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Fast geräuschlos glitt der letzte Zug aus der Halle. Der Bahnsteig war menschenleer, bis auf einen einzelnen Mann. Er hatte sich eine Zigarette angezündet und sah dem Zug nach, dessen rote Schlusslichter rasch kleiner wurden. Er spürte den Fahrschein in seiner Hand. Er zerriss ihn und warf die Papierfetzen hinab ins Gleis. Er ging.

Auf dem Bahnhofsplatz war es ihm, als schickte die Sonne ihr letztes Licht zum Sterben in ölige Pfützen. Eine Bettlerin kam auf ihn zu. Er öffnete seine Brieftasche, nahm alles Papier- und Münzgeld heraus und drückte es in ihre schmutzige Hand. Sie sagte: „Wenn der Mensch es wünscht, kann er sich ruinieren - in einem Augenblick.“ Er ließ sie stehen.

Der Taxifahrer erzählte von seiner brüchigen Ehe. Liebe sei eine Illusion für Träumer oder für Minderjährige, die noch nichts von der Welt gesehen hätten. Auf dem Promenadeplatz fuhr das Taxi über eine Taube, die wegen einem gebrochenen Flügel nicht schnell genug flüchten konnte. Dies hinderte nicht den Redefluss des Fahrers. Der Mann schenkte dem Taxifahrer zum Abschied seine Kreditkarte und stieg aus.

Sie hatte ihm gestern mit wenigen Sätzen brutal die Augen geöffnet und ausgesprochen was er seit Jahren mit aller Kraft aus seinem Bewusstsein drängte. Jetzt konnte er nicht mehr so weitermachen wie bisher, denn jetzt gab es Zeugen. Selbst wenn sie niemals mehr über das Thema redeten, würde es auch ohne ein Wort gegenwärtig sein, zwischen ihnen wie eine Wand, jedes Mal, wenn sie sich in die Augen blickten. „Es gibt Gesprochenes, das nicht verhallt und vergeht.“, dachte er. „Sie hatte gestern so gesprochen.“

Er schaute auf die Uhr. Der Zug würde jetzt zum ersten Mal halten. Im Bahnhof von Potsdam. Wie oft hatte er dort dumm im Abteil gesessen, den Blick ins Nichts
gerichtet und gewartet, dass der Zug weiterfuhr; einem unbedeutenden Ziel entgegen, so wie jedes Mal. „Du verschwendest dich. Du vergeudest dein Leben. Du hast dich verraten. Dich, mich und deine Ziele.“

Im Secondhand Laden war er der einzige Kunde. Es roch nach dem exzessiven Einsatz von Mottenkugeln. Seine Stimme wurde im engen Raum von der übermäßigen Anwesenheit von Stoff und Gewebe gedämpft. Er fragte die Verkäuferin: „Welche Kleidung bekomme ich für meinen Anzug, meine Uhr und mein Mobiltelefon?“ Er ließ sich bei der Anprobe Zeit und forderte nachhaltige Beratung. „Seltsam“, dachte er beim Verlassen des Geschäfts „wie neue Kleidung, ein neues Gefühl heraufbeschwören kann. So als wäre ich durch den Erwerb und das Überstreifen einer neuen Haut ein völlig anderer geworden.“

Er benutze nicht den Aufzug hinauf in den 3. Stock zu ihrer gemeinsamen Wohnung. Er ging gemächlich die Stufen. Sonst, wenn er nach Haus kam, hatte er immer Rosen dabei. Für sie. Immer. So viele Jahre. So viele Rosen. Was haben sie eingebracht? Waren sie nicht eine stille Entschuldigung gewesen für das Gewöhnliche, das ihrer beider Leben geworden war? Es gab keine Rosen. Nicht heute. Er stand vor der Wohnungstür. Hier hatte er zigtausend Mal in seiner Tasche den Schlüssel gesucht. Er klingelte.

Ein Mann öffnete und sagte als er an ihm vorbei aus der Wohnung schlüpfte: „Guten Abend! Sind sie der Nächste? Die ist gut. Ich bin schon weg!“ Der Ankommende trat in die Wohnung und schloss die Tür hinter sich. Sie kam aus dem Schlafzimmer in den Flur. Ihre Blicke trafen sich. Sie standen unbewegt und schweigend, eine Minute lang. Dann sagte sie: „Du siehst gut aus. Fast so wie früher.“ „Du siehst auch gut aus“, sagte er.

Sie gingen ins Wohnzimmer und setzten sich. Es klingelte. Sie legte den Zeigefinger senkrecht über beide Lippen und sagte: „Psst, nicht reden.“

Nach einer Weile, als keine Schritte mehr auf dem Treppenabsatz zu hören waren, sagte er: „Ich habe mich verändert. Wir werden wieder so glücklich sein wie damals.“ „Nein“, sagte sie „unser Glück von damals ist am Alltag erstickt. Das macht mir heute nichts mehr. Vor langer Zeit habe ich darüber geweint. Nimm nur weiter noch den Abendzug und komm zurück, freitags, mit den Blumen. Ich muss dich jetzt fortschicken. Ich bekomme noch wichtigen Besuch. Geh bitte.“

Er nahm die Untergrundbahn Haltestelle Alexanderplatz. Im Abteil saß ein Mann mit nur einem Bein ihm gegenüber. Der Mann sprach laut mit sich selbst: „Die Untergrundbahn mit ihren finstren Schächten, Stollen, Tunnel, tief ins Fleisch der Erde gebohrt. Die Bahn unter Tage, das Gedärm der Stadt, das täglich Abertausende verschlingt, verdaut und irgendwo wieder ausspeit. Sinnentleert. Der Nährstoffe beraubt. Jeden Tag. Tausendabertausend."

Im dunkelsten Teil des Parks legte er sich auf eine Bank. Eine Plastikflasche, die er im Mülleimer gefunden hatte, diente ihm als Kopfstütze. Jetzt würde der Zug dort angekommen sein. Seine Beine würden vom Bahnhof wie von selbst den Weg in das Hotel finden. Das reservierte einsame Zimmer mit dem Bett, das schon fast ihm gehörte. Das Telefon, das er nie benutzte. Der fade Geruch von geborgtem Leben.

Ein jugendlicher Ruf schnitt in die Finsternis: „Könnt ihr den sehen? Da liegt er auf der Bank. Von dem ist vielleicht was zu holen.“ Zwei zerrten ihn hoch und hielten ihn. Ein dritter fragte, was er bei sich hätte. Sie durchsuchten ihn und fanden nichts weiter als eine zerknautschte Schachtel Marlboro. Einer, der mit der männlichsten Stimme zündete sich eine Zigarette an und sagte: „Verkloppt ihn.“

Am Morgen war die Begegnung mit Menschen unerwünscht. Besonders mit denjenigen, die ihn kannten. Jeder Blick aus vertrauten Augen würde seine empfundene Scham bloßlegen. Er suchte seinen Weg durch Hinterhöfe, fern ab belebter Straßen und Plätze. Das Zusammentreffen mit Nachbarn im Treppenhaus vermied er, indem er sich im Kellergeschoß versteckte bis alles auf dem Treppenabsatz ruhig war. Erst dann ging er hinauf. Sie öffnete die Tür. Sie sagte: „Hallo. Darfst nie wieder den Zug versäumen.“ Er duschte. Rasierte sich. Kleidete sich an. Er bat sie um Geld und fragte sie zögerlich, ob sie mit ihm führe. Sie antwortete nicht, lachte nur.

Am Abend glitt der letzte Zug aus der Halle. Auf dem Bahnsteig glimmte eine achtlos auf den Boden geworfene, halb aufgerauchte Zigarette. Alles schien so wie immer, bis auf einen vornehmen Hut auf dem Kopf einer Bettlerin. Er war rotorange wie das ersterbende Licht der Sonne.

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Tag der Veröffentlichung: 09.03.2009

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