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Es war der heißeste Frühling seit vielen Jahren, jedenfalls die Schulkinder hatten so einen April noch nie erlebt. Mit den Lehrern wurde bereits Hitzefrei ausgehandelt, keiner hatte Lust bei diesem Wetter in einem tristen Schulgebäude herumzusitzen.
Traurig waren nur die Frühlingsblumen, die schlaff und vertrocknet auf den schon teilweise verbrannten Wiesen lagen. Für sie war der Frühling vorbei und die Vögel sangen ihre Liebeslieder nicht mehr in den Vorgärten, sondern auf dem Friedhof, der im Schatten der Kirche und einer mächtigen Eiche lag. Man hatte den Eindruck, dass die starken Äste des Baumes diesen friedlichen Ort umarmen würden. Um den Friedhof hatte man vor vielen Jahren eine Mauer aus Feldsteinen errichtet. Die Mauer, zwar hier und da etwas brüchig, hatte Jahrhunderte überdauert. Aber eben in einer dieser Fugen, gefüllt mit Humus, hatte ein Veilchen den idealen Ort gefunden, an dem es überleben konnte. Es streckte seine Wurzeln tief in das Mauerwerk hinein und wenn es etwas eng wurde, krallte es sich am Stein fest. Am Morgen wurde es vom Tau benetzt, denn die Eiche hielt die Feuchtigkeit am Boden und in der Kühle der Nacht kondensierten Millionen von feinen Wassertropfen an der kalten Mauer. So sah das Veilchen auch noch nach wochenlanger Hitze frisch und lieblich aus. Aber es hatte Langeweile und es wollte größer werden. Also ließ es seine Wurzeln wachsen, immer schön zwischen den Steinen. Je tiefer sie in die Mauer kamen, desto feuchter wurde es und das Veilchen wurde immer schöner und größer. So lange, bis seine Wurzeln den ersten Stein aus der Mauer gehoben hatten und er polternd herunterfiel. Genau auf die knorrigen, über der Erde liegenden Wurzeln der Eiche. "Verdammt, was soll das, was machst du?" knurrte die Eiche. "Ich vermehre mich", wisperte das Veilchen. "Ich will so groß werden wie du". "Und du meinst, wenn du hier randalierst geht das schneller?". Das Veilchen schaute mit seinen tiefblauen Augen zu der riesigen Eiche empor und dann herunter auf den Stein. "Na, ja, aber du mußt doch zugeben, dass ich stark bin". "Ja stark bist du, aber dumm", sagte die Eiche, "hast dir zwar einen guten Platz zum Wachsen ausgesucht, denn deine Verwandten auf der anderen Seite der Mauer sind schon alle vertrocknet. Du hattest einfach Glück, daß dein Samenkorn hierher gefallen ist. Wenn du die Mauer kaputtmachst, wird es für uns alle nicht besser." Das Veilchen schloss beschämt seine Blüten. Die Eiche hatte recht, Kraft alleine macht nichts besser. Es überlegte, wie es sich verhalten sollte. Das kleine Blümchen war ehrgeizig und wollte es partout mit der Eiche aufnehmen, aber sie wollte auch die Freundschaft mit dem einzigartigen Baum. Es dachte über die Art seiner Vermehrung nach. Wenn es weiter wachsen würde, zerstörte es die Mauer. "Wie soll ich mich denn sonst vermehren?" fragte es ganz leise. "Frag mal die Bienen", antwortete die Eiche, "die können dir helfen. "Die sind doch noch kleiner als ich", maulte Veilchen. Aber es entwickelte durch seine Frische einen betörenden Duft und es dauerte nicht lange, da summte es. Die erste Biene setzte sich auf die Blüte. "Hiiiiiiiiii, das kitzelt", rief das Veilchen, "was soll das?". "Halt doch mal still" brummelte die Biene, "ich will doch nur deinen Nektar". "Waaaas willst du?". Es nieste ein paarmal und plötzlich fühlte es so eine wohlige Wärme. Die Biene schnappte sich ihr Eimerchen und wollte gerade wegfliegen. "Ha, ha, halt mal, ich wollte dich was fragen", rief das Veilchen der Biene hinterher. Und es fragte die Biene wie es sich vermehren könnte. "Ich denke, das wirst du in den nächsten Tagen merken, sei schön vorsichtig und lass dich nicht von einer Ziege fressen. Sonst klappt es nicht mit der Vermehrung." Das Veilchen war verwirrt und in den nächsten Tagen fielen ihm auch noch die Blütenblätter aus. Statt der herrlichen blauen Blüten hatte es nur grüne Knubbel auf dem Stengel. Es weinte. "He Eiche, du hast mich hereingelegt!" Ein paar Tage später hatte die Hitze ein Ende. Regen kam auf und ein kalter Wind zerzauste das Veilchen. Und dann, eines Tages platzten die dicken Kapseln auf und viele winzige Körner wurden verstreut. Der Sommer war durchwachsen, mal heiß, mal nass und die Samen bildeten kleine Pflänzchen. Die Eiche kümmerte sich um sie, vor allem um die. die zwischen ihren Wurzeln wuchsen. Im Herbst streute die Eiche braune Blätter über die jungen Pflanzen. Dann konnte der Winter ihnen nichts anhaben, unter Laub und Schnee wurden sie größer und als die Sonne den Boden erwärmt hatte, so dass der Frost weichen mußte,
bildete sich ein großer blauer Teppich unter der Eiche. Auch das "Mauerveilchen" hatte wieder
Blüten bekommen und schaute verwundert auf den Boden. "Sind das alles meine Kinder?", fragte das Veilchen. Die Eiche rauschte mit seiner riesigen Krone. "Natürlich sind das deine Kinder und nächstes Jahr werden sie ebenfalls viele Pflanzen hervorbringen und wenn du dann alle zusammen siehst, seid ihr größer als ich". Das war zwar ein bisschen geflunkert, auch die Eiche hatte Kinder, und die waren schon fast so groß wie sie selbst, aber das kleine Mauerblümchen fühlte sich so groß.
Aber fragt euch selbst einmal, was ist eigentlich "Größe"?

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Tag der Veröffentlichung: 03.05.2011

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