Kommissar Corridas schwieg. Er sah lange nachdenklich zum Fenster hin. In seinem ledrigen Gesicht zuckte kein Muskel. Nicht einmal sein imposanter Schnauzbart zitterte. Er ging ihm bis weit unters Kinn, war schwarz wie sein Haar, das von einigen silbernen Fäden durchzogen war. Er war weit über fünfzig und hatte schon eine Menge Geschichten, wie die von Charlotte Wagenburg gehört.
Er verharrte noch immer bewegungslos in seiner Stellung, auf dem Stuhl sitzend, leicht nach vorne übergebeugt, die Füße in den dunkelbraunen Straßenschuhen übereinander gekreuzt und die Hände lagen auf seinen Knien.
Aber in seinem Hirn arbeitete es. Katastrophen, unbegreiflich wie die in Japan nach dem Erdbeben und dem Tsunami waren Schicksal. Das Kernkraftwerk in Japan hingegen war menschengemacht, und wahrscheinlich sehr schlecht gemacht. Diese zusätzliche Katastrophe, wäre sie vermeidbar gewesen?
Kommissar Coriidas Gedanken fanden wieder sein Gegenüber. Eine Frau in mittleren Jahren, am Tisch sitzend, den Blick auf die graue Wand gerichtet.
Charlotte Wagenburg, als mehrfache Mörderin angeklagt. Vielleicht keine Katastrophe, aber immerhin eine menschliche Tragödie.
Charlotte Wagenburg regte sich plötzlich, und holte tief Luft, als brauchte sie diese.
„Wie es angfing, Herr Kommisar, wollten Sie wissen.“, sagte Charlotte Wagenburg schleppend. Und dann begann ihre Stimme lauter zu werden.
„Manchmal höre ich das Eis jetzt noch leise knirschen. Und in der Erinnerung sehe ich den Kopf der fetten Karla unter der gläsernen Schicht. Ihre Augen ungläubig aufgerissen, der Mund stand offen und die Zunge quoll ihr wie ein feuchter roter Lappen zwischen ihren feisten Lippen hervor. Dann glitt ihr lebloser Körper wie von einem unsichtbaren Strom erfasst unter der Eisdecke weiter. Die Feuerwehr suchte lange am zugefrorenen See, bis sie Karlas Leiche fand.“
Kommissar Corridas brauchte Mut, um diese Frage zu stellen. "Das war Ihr erster Mord?"
Charlotte lachte heisern auf. "Ich war damals zwölf Jahre alt. Karlas Clique hatte mich in der Schule sehr gequält. Dass ich Karla auf dem Eis auf genau diese Stelle locken konnte, auf der sie einbrechen sollte, hab ich am Vortag durch einen Zufall herausgefunden. Dass diese dumme Kuh sich durch meine Fratzen dort hin locken ließ, war ihr Fehler und ..."
Kommissar Corridas nickte. "Und die Chance von Ihrem lieben Freund."
Charlotte begann einen monotonen Sing Sang: "Lieber kleiner Butzemann, bitte tu, was ich nicht kann."
Kommissar Corridas glitt ein Schauer über den Rücken. Unzweifwelhaft hatte er es mit einer Geisteskranken zu tun, die all ihre Morde auf den lieben kleinen Butzemann schob. Wenn Charlotte Wagenburg sich bedrängt fühlte, durch Mobbing oder andere widrige Umstände, holte sie den lieben kleinen Butzemann hervor, der ihr alle Probleme vom Hals schaffte.
Kommissar Corridas schnaufte schwer. "Der Butzemann hat aber noch einen anderen Namen!"
"Ja!", sagte Charlotte wie erleichtert. "Ich bin es nicht schuld. Der Butzemann heißt Elsbeth Hutterer. Ich hab sie auf dem Friedhof in Neuss kennengelernt, als ich Karlas Grab besuchte. Elsbeth Hutterer hat es getan, sie hat alles getan! Sie ist der liebe kleine Butzemann!"
Kommissar Corridas erschauerte. Er wusste genau, was er ab nun erfahren würde, sollte ihn in die Gefilde des seelischen Grauens führen.
Texte: Cover % Text
Gabriele Seewald
Tag der Veröffentlichung: 03.04.2011
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