Alles war weiß, der Himmel, die Erde und die Luft, die beide verband. Das heißt, eigentlich war die Luft nicht weiß, die Luft war unsichtbar, aber Millionen von weißen Schneeflocken fielen vom Himmel zur Erde. In all dem strahlenden Weiß tummelte sich ein kleiner Eisbär. Seine Mutter hatte ihn Misu genannt. Damals hatte sie noch keine Ahnung, welche Bedeutung dieser Name für Misu einmal haben sollte.
Misu war ein unbeschreiblich fröhlicher Bär, mit lautem Brummen erstürmte er jeden Eisberg und rutschte auf dem Rücken wieder runter. Nachdem er an diesem Morgen das bereits so oft gemacht hatte, dass er erschöpft in einem Schneehaufen am Fuß des Berges liegen blieb, hörte er plötzlich ein Wispern und Flüstern. Es kam aus seinem Fell, er brummte und kratzte sich, stand auf und lief hin und her und - er hörte jetzt ein Kichern. Verwundert setzte er sich wieder auf den Boden und horchte. Dann verstand er einzelne Worte. „Ich habe eine Idee“, rief ein dünnes Stimmchen, „hier ist ein kleiner Bär mit einem dicken Fell, dort haben wir alle Platz“. Der kleine Bär begriff, dass die Schneeflocken von ihm sprachen. Am Tag vorher hatte er schon mit den tanzenden Sternen gespielt und immer wenn sich einer auf seine heiße Nase gesetzt hatte, wurde sie nass. Er lief wieder hin und her und brummte ganz leise, um die Flocken nicht zu erschrecken. Dann steckte er seine Nase in den Schnee. Seine Nase wurde sofort wieder nass und kalt und er hörte, wie die Flocken kicherten. „Wir warten schon auf dich, du musst uns helfen, “ sagten sie.
Misu war geschmeichelt, scheinbar sollte eine wichtige Aufgabe erhalten. „Bleib mal still sitzen, Misu, sonst kannst du uns nur schlecht verstehen“. Und Misu setzte sich ganz still und brav in den weichen Schneehaufen. Es wisperte wieder um ihn herum und dann sprach eine Schneeflocke ganz deutlich: „ Die Eisnadel hat die Fee der Meeresströme entführen lassen. Die Fee heißt Melusine und ist eigentlich eineMeerjungfrau. „Und wer ist die Eisnadel?“ fragte Misu. „Das ist auch eine Fee und sie hat sich immer über Melusine geärgert, weil sie warmes Wasser in den Norden bringt, so dass ihre Kälte nicht mehr so weit nach Süden dringen kann. Die Eisnadel hält die Erde fest wie ein Grillspieß, auf dem sie sich dreht und die Sonne kann alle Seiten der Erde aufwärmen. Nur dort, wo die Eisnadel aus der Erde kommt, bleibt es kalt. Im Norden heißt die Stelle Nordpol und im Süden Südpol.“
Misu konnte sich das noch nicht so richtig vorstellen. Außerdem wartete er sehnsüchtig auf seine Mutter, die auf Robbenjagd war. „Ja, und was hat die Eisnadel denn nun mit Melusine gemacht?“ fragte Misu, nun schon leicht ungeduldig. Und die Schneeflocke erzählte weiter: „Melusine brachte seit Jahrtausenden das warme Meerwasser aus dem Golf von Mexiko in den Norden Europas. Sie hat dann den warmen Strom im Norden abgeliefert und flog mit dem Nordwind wieder in den Süden, wo der warme Regen sonst immer mit Melusine ins Meer fiel. Nur diesmal kam zum Nordwind der eisige Schneesturm Boris aus Russland und wehte Melusine statt nach Süden, direkt auf den Nordpol zu. Melusine war noch ganz nass, als sie aus dem Meer gestiegen war und so fror sie an einem Eisberg fest. Nun ist es im ganzen Europa viel kälter als früher und im Süden wird es immer heißer. Und deshalb müssen wir Melusine befreien“. „Und warum soll ich das machen?“ fragte Misu. “Weil du ein warmes, weiches Fell hast, in dem Melusine nicht friert“. Das verstand Misu. Misu versprach den Schneeflocken, mit ihnen zum Nordpol zu gehen und Melusine zu befreien. Er hatte nur ein Problem, er musste erst auf seine Mutter warten. Also setzte er sich wieder in den Schnee und ließ sich von den Schneeflocken die Wartezeit verkürzen, indem er ihren Geschichten lauschte. Die Schneeflocken erzählten von ihren Reisen um die Welt, in der sie, wenn es warm wurde, als Regen zur Erde fielen. Misu erfuhr von riesigen Wäldern, in den Milliarden Regentropfen fielen und dann in großen breiten Flüssen wieder ins Meer wanderten. Und er stellte sich vor, wie die Regentropfen auf glutheiße Steine fielen, in den Wüsten, wo immer Trockenheit herrscht. Die Tropfen wurden sofort wieder dicker und leichter und schwebten in den Himmel, ehe sie in den Boden eindringen konnten. Die Zeit verging schnell beim Zuhören und plötzlich kam die Bärin zurück.
Die Bärin war ständig in großer Sorge um ihren Sohn und so hatte sie nur eine Robbe jagen können. Aber es reichte und sie fühlte sich kräftiger als zuvor. Liebevoll leckte sie das Fell des Kleinen und er bekam seine Mahlzeit von der Bärin. Dann schliefen sie bis in den nächsten Tag in einer Schneehöhle. Am Morgen danach hörte Misu wieder das Flüstern der Schneeflocken. „Was ist, hilfst du uns nun?“ flüsterten sie. Da erzählte er seiner Mutter von den Schneeflocken und Melusine und bettelte um Erlaubnis, sie retten zu dürfen. Die Bärin überlegte, dann sprach sie: “Das ist ein weite und gefährliche Wanderung, alleine kannst du noch nicht gehen.“ Der Kleine kratzte sich am Kopf und nickte, „aber wenn du mitkommst?“ „Ja, ich werde mitkommen, denn Melusine ist unsere Freundin, sie sorgt für uns, damit wir Fische und Robben haben“. Weißt du wo die Eisnadel wohnt?“ fragte der kleine Bär. „Ja, ich habe schon oft da oben gejagt. Wir müssen uns vor den Jägern in Acht nehmen und müssen selbst jagen, um bei Kräften zu bleiben“. „Warum holen die Menschen Melusine nicht zurück“. „Die Menschen glauben nicht mehr an Feen und würden sie nie finden“. „Was ist eine Fee?“ „Eine Fee ist ein Wesen, welches uns hilft oder schadet, es gibt gute und böse Feen, sie sind wie Menschen, aber sie können mit allen Lebewesen sprechen, ob Mensch oder Tier. Nur, mit den Menschen sprechen sie eben nicht mehr, obwohl das nicht gut ist, dann wäre das vielleicht nicht passiert“. Die Bärin wurde bei ihren eigenen Worten nachdenklich. Sie wusste, sie und ihr Sohn hatten eine große Aufgabe bekommen und sie mussten sie lösen. „Mein Sohn, die Schneeflocken haben dich ausgewählt um der Natur zu helfen und du bist noch ein Kind. Ich werde dich beschützen und dich bis zur Eisnadel bringen. Wenn wir dort sind, bist du erwachsen und kannst selbst eine Familie gründen. „Ich nannte dich Misu. Das Wort bedeutet bei den Indianern „Wasser“ Das Wasser ist unser bester Freund, es bringt uns Nahrung und Sauberkeit und löscht unseren Durst. Melusine ist eine Tochter des Wassers und des Windes und du wirst sie finden“.
Am nächsten Morgen brach Misu mit seiner Mutter auf, um Melusine zu suchen. Misu war in den letzten Tagen schon gewachsen und begann mit seiner Mutter zu jagen. Seine Mutter war stolz auf ihren Sohn, er gab sein Bestes. Wenn der Abend kam, und die beiden Bären eng umschlungen in der weiten Schneewüste lagen um sich auszuruhen, lauschten sie wieder den Erzählungen der Schneeflocken.
Es wurde immer kälter, je weiter sie nach Norden liefen. Es gab keine Wasserlöcher und demzufolge auch keine Robben. Auch konnten sie keine Fische jagen, das Eis war zu dick um es aufzubrechen. Sie waren am Ende ihrer Kräfte, als plötzlich prächtige Nordlichter am Himmel erschienen und die Schneeflocken flüsterten:“ das sind die Wächter der Eisnadel“. Misu musste nun alleine weitergehen, seine Mutter wollte an der Stelle auf ihn und Melusine warten. Wind kam auf und die Flocken trieben in Richtung Norden, Misu lief hinterher. Dann drehten sich die Flocken plötzlich zu einer Säule und Misu wusste, dort findet er Melusine. Sie schillerte blau und grün in dem weißen Eis, ihre salzigen Tränen hatten schon das Eis am Fuß des Eisberges schmelzen lassen. Nun hatte er die Kraft die er brauchte um Melusine zu befreien und zurückzubringen. Vorsichtig kratze er das Eis rings um Melusine aus dem Eisberg und drückte Melusine an seine warme Brust. Das Eis taute und Melusine war frei. Dann setzte sie sich auf seinen Rücken und beide flogen förmlich übers Eis nach Süden. Ihre Eile war berechtigt, die Nordlichter hatten die Eisnadel gewarnt und so schnell gab sie nicht auf. Boris stürmte mit Eis und Schnee hinter Misu und Melusine her. Misus Mutter war allerdings auch nicht untätig gewesen und hatte eine große Schneehöhle gebaut. Misu schaffte es mit letzter Kraft und erreichte die Höhle wo seine Mutter die beiden erwartete. Boris tobte vor der Höhle, aber die Bärin hatte eine sichere Unterkunft gebaut. Sie, Misu und Melusine warteten, bis Boris sich ausgetobt hatte. Als er die letzten Minuten heulend um die Schneehöhle tobte und mit letzter Kraft den Eingang freiwehen wollte, stürzte plötzlich eine Lawine über die Schneehöhle und Boris hatte keine Chance mehr einzudringen und Melusine zur Eisnadel zurückzubringen. Die Nordlichter leuchteten wieder in den herrlichsten Farben, aber es war still geworden. Boris lag entkräftet im Schnee. Im Reich der Eisnadel herrschte klirrender Frost und kein Lebewesen konnte dort überleben. Melusine kuschelte sich tief in Misus Fell und die zwei Bären liefen los. Als der Tag anbrach, verschwanden die Wolken und eine strahlende Sonne brachte das Eis zum glitzern. Und über der Schneedecke war wieder das Wispern und Flüstern. Misu und seine Mutter liefen so schnell sie konnten in Richtung Süden und bald hatten sie das erste Eisloch entdeckt, das die Sonne freigeschmolzen hatte. Um das Eisloch lagen Robben in der Sonne und die Bärin konnte für Misu und sich genügend Fleisch erbeuten. Sie konnten aber nicht lange rasten, die Schneeflocken warnten die beiden vor der Nacht, in der die Helfer der Eisnadel wieder Eiseskälte über die Flüchtigen bringen würden. So rannten sie ohne Ruhe weiter südlich, bis sie am nächsten Morgen endlich einen breiten Streifen grünblaues Wasser erreichten. Es war das Meer, welches zum großen Teil noch von Eis bedeckt war, aber die Reichweite der Eisnadel war überschritten, die Kälte war normal und konnte nur durch die Meeresströme gemildert werden. Das war nun die Aufgabe von Melusine. Die drei verbrachten einige ruhige Tage, in denen sie jagten, fischten und die immer wärmer werdende Sonne genossen. Dann wollte Melusine weiter, ihre Meeresströmung musste wieder fließen. In der kurzen Zeit der Ruhe hatte Misu perfekt schwimmen gelernt. Damit Melusine nicht wieder einfrieren konnte, wollte Misu sie schwimmend nach Irland bringen. Von dort aus konnte sie dann mit dem Wind über den Atlantk zum Anfang der Strömung, des Golfstromes, reisen. Misus Mutter verabschiedete sich und Misu schwamm mit Melusine an Island vorbei zu den Färöer Inseln. Dort über den kahlen Felsen stürmte es wieder heftig und Misu ging mit Melusine an Land. Er lief so schnell er konnte bis zur höchsten Stelle der Steilküste. Melusine umarmte Misu und dankte ihm von ganzen Herzen, dann stürzte sie sich von den Klippen mitten in den tosenden Sturm. Misu sah sie fliegen, wie ein leichtes Blatt flog sie immer höher und höher, bis er sie nicht mehr sehen konnte.
Texte: Copyright Bilder und Text von Jutta Stenzel
Tag der Veröffentlichung: 23.06.2011
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