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Leise schlich er sich an die Tür des Kellerverschlags. Er lauschte. Nichts. Er öffnete die Tür. Schnell drehte er den Kellerschlüssel im Schloss zweimal um seine Achse und trat in den kleinen, kargen Raum, in welchem sie so unschuldig da lag und schlief. „Aufstehen, du Miststück, oder ich verwandle dir dein kleines süßes Gesicht in eine Narbenfratze!“ Sie erschrak. Als sie die Situation erkannte, und ihn mit seinem Messer vor sich stehen sah, wusste sie was zu tun war. Ohne ein Wort zog sie ihm die Jeanshose samt Boxershorts bis zum Anschlag herunter und verrichtete ihre Arbeit.

Roberts Dienstkleidung war pitschnass vor lauter Schweiß. Es war wahrlich nicht leicht, sich bei diesen Temperaturen mit vollem Körpereinsatz um die Patienten zu kümmern. Dazu war heute noch mehr los als an den letzten Tagen, die Temperaturen setzten den meist älteren Menschen sehr zu. Krankenpfleger war nie Roberts Traumberuf gewesen, doch er mochte es, wenigstens unter Menschen zu sein. Vor allem unter solchen, die auf seine Hilfe angewiesen waren. Nach seiner dreijährigen Ausbildung begann für Robert der Ernst des Lebens vor etwa sieben Monaten im Krankenhaus „Stadtmitte“ in seiner Heimat Oberwiesenthal. Seit kurzer Zeit war er auf der Geriatrie-Station und machte dort seine ersten Erfahrungen außerhalb von Praktika und Theorie. In einigen Monaten sei es so weit, wurde ihm vor Kurzem gesagt, dass er endlich einen festen Platz in einer der unzähligen Abteilungen des Krankenhauses bekäme. Bis dahin musste er eben noch durch die Geriatrie und die Pathologie, alles jeweils für wenige Monate, um überall ein wenig Erfahrung zu sammeln.

Frau Fischer war am Vormittag in ihrem Garten zusammengebrochen, kapitulierend vor drückenden 32 Grad Celsius an diesem Tag. Da sie noch unzählige weitere Beschwerden hatte, wurde Frau Fischer schnell vorübergehend in die Geriatrie verlegt, dem „Auffangbecken für Senile“, wie Robert es von Anfang an zu hören bekam.
Mit seinen 24 Jahren hatte Robert seinem Empfinden nach nun endlich einmal dafür zu sorgen, sich durchzusetzen wie ein Mann. Und dafür anerkannt zu werden. Für Robert eine bisher schier unlösbare Aufgabe, die er sich da gestellt hatte. Er war noch nie der aufgeschlossene Typ gewesen - Einzelkämpfer von Kindesbeinen an. Was seiner Meinung nach auch logisch war nach dem, was er schon alles hatte mitmachen müssen. Robert war sehr in sich gekehrt und wahrte gerade zu seinen Arbeitskollegen eine gewisse Distanz. Dennoch bemühte er sich Tag für Tag, endlich respektiert zu werden. Und beging dadurch Fehler um Fehler. Schon bald lag Roberts Fokus beinahe ausschließlich auf den Bemühungen, den Kollegen so viel wie möglich recht zu machen.
„Was haben Sie sonst noch für Beschwerden, Frau Fischer?“, fragte Robert einfühlsam.
„Ach wissen Sie, mir tut alles weh. Sie sind so ein netter junger Mann, ich wäre auch gern noch einmal in Ihrem Alter. Wie alt sind Sie? Vielleicht zwanzig?“
„Vierundzwanzig. Und drei Monate. Ich würde Ihnen wirklich gern helfen, wo tut es denn weh?“
Frau Fischer brach in Tränen aus.
„Wissen Sie, Sie sind so ein toller Mensch. Es gibt so wenige Leute, die sich so rührend um mich kümmern wie Sie. Ich danke Ihnen. Es tut mir gut, mit Ihnen zu sprechen. Mein Rücken tut so weh und mein Kopf brennt wie verrückt. Ich würde einfach gern noch ein bisschen hier bleiben, bei Ihnen.“
Robert lehnte sich vorsichtig mit seinem Oberkörper auf Frau Fischers Krankenbett und nahm sie behutsam in den Arm. Just in diesem Moment kam der Stationsarzt, Herr. Dr. Waldach, mit sorgenvoller Miene in das Zimmer gelaufen.
„Robert, sag mal was machst du schon wieder?“
„Nichts, Herr Dr. Waldach, ich kümmer mich um Frau Fischer.“
„Kümmern? Kümmern?“ Herr Dr. Waldach erhob seine Stimme. „Wie oft noch? Professionelle Distanz zu den Patienten, nimm dir nicht alles zu Herzen, wahre Abstand. Bist du eigentlich erst seit gestern hier oder was? Scheinbar hast du Frau Fischer mit deinem „Kümmern“ noch weiter in ihre Depressionen geritten. Vielen Dank, ich übernehme.“
Robert ging wortlos aus dem Krankenzimmer und gönnte sich auf der kleinen Dachterrasse direkt nebenan erst einmal eine Zigarette. Er hatte keinen Mut, Herrn Dr. Waldach zu widersprechen, wollte er seinen Vorgesetzten doch einfach nur gefallen. Und das aufgrund seiner Arbeit. Seiner guten Arbeit. Und wieder war es ihm nicht gelungen. Ein weiteres, unbedeutendes Mal. Robert wusste selbst, dass er durch seine Selbstzweifel immer unsicherer wurde in dem was er tat und bei fast allen seiner Kollegen schon das ein oder andere Mal Tratschthema in der Kantine war durch seine unbeholfene, schusselige Art. Er hasste das, und doch spielte sich jeden Tag im Grunde das gleiche Szenario ab. Robert nahm sich so viel vor. Und immer machte ihm irgendetwas einen Strich durch die Rechnung . Jeden seiner Fehler analysierte Robert noch einmal genau im Nachhinein. So lange, bis es ihn selbst zerfraß. Doch irgendwie musste es ja weitergehen. Und so verging ein Tag nach dem Anderen, ohne dass sich etwas änderte.

Frau Fischer wurde entlassen, Frau Behringmeier kam. Robert verquatschte sich mit Frau Behringmeier und verpasste dadurch, einem anderen Patienten eine wichtige Infusion zu geben. Frau Behringmeier ging, Herr Wintzcek kam. Robert gab Herrn Wintzcek eine falsche Tablettendosis. Herr Wintzcek ging, Robert wurde verwarnt. Und fragte sich ein ums andere Mal, ob er denn der Richtige sei für diesen Beruf.


Als sie ihre Arbeit getan hatte und sich völlig erschöpft und demütig auf den kalten Kellerboden niederließ, legte er sich leise zu ihr und strich ihr übers Haar. „Du bist so unglaublich schön. Und deine Haare. So weich. Deine Brüste sind der Wahnsinn. Langsam fuhr er mit seiner Zunge über ihre linke Brustwarze, die Rechte fest in seiner Hand haltend. „Deine Figur. Du bist mein Mädchen. Was sind schon 12 Jahre Altersunterschied, wenn du hübscher bist als jede ältere Frau in meinem Alter? Es kommt drauf an, wie sehr wir uns lieben. Vergiss das nicht. Das tust du doch , oder?“
Keine Antwort.
„Du liebst mich doch, oder?“
Wieder nichts.
„Marie, ich habe dich etwas gefragt.“ Marie drehte ihren Kopf zur anderen Seite, was er ganz genau wahrnahm. Schnell packte er ihren Kopf und drehte ihn zu sich ganz nah vor sein Gesicht. „Du kannst ruhig die Wahrheit sagen, trau dich endlich!“ Marie riss seine Hände von ihrem Gesicht und versuchte vergeblich, seiner Nähe zu entfliehen. „Du kleine Schlampe, sag, dass du mich liebst, ansonsten ramm ich dir deinen beschissenen kleinen Schädel in den Beton!“, schrie er komplett außer sich. Marie konnte nicht anders. Sie sah in das hasserfüllte Gesicht ihres Peinigers und sagte mit zittriger Stimme „Ich liebe dich. Nur dich, Robert“!

Kurze Zeit später ließ er sie in seinem Kellerverschlag des uralten Hauses, welches er von seinen Eltern geerbt hatte, allein zurück und setzte sich vor den Fernseher. Abschalten nach diesem anstrengenden Arbeitstag, nach all den Demütigungen und Peinlichkeiten, die Robert heute wieder ertragen hatte. Endlich konnte er sich wieder als Mensch fühlen. Ernstgenommen werden. Wie lange waren Marie und er nun schon ein Paar? Zwei Jahre und drei Monate? Zwei Jahre und vier Monate? Robert kam einfach nicht mehr drauf. „Egal“, dachte er, „die Hauptsache ist doch, dass wir uns lieben“. Robert mochte diesen Satz und wiederholte ihn oft. Über zwei Jahre war die Entführung nun also schon her. Wie die Zeit verging. Und sie hatte es von Anfang an gewollt. Sonst hätte sie sich viel heftiger gewehrt. Maries Hilfeschreie gingen im Keller unter wie in einer einsamen Gummizelle.
Der Kellerverschlag bestand lediglich aus vier kargen Betonwänden, einer kleinen Heizung, einer Toilette, einer Bettdecke für Marie und einem sehr kleinen Fenster mit dicken Gitterstäben. Robert hatte von Anfang an dafür gesorgt, dass Marie keine Chance hatte, draußen gehört zu werden oder irgendwie das Fenster zu erreichen. Er hatte alles bis ins Detail geplant. Und zwar zu ihrem Besten. Das wusste sie vielleicht nur noch nicht.

Am nächsten Abend wollte Robert sofort nach der Arbeit nach Marie sehen. Er nahm zwei Scheiben Toast, etwas Schokolade und zwei Gläser Wasser in seine Hände und ging die Treppenstufen hinab. Als er unten angekommen war und den Gang bis hin zu Maries „kleiner Prinzessinnenhöhle“, wie er es immer nannte, entlang lief, stolperte Robert über einen alten Umzugskarton, welcher an der Wand gelehnt hatte und vor Kurzem umgefallen sein musste. Er verlor sein Gleichgewicht und fiel nach vorn. Eines der beiden Wassergläser zerbrach auf dem kalten Kellerfußboden, das Andere überlebte trotz einiger kleinerer Schrammen. Nachdem Robert fluchend das Essen wieder aufgesammelt und die Scherben beiseite gekehrt hatte, öffnete er das Schloss und die Tür zu Maries kleiner „Höhle“. Da lag sie. Unschuldig wie immer. Eine schöne Dusche könnte sie mal wieder vertragen. Am besten mit ihm zusammen oben im Bad. Mit Klebeband überm Mund, nur zur Sicherheit. Ansonsten war sie schön wie eh und je.
„Es tut mir Leid, Kleines, ich war ein bisschen ungeschickt , aber du kannst mein Wasser haben. Hab ich dich geweckt?“
Keine Antwort.
„Hier, trink! Du bist dünn geworden. Ich hab ne Überraschung für dich“. Robert holte Maries Essensrationen hervor und legte sie vor sich hin. Er setzte sich zu ihr auf die Bettdecke und legte seinen Arm um sie, nachdem er die Kellertür von innen verschlossen hatte. „Weißt du was? Wie wäre es, wenn wir beide irgendwo ganz von vorn beginnen würden? Einfach ganz weit weg, irgendwo auf der Welt. Wir suchen uns `ne gemeinsame Bleibe, kriegen Kinder und fangen ganz von vorne an. Das würde ich mir so wünschen, meine Kleine! Was sagst du?“
Keine Antwort.
Marie richtete sich langsam ein wenig auf und nahm ein Stück Brot, ohne Robert dabei in die Augen zu blicken. „Marie?! Süße, ich habe dich etwas gefragt. Hast du‘s nicht verstanden?“
Keine Antwort.
Marie aß ihr Brot und nahm einen Schluck aus dem Wasserglas. „Hast du mich nicht verstanden?“
Keine Antwort.
Robert hielt es nicht länger aus, mit einem Mal schlug er Marie mit seiner rechten Hand das Wasserglas aus der Ihrigen. Es zerschellte an der nackten Betonwand und zerbrach in seine Einzelteile. Marie zuckte zusammen und versuchte, unter ihrer Bettdecke Schutz zu finden. Doch Robert ließ nun nicht mehr locker. „Ob du mich verstanden hast, habe ich dich gefragt, du mieses Stück Scheiße!?“, brüllte er und schlug ihr dabei mit beiden Händen nacheinander ins Gesicht, bis sie schließlich aus der Nase blutete und sich vor Schmerzen krümmte. Robert ließ schlagartig locker und legte sich zu ihr. Marie blutete wie verrückt, sie weinte und flehte Robert an, sie endlich zu ihren Eltern gehen zu lassen. Robert gab ihr einen Kuss auf die blutbefleckte Stirn, ließ sie in der Ecke schreien, kehrte die Scherben zusammen und schloss die Kellertür hinter sich.

Am nächsten Morgen wurde Robert von Herrn Dr. Waldach davon in Kenntnis gesetzt, dass man noch maximal fünf Monate mit ihm plane und er sich am besten schon einmal eine neue Arbeitsstelle suchen solle.

Als Robert am Nachmittag die Kellertreppe hinunter ging, freute er sich noch mehr als sonst auf Marie. Zu deprimierend war sein heutiger Arbeitstag verlaufen, er brauchte jetzt ihre Liebe und Zuneigung. Er drehte den Kellerschlüssel im Schloss zweimal um seine Achse. Da lag sie. Unschuldig wie immer. Wunderschön anzusehen. Eingewickelt in ihrer Decke lag sie an der gegenüberliegenden Wand des Kellerverschlags und sagte keinen Mucks. „Was für ein unschuldiges, reines Mädchen“, dachte Robert. Langsamen Schrittes ging er in ihre Richtung, beugte sich zu ihr hinunter und strich ihr sanft mit seiner rechten Hand die Strähnen aus dem verschlafenen Gesicht. Ihr schien kalt zu sein. Robert spürte ihre sanfte, kühle Haut und legte sich zu ihr. Er wollte sie ganz zärtlich wecken, ohne sie zu erschrecken, und dann ihren kühlen Körper an seinem wärmen. Er liebte sie doch so sehr. Vorsichtig griff Robert nach der Bettdecke und hob diese an, um sich dazu zu legen.

Plötzlich merkte er, wie etwas Feuchtes seine Finger hinunterglitt. Eine kühle, dickflüssige Masse hatte sich unter der Decke neben Marie ausgebreitet und Robert hatte geradewegs hinein gefasst. Als er seine Hand schlagartig zurückzog, zuckte sein ganzer Körper zusammen. Ein stechender Schmerz machte sich in ihm breit, als er die Situation erkannte. Sofort griff Robert wieder nach der Decke und schob sie so weit beiseite, dass Maries lebloser Körper in Gänze erkennbar war. Robert sah das ganze Blut, wie es sich langsam in ihr Oberteil fraß und ihren gesamten rechten Arm in Beschlag genommen hatte. Ihre Hand war merkwürdig zur Seite geknickt und er sah, wie eine kleine Glasscherbe unter Maries Handgelenk in ihrer Haut steckend hervorblitzte.

Robert geriet in Panik. Er griff nach ihrem Kopf, versuchte sie zu beatmen, zu reanimieren und ihr wieder Leben einzuhauchen. Nach einer gefühlten Ewigkeit ließ Robert von dem kalten Leichnam ab und fiel schreiend vor lauter Schmerz auf den Boden. Wie hatte er nur so unvorsichtig sein können, dachte er. Wie konnte er es nur zulassen, die Liebe seines Lebens zu verlieren. Er fühlte sich schuldig. Und schlimmer. Er fühlte sich allein.


Klack. Klack. Mit jedem Ton erschauderte Robert innerlich. So unwirklich kam ihm die Situation vor, und doch wusste er, dass sie real war. Klack. Robert ging langsam die Kellertreppe hinauf. Zu schwach war er, um Marie zu tragen. Daher hatte er sie an den Beinen haltend aus dem Kellerverschlag gezogen und ging nun mit ihr in Richtung Garten, wo sie eine ehrenvolle Bestattung verdienen sollte. Ein ums andere Mal stieß ihr Kopf gegen die Treppenstufen. Klack. Robert hatte alle Mühe, Marie nach oben zu hieven, doch er schaffte es. Sie hatte es schließlich so sehr verdient. Der Garten des Hauses war von hohen Hecken umgeben, sodass er kaum einzusehen war. Dennoch suchte sich Robert eine Ecke an einem der unzähligen hohen Bäume in seinem Garten, an welcher er sicher nicht gestört werden würde und welche seiner Meinung nach die Schönste des ganzen Grundstücks war, gerade schön genug für seinen kleinen Engel. Er deckte Marie mit ihrer Bettdecke zu und grub. Eine scheinbare Ewigkeit lang. Bis das Loch groß genug war und er Marie hineinlegen konnte. Robert weinte bitterlich. Solch einen Schmerz hatte er nicht einmal in seiner Kindheit vernommen. Es war schier unerträglich, doch er raffte sich immer wieder auf. Marie zuliebe, wie er sich einredete. Als sie friedlich unter der Erde ruhte, schnappte er sich unter Tränen einen kleinen Ast und verfasste für sie seine letzten Worte. Mit zittrigen Händen schrieb er in den Sand auf ihr Grab „Es tut mir Leid. In tiefster Liebe, dein Robert“.
Dann rannte er los. Raus aus seinem verfluchten Grundstück, seiner verfluchten Vergangenheit, seinem verfluchten Leben.

Robert rannte die Straße entlang und hatte nur noch ein einziges Ziel. Es befand sich etwa einen Kilometer weit von seinem Haus entfernt und er sehnte sich so sehr nach diesem Ort. Noch ein Mal dachte er über sein Leben nach. Er fühlte Mitleid mit sich selbst, Schmerz und Wut. Wie hatte sein Vater früher zu ihm gesagt? „Aus dir wird nie was, du kleiner Bastard!“ oder „Glaubst du wirklich, dass man so jemanden wie dich wirklich lieben kann?“. Und immer wieder dieses dumpfe Geräusch, wenn die Faust seines Vaters mit dieser unheimlichen Geschwindigkeit auf seinem Kopf, seinem Rücken oder seiner Wange aufprallte.

All die Erinnerungen hatten sein Leben bestimmt. Und ihn gezeichnet. Seine Mutter hatte oft daneben gestanden. Gesagt hatte sie nichts bis auf „Du bist auch selbst schuld, Robert. Hör auf deinen Vater!“. Seine ganze Kindheit hätte Robert am liebsten einfach vergessen. Immer mehr hatte er sich zurückgezogen. Kaum Freunde gehabt. Und immer wieder versucht, seinen Vater zu besänftigen, indem er tat, was von ihm verlangt wurde. Doch es half alles nichts. Wenn er Lust hatte, schlug er zu. Ohne Vorwarnung. Freizeit hatte Robert selten, der Stubenarrest nahm einen großen Teil seiner Zeit in Anspruch. Und dennoch schaffte er es, zu lernen und eine Ausbildung abzuschließen. „Ich danke euch für alles, Mama und Papa. Wärt ihr nicht so früh gestorben, vielleicht hätte ich nie die Chance gehabt, Krankenpfleger zu werden“, dachte Robert während die Bäume und Büsche an ihm vorbeisausten.

Gleich war er angekommen. Nur noch wenige Meter. Robert verlangsamte seinen Laufschritt, sein Herz klopfte bis zum Hals. So oft empfand er sich selbst als Feigling, als Nichtsnutz, als selbstzweifelnden Überfluss. Doch dieses Mal wollte er alles richtig machen. Durchziehen bis zum Schluss. Das war er sich selbst schuldig. Das war er Marie schuldig. Mit jedem weiteren Gedanken daran wurde er ruhiger. Entschlossen stieg Robert auf das Geländer der alten Kurort-Brücke von Oberwiesenthal und richtete sich auf. Alles an was er nun dachte, war, was wohl sein letzter Gedanke sein würde. Und ob das Leben tatsächlich noch ein aller letztes Mal gedanklich an ihm vorbei läuft. Robert sah nach unten. In etwa fünfzig Metern Tiefe erblickte er zwei kleine Enten, die ruhig den Fluss hinauf schwammen.
Voller Überzeugung ließ sich Robert nach vorn fallen.

Er dachte daran, dass Marie sicher schon auf ihn wartete. Niemand würde sie beide je wieder auseinander bringen können. „Ich vermisse dich so, meine kleine, wunderschö…“ Roberts letzter Gedanke wurde von einem Meer aus Tränen verschluckt. Und doch sah er nun klarer, als je zuvor.

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Tag der Veröffentlichung: 08.02.2013

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