte sich über Stefan und griff nach dem Sekundenkleber. Ein tiefer Blick in Stefans Augen, dann folgte es.

Die Erklärung. Das Rätsel. Die Erlösung. Die Wende.

 

 „Stefan, du hast es geschafft!“

„Was?“

„Psst!“

„Stefan, ich will kein Wort hören!“

Der Typ wirkte bedrohlich, war von kräftiger Gestalt und schien keine Scherze zu machen. Stefan hielt es in dieser Situation für besser, nach seinen Regeln zu spielen. Viel hatte er ja nicht mehr zu verlieren. Stefan fiel etwas Eigenartiges in der Stimme des Typen auf. Sie klang falsch. Tiefer als sie zu sein schien. Oder höher? Auf jeden Fall verändert. Stimmenverzerrer? Wie im Film?

„Es reicht. Du hast bewiesen, was du drauf hast. Du hast überlebt. Zwei Tage und drei Nächte.“

Stefan schien wie erstarrt aufgrund der Worte des Mannes.

„Ich erkläre es dir. Nur eine Sache: Kein Wort zu niemandem! Glaube mir, wir kriegen alles raus. Wir beobachten dich. Sprichst du darüber, bist du tot. Es würde dir eh niemand glauben. Ansonsten wirst du nie wieder etwas von uns hören, kapiert?“

Stefan nickte langsam und versuchte, die aufkommenden Schmerzen abermals zu unterdrücken.

„Schon mal was von Wissenschaft gehört? „human testing“? Menschentests? Stefan, du hast Pech, dass gerade du hier gelandet bist. Siehst du das Auto da hinten? Oder was von dem übrig geblieben ist? Du bist nicht der erste. Er hat‘s leider nicht überlebt. Ein  Jammer, aber auch nicht weiter tragisch. Wir haben unsere Forschungsergebnisse. Du hast es geschafft, all das auszuhalten, du hattest die Kraft, zu überleben. Wir haben alles aufgezeichnet. Hochsensible Geräte, im Auftrag der Regierung. Noch nicht auf dem Markt, verstehst du was ich meine?“

„Ich glaube nicht.“

„Egal, Stefan. Musst du auch nicht. Ich hab‘s versucht. Ich glaube, weitere Erklärungen wären zwecklos. Nimm es als kleinen Test, als Abenteuer. Eines, das du mitgestaltet hast. Wir haben jeden einzelnen Herzschlag von dir, jede Gefühlsregung, alles dokumentiert. Wir müssen jetzt an die Auswertung, Stefan. Ich werde dir Hilfe holen. Hast du ein Handy?“

„Im Auto, glaub ich. Aber das müsste aus sein.“

„Kein Problem, Stefan. Warte ab.“

 

Etwa zwei Stunden später fand sich Stefan im Krankenhaus wieder. Er wurde notoperiert, bekam ein Einzelzimmer. Am nächsten Abend durfte er bereits Besuch empfangen, bekam Antibiotika und hatte nach Angaben des Chefarztes „ein Heidenglück“ gehabt. „Nicht mehr lange und Ihre Lunge wäre abgeklappt“, hatte er wenig einfühlsam gesagt.

Auch wenn er vielleicht nie wieder auf seinen eigenen Beinen stehen würde - seit diesem Erlebnis glaubte Stefan an Wunder. Nicht wegen der irren, mysteriösen Typen. Stefan wusste bis heute nicht, ob er sich das letztlich nur eingebildet hatte. Aber wie sollte er dann bitte im Krankenhaus gelandet sein? Den Notruf hatte er ja kaum selbst getätigt. Er glaubte an Wunder, weil zum Einen „niemand so etwas überleben kann, bei diesen Temperaturen.“ Hatte der Chefarzt gesagt. In seiner bekannt einfühlsamen Art. Zum Anderen war es Nadine, die sich sofort auf den Weg zu ihm gemacht hatte und ihm um den Hals gefallen war. Stefan entschuldigte sich, doch Nadine wollte das nicht hören. Sie hatte ihm längst vergeben. Fürs Erste. „Schatz, ich verspreche dir, ich…“

„Was? Was? Red‘ weiter, Stefan…“

Stefan unterbrach seinen Satz. Die Tür zum Flur der Station stand offen. Was hatte er da gerade gesehen? Direkt hinter Nadine, die an seinem Bett hockte? Er hatte ihn genau erkannt.  Auch wenn er diesem Typen, der da gerade in blauem Kittel vorbeigelaufen war, nur flüchtig in die Augen gesehen hatte - Er hatte zu Stefan geguckt. Und Stefan hätte schwören können, dass dieser extrem große Augen hatte. Farbe grün. Stefan bekam Gänsehaut. Mit einem Schlag wurde ihm klar, wer da gerade vorbeigelaufen war.

 

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 22.04.2013

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