„Bitte, Mama!“
Marie ließ nicht locker. So gerne wollte sie bei ihrer besten Freundin übernachten. Wenn man sie so bezeichnen konnte nach einem Monat, den sie sich erst kannten. Aber Marie war schon immer recht schnell gewesen im „beste Freundinnen finden“. Sie verbrachte fast jeden Tag zusammen mit Janine. Nach der Schule machte sie fleißig ihre Hausaufgaben und wollte so schnell wie möglich nach nebenan, um mit Janine Zeit zu verbringen. Am Wochenende trafen sie sich erst Recht. Sie waren wirklich ein Herz und eine Seele. Und das nach so kurzer Zeit. Marie ging auf eine andere Schule als Janine, aber beide besuchten die dritte Klasse. So waren sie in etwa auf dem gleichen Stand, was die schulischen Leistungen anging. „Wir sind Jarie“, hatte Janine einmal laut lachend zu Britta gesagt, als sie zu Besuch war. „Janine und Marie in einem Wort“. Es freute Britta wirklich, dass ihre Tochter eine so gute Freundin gefunden hatte. Vom Alter her passten sie ebenfalls perfekt zueinander. Marie war acht, Janine ein halbes Jahr jünger. „Nur ab und an könnte sie ja auch mal weitere Kontakte knüpfen“, dachte Britta des Öfteren. „Nicht dass sie so wird wie ich“.
„Schätzchen, willst du nicht mal was mit Tim machen? Oder Franzi?“
„Nein!“
Es war wie so oft. Marie wollte von ihren anderen Schulkameraden nichts wissen, sie liebte es, nach nebenan zu gehen, und Janines Eltern machte das nichts aus. Bis jetzt zumindest. Britta war das langsam unangenehm, war sie mit Marie doch erst vor vier Wochen hier her gezogen. In ein kleines, gemütliches Häuschen direkt am Rande Berlins. Schon beim Einzug hatten Janines Eltern Mark und Kathleen die beiden mit einem selbst gebackenen Kuchen empfangen. Mark war Bankkaufmann, Kathleen arbeitete beim Bürgeramt ganz in der Nähe. Vor allem sie war es, die immer etwas zu erzählen hatte aus ihrem Job. Es hatte nicht lange gedauert, bis so etwas wie eine Art Freundschaft entstand, man redete über Gott und die Welt und auch über Persönliches, über eigene Probleme, auch wenn es für Britta ein wenig zu schnell ging. Sie war noch nie die Aufgeschlossenste gewesen, kapselte sich gerne ab und verbrachte viel Zeit mit sich selbst und ihrer Arbeit am Computer. Sie wusste, dass sie damit kein gutes Vorbild war für Marie und wollte, dass ihre Tochter mehr Vertrauen in andere Menschen hatte als sie selbst. Seit der Scheidung von ihrem Ex-Mann war es erst so richtig schlimm geworden. Er war vermögend, zahlte regelmäßig seinen Unterhalt und empfand es dennoch als lästig, mal etwas mit seiner Tochter zu unternehmen. Seinem eigen Fleisch und Blut. Im Stich gelassen hatte er sie. Sie und ihre über alles geliebte Tochter. „Wenn er glaubt, es ist seine Tochter, hat er sich geschnitten. Für den zählen doch nur Kohle und sein Schwanz. Jede Woche ne Andere, ich hätt es wissen müssen“, hatte Britta ihrer einzigen Freundin Luise vor kurzem am Telefon gesagt.
In letzter Zeit hatten sie viele solcher Beziehungsgespräche. Der Umzug, die Trennung von ihrem Mann – all das hatte an ihren Nerven gezehrt, mehr, als Britta es sich eingestehen wollte.
„Britta“, hatte Luise am Telefon erwidert. „Es wird schon wieder, glaube mir. Manchmal heilt Zeit mehr als du denkst. Entspann dich. Nach allem, was du in den letzten Jahren durchgemacht hast, ist es nicht gerade förderlich für dich, wenn du dich an allem so aufreibst.“
Britta wusste, dass Luise recht hatte. Jederzeit könnte es wieder ausbrechen. Wenn der Stress zu groß würde, wer weiß, was dann passierte. Ob ihre Psyche all den neuen Anforderungen stand halten würde? Sie wusste es nicht. Und wollte darüber im Moment auch nicht nachdenken.
„Ok, Schatz. Ich bring dich heute Abend rüber.“
Britta liebte es, in die freudigen Augen ihrer Tochter zu sehen und eine liebevolle Umarmung dafür zu bekommen. Diese Augenblicke gaben Britta Kraft. Sie genoss es in vollen Zügen.
„Wer weiß, wie lange sie noch so ist“, dachte sie und überlegte, wie schnell die Zeit bereits vergangen war. War Marie nicht gerade erst zur Welt gekommen? Für den Bruchteil einer Sekunde war alles perfekt. Vielleicht setzte sie sich auch deshalb eher selten durch. Sie konnte es nicht ertragen, ihre Tochter traurig zu sehen oder sich mit ihr zu streiten. Alles was sie wollte war Harmonie. Am besten auf der ganzen Welt. Für den Anfang auch einfach in ihren eigenen vier Wänden.
Da war es wieder. Dieses seltsame Gefühl. Ihr Kopf. Sie kämpfte dagegen an.
„Alles ist gut“, sagte sie sich. „Alles ist in Ordnung.“ Britta wiederholte diesen Satz so oft, bis er keinerlei Wirkung mehr erzielte. Es wurde schlimmer. War der Stress der letzten Wochen doch zu groß gewesen? Was hatte Dr. Berner ihr gesagt?
„Falls dieses Phantom zurückkommt, Frau Dorn, machen Sie sich selbst bewusst, dass Sie kerngesund sind. Gehen Sie in einen anderen Raum, denken Sie nach, wie gut es Ihnen im Vergleich zu so vielen anderen Menschen auf der Welt geht. Sie sind nicht verrückt, nur weil Sie ein Kratzen im Kopf verspüren und Stimmen hören. Sie dürfen sich da nicht hineinsteigern.“
Bisher hatte das weitestgehend geklappt. Doch nun kamen sie wieder zurück. Leise Stimmen, keine klaren Worte. Kopfschmerzen. Mit einem Mal. Wovor hatte sie Angst? Hatte sie Angst vor der Einsamkeit? Der neuen Umgebung? Oder davor, dass alles zu viel für sie war? Angst vor der Angst – so etwas sollte es geben.
„Der Situation entgehen, ablenken“, schoss es Britta durch den Kopf. „Ich bin nicht verrückt.“
„Marie?“
„Ja, Mama. Ich pack schon meine Sachen.“
„Wenn du magst, gehen wir gleich rüber. Ich denke, Mark und Kathleen werden nichts dagegen haben.“
„Echt? Du bist die Beste, Mama!“
Anerkennung bekommen. Zuneigung. Der Situation entgehen. Vielleicht würde es dadurch wieder besser werden. Nie wieder wollte sie die psychologische Praxis von Dr. Berner von innen sehen.
Zehn Minuten. Oder fünfzehn. Dann würde sie sie abholen. Dann war es 16 Uhr, das sollte reichen. Seit etwa einer Stunde sah Britta mindestens einmal pro Minute auf die Uhr. Gestern Abend hatte sie noch einmal angerufen, Marie war scheinbar in guten Händen. Natürlich war sie das. Warum hatte sie nur solch ein ungutes Gefühl, solch eine Angst? Und wovor? Das Haus schien so leer ohne Marie. So kalt und verlassen. Ungemütlich. Hier und da standen noch nicht ausgeräumte Umzugskartons herum. Britta saß in ihrem Bürostuhl, den Laptop hatte sie vor sich auf den Knien aufgeklappt. Der Schreibtisch musste erst noch aufgebaut werden. Bisher hatte sie dazu noch nicht die Kraft gefunden. Es wurde Zeit, dass Marie wiederkam. Dass Leben in dieses Haus drang. Eine Nacht ohne ihre Tochter – es fühlte sich verdammt lang und einsam an. Die Nacht über hatte Britta kaum ein Auge zu getan. Und doch war sie froh, dass ihr Kopf bei klarem Verstand geblieben war. Keine Stimmen. Kein Kratzen. Keine Schmerzen. „Ich bin nicht verrückt.“
Britta speicherte die aktuelle Excel-Tabelle ab. Es war ein dankbarer Job für sie, da sie jegliche Arbeit von zuhause aus erledigen konnte und allein für ihr Weiterkommen verantwortlich war. Ihr einziger Kontakt zu Vorgesetzten und Kollegen (wenn man sie so nennen konnte) war der E-Mail-Verkehr.
15:58 Uhr. Britta klappte den Laptop zu, zog sich in Windeseile eine dünne Jacke über, glitt in ihre Schuhe und ging hinüber zum Haus von Janines Eltern. Das Grundstück war etwa doppelt so groß wie ihr eigenes, ein schöner Garten mit bunten Blumen und einem kleinen Klettergerüst rundeten den Eindruck eines schönen, beschaulichen Familienidylls ab. „Fast schon kitschig“, dachte Britta. Sie war nicht neidisch, sie war froh, sich wenigstens ein kleines Häuschen leisten zu können. Britta klingelte.
Kathleen öffnete die Tür des Hauses und schien überrascht, Britta unten am Gartentor zu sehen.
„Hallo Britta, was machst du denn hier?“, rief sie von weiter oben.
„Komm rein, die Tür müsste offen sein.“
Britta öffnete das Gartentor und ging den kleinen Weg hinauf zur Eingangstür des Hauses von Kathleen und Mark:
„Hallo Kathleen, alles okay?“, fragte Britta eher höflich als interessiert. Sie war selbst ein wenig erschrocken über ihre desinteressiert wirkende Haltung Kathleen gegenüber, das war sonst nie ihre Art. Aber sie musste jetzt zu Marie. Lange genug war sie allein gewesen. Sie brauchte den Alltag wieder. Gemeinsam mit Marie Abend essen. Streiten. Vertragen. Bei den Hausaufgaben helfen.
„Alles bestens. Aber viel wichtiger ist, wie es dir geht, Britta. Du hast dich lange nicht mehr gemeldet. Geht’s dir langsam wieder besser?“
Lange nicht mehr gemeldet? Was..was sollte das? Hatten sie nicht gestern kurz telefoniert? Sich sogar gesehen, als Britta Marie abgegeben hat? Brittas Bauch krampfte sich ganz leicht zusammen, ein ungutes Gefühl machte sich in ihr breit. Ihr Kopf meldete sich zurück. „Kratz“ Da war es wieder. „Nur die Ruhe bewahren“.
„Ich will Marie abholen. Wo ist sie?“, sprudelte es aus Britta heraus und sie versuchte, ihre aufkommende Nervosität zu unterdrücken.
„Britta…“
„Wo ist sie?“
Britta verspürte einen Anflug leichter Panik. Ihr Tonfall wurde bestimmter, sie zitterte am ganzen Körper. Sie ahnte, was nun kommen würde. Und doch war es so unwirklich.
„Britta, komm zu dir. Es ist alles okay“, sagte Kathleen.
„Wie bitte? Kathleen, ich möchte zu meiner Tochter!“
„Britta, es ist nicht leicht, aber…okay, wir sollen ehrlich sein, wenn sowas auftritt. Es ist hart für dich. Aber nur so kannst du es verstehen. Britta, pass auf. Bitte bleib ruhig. Du bist krank. Britta, du hast keine Tochter.“
Wie versteinert stand Britta auf ihrer eigenen Terrasse. Zurück in ihrem Garten fühlte sie sich hundeelend. „Keine Tochter“. Was zum Teufel…
Britta sah geradeaus in Richtung ihres Gartens zu dem einzigen großen Baum, der sich dort befand. Ein Apfelbaum, etwa vier Meter hoch. Er wirkte gewaltig. Er strahlte Kraft aus. Sein leises Rascheln im Wind wirkte wie ein kaum wahrnehmbares, sarkastisches Lachen. Jedes einzelne Blatt schien Britta bestrafen zu wollen. Aber wofür? Für ihre Unsicherheit? Für ihr zurückgezogenes Dasein? Für ihr verpfuschtes Leben?
„Oh Gott“, dachte Britta. Die negativen Gedanken nahmen wieder Überhand. „Alles ist gut.“ „Alles ist okay.“ „Ich entgehe einfach der Situation, ich gehe…“ Britta blieb für einen Moment das Herz stehen. Ein eiskalter Schauer legte sich sanft über ihren Körper. Britta traute ihren Augen nicht. Marie kam hinter dem Baum hervor, aus vollem Halse lachend. Es tat unfassbar gut, ihre eigene Tochter zu sehen. Mit ihren eigenen Augen. In ihrem Zuhause. Doch sie sah verändert aus. Sie lachte anders. Irgendwie ironisch. Lauthals, aber komisch. Britta war das in diesem Moment egal. Voller Freude streckte sie ihre Arme aus, als Marie es ihr gleich tat und auf sie zu rannte. Brittas Körper erfüllte ein unbeschreibliches Gefühl der Erleichterung. Zentnerschwere Lasten fielen ihr vom Herzen. Sie war nicht verrückt. Wie hatte sie auch nur einen einzigen Moment an das glauben können, was Kathleen ihr gesagt hatte? Sie fühlte sich schuldig. Schuldig Marie gegenüber. Doch all das war für diesen Augenblick egal. Britta machte einen Schritt auf Marie zu, während diese mit offenen Armen auf sie zu rannte. Doch Marie sah sie nicht an. Sie sah scheinbar durch sie hindurch. Marie rannte so schnell sie konnte. Sie lief an Britta vorbei, noch einige Meter weiter und fiel voller Freude und Zuneigung einer großen, schlanken Frau in die Arme.
„Du bist die Beste, Mama!“
Britta traf der Schlag. Die Beste? Wer…was… Britta drehte sich um und sah in die hasserfüllten Augen der Frau. Sie war komplett in weiß gekleidet, lächelte Marie voller Hingabe an, drehte ihren Kopf ein wenig zur Seite und sah Britta daraufhin tief in die Augen. Dieser Blick sagte mehr als jedes Wort, das in diesem Moment hätte ausgesprochen werden können. Die Mundwinkel der Frau verzogen sich augenblicklich, ihre Blicke trafen Britta wie Pfeile in ihren Körper. Hass. Abneigung. Ausgrenzung. Doch das alles überragende Gefühl war diese schmerzhafte Machtlosigkeit. Ihre Marie auf den Armen einer…Moment mal. Die bis eben schwachen Konturen der Fremden begannen, sichtbarer zu werden. Brittas Augen schienen sich erst allmählich scharf zu stellen.
„Lass uns gehen, Tochterherz“, vernahm Britta entgeistert die Worte der Frau. Auf einen Schlag schien das Leben sie im Stich zu lassen. Mitsamt ihrem Verstand. Sie hatte die Fremde soeben erkannt. Es war Kathleen.
Britta schreckte hoch. Schweißgebadet saß sie aufrecht in ihrem Bett. Ihr Hemd war pitschnass. Ertränkt in einem Alptraum aus Selbstzweifeln und Angst. Purer Angst. Immerhin hatte sie nur geträumt. Niemals würde ihre Marie in die Arme einer anderen laufen. Konnte es sein, dass das alles nur ein schrecklicher Traum war? Dass sie selbst nicht mehr zwischen Realität und Fiktion unterscheiden konnte? War das möglich? Britta versuchte, bewusst ein wenig ruhiger zu atmen, klarer zu denken. Sie versuchte sich an die letzten Stunden zu erinnern. Oder war es länger her? Sie war bei Kathleen und Markus. Kathleen hatte ihr geöffnet, ihr die Wahrheit gesagt. Die Wahrheit? Was sollte das, warum tat sie so etwas? Warum um Himmels Willen behauptete ihre Nachbarin allen Ernstes, Britta habe keine Tochter, Britta sei verrückt? Oder war es bereits wirklich so weit und sie hatte es nie wahrhaben wollen?
Wirre Gedanken in ihrem Kopf formten sich zu leisen Stimmen, ein kurzer Schrei, die Stimme ihrer Tochter. „Der Situation entgehen“, sagte Britta laut. War sie tatsächlich verrückt? Und das seit geraumer Zeit? Vielleicht war das alles zu viel für sie. Die Trennung, ihre Abgeschiedenheit von der Welt, die selbst gewählte Einsamkeit.
Die Erinnerungen kehrten schlagartig zurück. Britta war geschockt von Kathleens Aussage und der ernsten Mine, als sie mit ihr redete. Die folgenden Worte hatte Britta gar nicht mehr wahrgenommen. Kathleen nahm sie in den Arm. Dann brach es aus Britta heraus. Völlig außer sich schrie sie nach ihrer Tochter, weinte, schlug nach Kathleen. Nur mit Mühe konnte sie nach und nach beruhigt werden. Kathleen hatte sie sogar nach Hause gebracht, sie ins Bett gelegt.
„Oh Gott“, dachte Britta blitzartig. „Sie war hier? Hier oben? Die Frau, die mir meine Tochter weggenommen hat?“ Ein leichtes Kribbeln durchzog ihren Körper. Sie wollte nicht mehr tatenlos herumsitzen.
Britta stieg aus ihrem Bett. Sie war vielleicht vor kurzem noch in Behandlung. Hatte ein paar Probleme, kein Vertrauen in sich und ihre Umgebung, ab und zu Depressionen. Doch niemals würde sie sich einreden lassen, sich ihre Tochter nur eingebildet zu haben. Allein der Gedanke daran erschien ihr mit einem Mal komplett lächerlich. Sollte es dennoch so sein, so würde sie dem Leben den Rücken kehren. Doch sie war sich sicher. Sie würde um ihre Tochter kämpfen. Vielleicht war sie in Gefahr. Vielleicht wartete sie auf die Hilfe ihrer Mutter. Sie musste unbedingt mit Luise sprechen.
Britta warf sich in Windeseile in neue Klamotten, trat ins Wohnzimmer, nahm den Telefonhörer auf und drückte die Kurzwahltaste. „Jetzt werden wir ja sehen, wer hier verrückt ist, Kathleen“, murmelte Britta leise vor sich hin und schlich mit dem Telefonhörer in der Hand an eines der vielen Wohnzimmerfenster, von wo aus sie das Nachbarhaus einwandfrei im Blick hatte. Ganz oben, da war Janines Zimmer. Das wusste Britta von ihren Besuchen bei Kathleen. Sicher war Marie in diesem Moment dort. Oder hatten Kathleen und Markus etwas anderes mit ihr angestellt? Und wo war Markus überhaupt? Soweit sie wusste, war er vorhin nicht zuhause gewesen. Normalerweise begrüßten sie sie immer zu zweit an der Haustür. Britta stellte sich vorsichtig vor die Gardine und beobachtete Janines Zimmer von ihrem Fenster aus. Bisher war nichts zu erkennen.
Mit einem Mal kamen sie zurück. Die Selbstzweifel. Die Angst, die Wahrheit all die Jahre ignoriert zu haben. „Kein Anschluss unter dieser Nummer“.
Britta traute ihren eigenen Ohren nicht. „Was zum Teufel…“ Wie konnte das sein? Sie hatte Luises Nummer seit Ewigkeiten eingespeichert. Britta ließ das Telefon völlig perplex fallen und sah noch einmal hinauf zu Janines Kinderzimmerfenster. Da stand sie. Sie war es! Da war sich Britta sicher. Sie erkannte doch wohl ihre eigene Tochter. Marie stand urplötzlich am Fenster und sah zu ihr hinüber. Viel konnte Britta nicht erkennen. Plötzlich wurde Marie zurückgezogen. Eine große Gestalt war kurz am Fenster zu erkennen, die Gardine bewegte sich einen Moment und plötzlich war alles wie zuvor – wie zuvor? Niemals! Britta war sich sicher. Es war Marie, die am Fenster gestanden und zu ihr rüber gesehen hatte. Und es war sicher Kathleen, die sie weggezogen hatte. Eine Spur der Erleichterung machte sich in ihr breit. Marie lebte. Doch gleichzeitig wusste sie nicht, was das bedeuten sollte. Sie wollte nicht mehr tatenlos herumstehen. Sie musste etwas unternehmen.
Britta rannte in den Flur, zog sich ihre Straßenschuhe an und steckte den Hausschlüssel ein. Sie schmiss sich ihre Jacke über und griff in die oberste Schublade der Kommode, die sich im Flur befand. Britta musste sich etwas strecken und nahm eine Schachtel heraus. „Wie neu“, ging ihr durch den Kopf. Noch nie zum Einsatz gekommen, obwohl sie so alt war. Schnell machte sie die Schachtel auf und steckte sich den kleinen Revolver in die Seitentasche ihrer Jeanshose. Das, was herausragte, überdeckte Britta mit ihrer Jacke. Sie ging hinaus und ließ die Tür hinter sich unsanft ins Schloss fallen.
„Nicht mal zugezogen?“, dachte Britta. Die Gartentür von Kathleen und Mark stand von Zeit zu Zeit immer mal offen, aber die Haustür? Was hatte das zu bedeuten? War Kathleen abgehauen? Womöglich zusammen mit ihrer Tochter? „Nein, ich hätte sie sehen müssen“, ging es Britta durch den Kopf. Sie war geradewegs hier her gegangen, es war keine Minute her, da hatte sie mit dem Revolver in der Tasche ihr eigenes Haus verlassen. Doch eine Sache bereitete Britta weitere Bauchschmerzen. Diese seltsame Begegnung gerade eben, sie hatte vielleicht dreißig Sekunden in Anspruch genommen und dennoch für tiefe Beunruhigung bei ihr gesorgt.
Es war ihre Lehrerin! Da war sich Britta ganz sicher. Frau Meisch war es, die ihr aus Richtung des Hauses von Kathleen auf dem Gehweg entgegenkam. Glücklicherweise hatte sie ihre Waffe nicht gesehen. Sie hätte ganz leicht alles aufklären können, für Klarheit sorgen können in diesem Fall. In Brittas Kopf. In Brittas Leben. Doch das Gegenteil war der Fall.
„Frau Meisch, Sie schickt der Engel.“
„Hallo, was…ähm, was ist denn mit Ihnen los?“
„Sie können alles bezeugen. Wie lange ist Marie schon in Ihrer Klasse? Fast zwei Jahre? Sagen Sie es mir! Jetzt! Sagen Sie es meiner durchgeknallten Nachbarin. Sie müssen Klarheit in all das bringen, meine Tochter ist in Gefahr…“
„Ihre Tochter…“
„Ja, Marie. Sie müssen der Polizei sagen, dass Kathleen sie entführt hat und…“
„Stopp!“, entgegnete die Frau schlagartig.
„Ich weiß weder wer Sie sind noch was Sie von mir wollen. Ich kenne weder Sie noch habe ich Ihre Tochter jemals gesehen.“
Weiter brauchte sie gar nicht reden. Britta besaß in diesem Moment keine Kraft mehr, ihr etwas zu entgegnen oder auch nur weiter zuzuhören. Frau Meisch war so schnell wieder weg, wie sie erschienen war. Und doch war sich Britta sicher, dass sie es war. Irgendetwas lief hier gewaltig schief, doch Zeit nachzudenken hatte Britta in dieser Situation absolut nicht.
Britta schob die Haustür langsam auf. Mit zittrigen Händen drückte sie gegen die Tür und hoffte, dabei keinerlei Geräusche zu erzeugen. Leise griff sie in ihre Jeanstasche und zog ihren Revolver hervor. „Vorspannen. Finger in den Abzug. Behutsam abkrümmen, nicht schlagartig, wenn es sein muss.“
Sie konnte über ihren Ex-Mann schimpfen so viel sie wollte, doch seine Zeit im Schützenverein und die Abende, an denen er wie vernarrt davon erzählt hatte, konnten für Britta in diesem Moment lebensnotwendig werden.
Der Flur war dunkel. Jalousien vor den Fenstern verhinderten ein Eindringen der Sonnenstrahlen. Oben brannte Licht. Es musste aus Janines Zimmer kommen. Leise schlich Britta die Treppe hoch. „Finger im Abzug. Notfalls behutsam abkrümmen. Wirkungstreffer.“ Brittas Gedanken wiederholten sich. Sie war wie in Trance, ihr ganzer Körper stand unter Spannung. All die Angst davor, was sie erwarten würde, war nicht halb so stark wie das Verlangen nach ihrer Tochter und der Gewissheit, dass sie lebte. „Fest dran glauben. Ganz fest.“
Nach der letzten Treppenstufe stand Britta vor der angelehnten Tür, aus der das Licht drang. Es war tatsächlich Janines Kinderzimmer. Stille.
Doch halt. Nicht ganz. Im Nebenzimmer hörte sie ein leises Rufen, etwas weiter weg. War das ihre Tochter? War das…Weiter kam Britta nicht mit ihren Gedanken. Mit einem Mal sackte sie vor Schmerzen in sich zusammen, ein übler Schlag in ihre Magengrube hatte sie für einige Zehntelsekunden außer Gefecht gesetzt. Kathleen warf sich über sie und schlug ihr ins Gesicht, noch bevor Britta reagieren konnte. Britta versuchte sich aufzurichten, versetzte Kathleen mit ihrem rechten Fuß einen Tritt in den Unterleib. Das brachte ihr wertvolle Sekunden. Dann ging das Licht an und Britta erstarrte noch während sie auf dem Boden lag. Kathleen stand mit gezogener Waffe vor ihr. Sie zielte genau auf ihren Kopf. Britta erkannte erst jetzt, dass sie ihren Revolver nicht mehr bei sich hatte.
„Rein da!“, blaffte Kathleen sie an, mit einer Stimme wie von einer krankhaften Psychotante. So kannte Britta sie gar nicht. Sie robbte schmerzerfüllt in das Kinderzimmer von Janine. Die Tür zum Flur blieb offen. Kathleen machte keine Anstalten, die Waffe auch nur ansatzweise wegzustecken oder wenigstens zur Seite zu nehmen.
„Was haben wir denn da, Brittachen?“, fragte Kathleen mit sarkastischem Lächeln.
„Kathleen. Was hast du getan? Wo ist meine Tochter?“
„Na na na…Ich wusste, dass du wiederkommst, Süße. War das nicht ein gelungener Empfang? Hast du deine Tochter nicht gehört? Sie ist vielleicht drei Meter von dir entfernt. Naja und eine dicke Wand ist auch noch dazwischen. Glaubst du, ich würde Marie etwas antun? Britta, du kennst mich aber schlecht.“
„Ich traue dir mittlerweile alles zu, du Missgeburt!“ Brittas Wut ließ sich nicht mehr verbergen.
„Och. Warum gleich ausfallend werden, Britta? Haben wir uns nicht bis jetzt immer gut verstanden? Denk mal an unseren Frauenabend. Sex in the City und dazu Prosecco, hast du das schon vergessen?“
„Du bist doch krank!“, giftete Britta zurück.
„Ach ja? Wer ist hier krank? Wer ist hier ein elender Psycho? Ich etwa? Oder du, Britta? Du, die in der Klapse war, die zum Psychodoc musste, weil sie den ach so schweren Alltag nicht bewältigen kann? Ich sag dir was, Britta. Du weißt gar nicht, was es heißt, das zu schätzen, was man hat. Du bist ein selbstmitleidiges Dreckstück, Britta. Deine Tochter hat eine bessere Familie verdient. Und sie liebt mich. Marie ist ein wundervolles Kind, und ich weiß, dass sie schon immer zu uns wollte.“
„Du elende Lügnerin“, entgegnete Britta.
„Halt die Klappe, Dreckstück! Janine hat sich schon immer eine Schwester gewünscht. Marie ist einfach perfekt. Du weißt von meinem Geheimnis, Britta, du weißt es. Aber es hat dich nicht interessiert. Und sowas nennst du Freundin? Ist das deine Ansicht von Freundschaft? Du weißt, dass ich Janine keine Schwester mehr machen kann. Dass sie sich nichts sehnlicher wünscht. Dass Markus mich deswegen schon betrogen hat. Und was tust du? Du flirtest noch mit ihm, lässt mich im Stich.“
„Kathleen, ich hab niemals mit…“
„Schnauze! Ich bin dran. Spar dir deine dämlichen Ausreden. Ich glaub dir schon lange nicht mehr. Ich weiß, dass du auf meinen Mann scharf bist. Aber du wirst ihn nicht kriegen. Nach Selbstmord wird es aussehen. Eine dämliche, frustrierte Psychotante hat sich mit ihrer eigenen Knarre den Schädel weggepustet, so what? Wen interessiert‘s, Britta? Ich kann dir vergewissern, dass es deine Tochter gut bei uns haben wird. Für Markus wird mir schon noch was einfallen, er wird mir alles glauben. Warum sag ich dir das alles eigentlich? Ach ja, es fällt mir gerade wieder ein. Hätte ich fast vergessen. Weil du noch genau sechzig Sekunden in deinem jetzigen Leben verbringen wirst, bevor dein Schädel qualmt!“
„Kathleen, ich…“ Brittas Atem wurde unkontrolliert schneller, sie bekam schlagartig schweißnasse Hände, zitterte am ganzen Körper. Sie sah dem Tod direkt ins Auge, erkannte die Entschlossenheit in den Augen ihrer Nachbarin, ihrer einstmals guten Freundin, auch wenn sie sich nicht allzu lange kannten. Wie hatte sie sich nur so in ihr täuschen können?
Dann passierte es. Ein wuchtiger Schlag direkt auf den Hinterkopf. Es wurde schlagartig finster.
„Ich hätte nie gedacht, dass sie es einmal so weit treiben würde. Ich wusste, dass sie Probleme hatte, vor allem mit unserem unerfüllten zweiten Kinderwunsch. Aber wir haben schon lange nicht mehr offen miteinander geredet. Ich stand schon ein paar Sekunden hinter der Tür. Sie hätte sich davon nicht mehr abbringen lassen, ich musste sie mit einem Schlag außer Gefecht setzen, auch wenn es weh tat“. Das alles würde er einige Stunden später der Polizei erzählen. Nachdem Markus vom Flur aus das Kinderzimmer betreten und seine Frau von hinten bewusstlos geschlagen hatte.
„Noch ein Ei dazu, Liebling?“
Britta war so froh, die letzten Wochen einigermaßen gut überstanden zu haben. Immer noch steckte ihr ein kleiner Schrecken in den Gliedern, immer noch war sie deshalb in intensiver psychologischer Behandlung, nahm ihre Tochter mit zum Arzt. Markus hatte sie gerettet. Es war ein Segen des Himmels, dass er zum richtigen Zeitpunkt nach Hause kam und die Situation geistesgegenwärtig korrekt eingeschätzt hatte.
Er hatte sofort einen Notarzt gerufen, Kathleen die Waffe abgenommen, während Britta Marie und Janine aus dem abgeschlossenen Schlafzimmer befreite. Auch wenn die Tür dabei etwas mitgenommen wurde. Das war Britta in dem Moment sowas von egal. Marie war ihr sofort um den Hals gefallen. Sie wollten sich nie mehr loslassen, so kam es Britta vor. All das war weniger als dreieinhalb Wochen her. Britta war sofort wieder umgezogen, ab in eine andere Stadt, einen ruhigeren Ort, an dem sie niemand kannte. Selbst Markus hatte sie nichts erzählt, wenngleich sie sich tausend Mal bei ihm bedankt hatte. Doch er wirkte nach diesem Vorfall nicht mehr wie früher. Teilnahmslos, in Gedanken versunken war er nach all dem, was vorgefallen war. „Nur allzu verständlich“, dachte Britta.
Kathleen kam sofort in das nächstgelegene Krankenhaus, natürlich unter Aufsicht. Wahrscheinlich war der Schlag ihres eigenen Mannes ziemlich heftig gewesen. Er wich die nächsten zwei Tage dennoch kaum von ihrer Seite. Wann Kathleen wieder zu sich kam und wie es ihr ging, wusste Britta zu diesem Zeitpunkt nicht. Es war ihr im Moment auch einfach egal. Wichtig war für sie jetzt nur ihre Tochter. Die einzige, die von ihrem Umzug wusste und sie regelmäßig besuchen kam, war Luise. Sie hatte sich rührend um sie beide gekümmert in den letzten Tagen. Luise schien mindestens genauso geschockt.
„Ich habe dir doch erzählt, dass ich einen Technikertermin habe“, hatte Luise ihr später gesagt. Und tatsächlich. Britta hatte das komplett vergessen. Zu viel Stress? Wer weiß. Es war kein Wunder, dass sie Luise telefonisch nicht hat erreichen können.
Britta hatte das alles noch lange nicht überwunden. Jeden Tag redete sie darüber, auch mit ihrer Tochter. Marie fragte beinahe täglich, ob sie nicht doch wenigstens Janine wiedersehen könne. Britta tat es unsagbar weh, ihre Tochter leiden zu sehen. „Wir werden eine Lösung finden, Schätzchen!“
Marie ging erstaunlich offen mit allem um und wurde glücklicherweise gut behandelt von Kathleen. Scheinbar hatte ihr eigener Wunsch nach einer zweiten Tochter alle Sicherungen bei ihr durchbrennen lassen. Doch für Marie hätte sie wahrscheinlich alles getan. Es war komisch für Britta, irgendwie weit weg und doch noch nicht lange her, die ganzen Geschehnisse immer wieder dezidiert durchzuspielen. Sei es bei der Vernehmung durch die Polizei oder im Gespräch mit Luise.
Was Frau Meisch anging, hatte Britta so ihre Vermutungen. Vielleicht wurde sie bestochen. Oder hatte privaten Kontakt zu Kathleen. Vielleicht gehörte sie sogar zur Familie. Fakt war, dass sie die Unwahrheit gesagt hatte, um Britta weiter in den Wahnsinn zu treiben. Auch sie musste von Brittas Vergangenheit gehört haben. Doch Britta würde noch genug Zeit haben, um über das Wie und Warum nachzudenken. Jetzt zählten erst einmal andere Dinge. Der Verkauf des Hauses. Die neue Wohnung. Die neue Umgebung. Ein neues, sorgenfreies Leben mit ihrer Tochter. Mehr Kontakt zu anderen. Ein neuer Mensch werden.
„Krieg ich mein Ei jetzt noch oder nicht, Mama?“
Britta wurde aus all ihren Gedanken gerissen, entschuldigte sich bei Marie, die es ihr natürlich nicht übelnahm und setzte Wasser auf.
„Ich bin einfach nur froh, dass wir beide hier zusammen sitzen, Schatz!“
Marie lächelte zufrieden zurück. Dann klingelte es an der Wohnungstür.
„Das wird sie sein“, sagte Britta.
„Ich bin gleich wieder da. Soll ich Luise sagen, sie soll reinkommen und im Wohnzimmer warten, bis wir fertig gefrühstückt haben?“
„Brauchst du nicht“, rief Marie, während Britta auf dem Weg zur Tür war. Sie öffnete die Wohnungstür und trat automatisch einen Schritt zurück.
„Hallo Britta, schön dich zu sehen“. Die Worte trafen Britta mitten ins Mark. Es war genau dieses Gefühl, das sie jetzt wieder hatte und so gerne für immer verdrängt hätte. Kathleen sah sie mit weit aufgerissenen Augen an, voller Erwartung, empfangen zu werden.
„Was….“, stammelte Britta, völlig fassungslos. „Was machst du hier? Bist du schon raus aus dem Krankenhaus?“ Sie versuchte ihre aufkommende Panik zu unterdrücken.
„Ein Krankenhaus ist keine Festung, Brittachen“. Kathleen trat zu ihr in den Flur und ließ die Tür hinter sich mit einem kräftigen Ruck ins Schloss fallen.
Texte: Alle Rechte liegen beim Autor.
Tag der Veröffentlichung: 05.04.2013
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