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Die weiße Blume




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rowin zog die Kapuze seines regenschweren Umhangs tief ins Gesicht und rannte unter die nächste Baumgruppe. Gerade rechtzeitig genug, um den erbsengroßen Hagelkörnern die aus den düsteren Wolken prasselten, zu entgehen.
Das Unwetter hatte den Tag in finstere Nacht verwandelt.
Der heulende Frühjahrssturm ließ die Baumkronen wie ein entfesseltes Meer toben. Regenstriemen peitschen auf die Wipfel, als wollten sie den Wald zu einem halsbrecherischem Galopp antreiben.
Schnaufend strich sich Frowin eine helle Haarsträhne aus der nassen Stirn. Er klapperte mit den Zähnen, die Kälte biss ihm scharf in die Glieder.
Es war noch eine gute halbe Stunde bis zum Felshang, an dem die trutzige Festung klebte, wie ein Mutterkorn an der Ähre. Frowins sehnsüchtige Blicke verharrten eisern auf der Burg, auf den Fenstern aus denen anheimelndes Licht strahlte. Das imaginäre Aroma von Würzwein mit Zimt, Nelken und einem Schuss Muskat stieg ihm in die Nase.
Der eiskalte Regenschwall der ihm mitten ins Gesicht klatschte, ernüchterte Frowin schlagartig. Der angenehme Duft schlug um in den Geruch von nassem Gras, feuchter Erde und modrigem Holz. Wasserschlieren sickerten seinen Rücken entlang bis in die Brouche. Er hörte seinen Magen knurren und scheuchte den Gedanken an Safranhühnchen energisch fort.


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ls der Regen ein wenig nachließ, nutzte Frowin die Lücke.
„Frowin Bernheimer.“, brüllte der Wachmann in den Saal. „Sohn des angesehenen Apothecarius Gerhard Bernheimer aus Ulm.“
Die Schar Ritter und ihre Damen an den gedeckten Tischen sahen gespannt auf. Ein schlaksiger Mann mit Mausgesicht und falben Locken erhob sich und kam erfreut auf Frowin zu.
„Frowin Bernheimer.“ Er hämmerte mehrmals heftig auf Frowins Schulter, ohne das Wurzelstück aus Süßholz auf dem er kaute, aus dem Mund zu nehmen. Ein leichter Anisgeruch verließ seinen Rachen.
„Ich war auf dem Weg zur Küste,“, keuchte Frowin. „aber dann erwischte mich das Unwetter.“
„Und da fiel dir dein alter Freund Ritter Helfrich von Arklen ein.“, sagte das Mausgesicht.
Frowin nickte. So alt war die Freundschaft nicht. Erst im letzten Herbst hatte er Ritter Helfrich aus einer misslichen Lage mit einer Hübschlerin errettet und die zufällige Bekanntschaft mit einem Zug durch die Ulmer Wirtshäuser besiegelt. Grund genug für Ritter Helfrich den Gast an den Tisch zu bitten. Frowin nahm neben ihm Platz und schon sprang ein Page herbei, der einen Becher mit Wein für ihn füllte.
Frowin sah sich erleichtert um und bemerkte, dass er in eine Jagdesellschaft geraten war. Es war der letzte gemeinsame Abend der Gäste und es galt, die erlegte Beute gebührend zu feiern. In der Mitte der Tafel thronte der Burgherr, Rambert von Arklen. Wie Frowin wusste, Helfrichs älterer Bruder. Rambert war von bulligem Körperbau, mit einem massigen Schädel, auf dem dunkle Locken tanzten. Er tätschelte mit seiner breiten Pranke die schmale Hand seiner Gemahlin Blanchefleur.
Das bleiche Oval ihres Gesichts leuchtete im Kerzenschein. Nur ihre dunklen Augen funkelten wie feurige Edelsteine. Frowin spürte einen feinen Stich in seiner Brust. Nie zuvor hatte ein schöneres weibliches Geschöpf gesehen. Durch das Haarnetz lugten Blanchefleurs pechschwarze Locken, stark und eigensinnig, als wollten sie ihren genestelten Kerker mit Gewalt verlassen. Jede ihrer Bewegungen war verhalten anmutig und doch war es, als steckte dahinter eine unterdrückte Leidenschaft, die nur in seltenen Augenblicken zum Ausbruch kam.
Frowin starrte sie verzaubert an. Der helle Klang einer Harfe schwang durch den Saal und berührte sein Ohr und sein Herz. Die Saiten vibrierten wie feine süße Glöckchen, und seine Seele war gefangen.
Ritter Helfrich stieß ihn sanft in die Rippen. „Du musst hungrig sein. Nun laß es dir munden.“
Frowin gab sich endlich den Genüssen hin, zuerst den Fasanen, in Mandelmilch und Rosenwasser eingelegt. Die Pagen trugen weitere silberne Servierplatten auf. Wildschweinbraten, Rehkeule, dazu Tunke aus gekochten Stachelbeeren aus denen Frowin Rosmarin, Ingwer und zerstoßende Wachholderbeeren schmeckte. Im nächsten Gang schmackhafte Kreuzkümmelknödel mit Feigenfüllung. Später gab es Spezereien, gewürzt mit Pfeffer, Honig und Zimt.
„Bleib solange du willst.“, bot Ritter Helfrich seinem schmatzenden Gast an. „Dein Schiff segelt auch ein anderes Mal.“
Frowin musterte Blanchefleur verstohlen. Ja, die weitere Ausbildung zum Apothecarius bei seinem Onkel in London konnte getrost eine Weile warten.


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m nächsten Tag hatten die meisten Jagdgäste die Burg verlassen. So spazierten Ritter Helfrich und Frowin zu einem Teil der Burg, der zwischen den trutzigen Gemäuern lag. Frowin stieß ein überraschtes Schnalzen aus, als er den versteckten Garten entdeckte.
Ritter Helfrich lächelte stolz. „Ein Klosterbruder hat damals diese Beete angelegt. Nun braucht es jemanden, der sich auskennt. Wenn du den Sommer über bleibst, soll es dein Schaden nicht sein.“
Frowin betrachtete begeistert die Anlage. Sie war vorbildlich angelegt, ähnlich nach „Capitulare de villis“, dem Erlass Karls des Großen und arrangiert wie viele Klostergärten.
Frowin sog tief die betörenden Düfte ein. Der laue Wind des Frühlingsmorgens wehte sie ihm geradezu unter die Nase. Unter das herbe Aroma von Thymian und Koriander mischte sich die Süße von Kamille und Arnika. Das Gemisch durchströmte wohltuend seinen Körper.
Ritter Helfrich breitete beide Hände aus. „Hier kannst du mit deinem Studium beginnen. Es wäre ein Segen, wenn jemand auf unserer Burg sich auf Heilmittel versteht. Der hiesige Medicus wohnt zwar im nächsten Ort, aber wo er auch auftaucht, wenn jemand zu versorgen ist, steht es oft schlimmer um den Patienten als vorher. So kommt der Medicus wenig zum Einsatz und treibt sich deshalb lieber in Wirtshäusern herum. Dort ist er mit Sicherheit auch im Augenblick zu finden.“
Frowin wiegte den Kopf. Konnte er seinen Onkel so viele Monate warten lassen? Im Geiste sah sich Frowin im Rittersaal sitzen, die schöne Blanchefleur nicht weit entfernt. Sollte er seinem Onkel eine Nachricht schicken, er habe sich das Bein verstaucht oder gebrochen und müsste einige Zeit auf der Burg eines Freundes genesen? Nun, verstaucht war besser, ein nicht gebrochenes Bein entlarvte der Londoner Apothecarius beim blossen Hinsehen.
Helfrich klopfte Frowin auf die Schulter, als ahnte er dessen Gedankengang. „Ein junger Vogel muss alleine fliegen lernen. Ich lasse dir die Gerätschaften des Klosterbruders auf deine Kammer bringen.“
Ihr Einvernehmen wurde jäh gestört. Draußen auf dem Hof schrieen Männerstimmen drohend durcheinander. Ein lautstarker Streit unter Rittern schien sich anzubahnen.
Helfrich verabschiedete sich knapp. „Ich muss nach dem Rechten sehen, bevor sie sich die Köpfe einschlagen.“
Frowin blieb alleine zurück. Er genoss die Stille des Gartens und schlenderte weiter. Dabei ging er durch, welche Essenzen sich aus den Pflanzen gewinnen ließen. Bei manchen waren die Blätter zu verwenden, bei anderen wiederum die Wurzeln, Samen oder Früchte. Bei seinem Vater hatte er die sorgfältige Zubereitung verschiedener Heilmittel gelernt. Aber für den jüngsten Sohn des Ulmer Apothecarius war es zu eng im Haus geworden. Der Onkel in London hatte nur eine einzige Tochter und suchte einen Nachfolger. Wahrscheinlich auch einen Ehemann für sein Allerliebstes. Sollte er warten! Frowin grinste, sein Platz war vorerst hier. Warum?
Frowin schrak zusammen, als er einen gewichtigen Grund dafür hinter einem Haselnussbusch auf der Rasenbank sitzen sah. Blanchefleur, die weiße Blume, die hier hinein passte, wie nirgendwohin sonst. Sie lächelte, als er auf sie zuschritt.
„Ein hübscher Ort.“, sagte sie. „Ich komme oft hierher, es ist so ruhig und friedlich. Ganz anders als im Saal bei Ramberts Freunden.“
Frowin verstand sie gut. Den Kräutergarten suchten die zechenden Ritter selten auf. Wie er von Helfrich wusste, schliefen die Mannen um Rambert von Arklen lieber lange ihren Rausch aus, um dann entweder jagend über Ramberts Ländereien zu preschen, oder direkt nach dem Aufstehen mit der Belagerung des großen Saals zu beginnen. Sie waren immer laut und ewig präsent. Aber hier war Blanchefleurs Zufluchtsort, nicht einmal ihr Gemahl Rambert hatte das Bedürfnis ihr hierhin zu folgen.
Frowin setzte sich in sittsamem Abstand neben sie. Sie duftete nach Lavendelseife mit einer Prise Majoran. Frowin betrachtete ihre weißen, zusammengefalteten Hände, die ihn an Blütenkelche erinnerten. Plötzlich hob er erschrocken die Brauen. „Habt ihr Euch am Handgelenk verletzt?“
Blanchefleur zuckte zusammen. „Ich war ungeschickt. Eines der Pferde zwackte mich.“
Es sah ihm eher nach einer Prellung oder Quetschung aus. „Arnika oder Beinwell wirken wahre Wunder.“, murmelte Frowin.
„Ein Wunder könnte ich wohl brauchen.“, flüsterte Blanchefleur und ihre Stirn umwölkte sich.
„Ich werde Euch ein Heilmittel aus Kräutern herstellen.“, bot Frowin an.
In Blanchefleurs dunklen Augen glitzerten Tränen. „Ihr seid ein guter Mensch, Frowin Bernheimer. Viel zu gut.“


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rowin zerstieß gerade die Beinwellwurzeln im Mörser, als Blanchefleur wie eine heimliche Diebin in seine Kammer huschte. Neugierig musterte sie den dicken Brei.
„Zuviel von etwas ist immer gefährlich.“, erklärte Frowin. „Es kommt auf die Dosierung an.“
Blanchefleur sah eifrig zu, während er hantierte. „Könnt Ihr mich Eure Kräuterkenntnis lehren? Falls mich wieder ein Pferd zwackt.“
Frowin nickte, ohne zu antworten. Er wagte kaum daran zu denken, dass Blanchefleur bald hin und wieder in seiner Nähe sein würde. Das war mehr als er, bei seiner Zusage, eine Weile zu bleiben, erhofft hatte.
Weit mehr als erhofft. In der nächsten Zeit wunderte er sich über ihr Interesse, nahm es dann aber beglückt auf. Sie tauchte ab nun fast jeden Tag im Kräutergarten auf. Frowin fiel ein, dass er ihr eigentlich die friedliche Einsamkeit ihres Verstecks genommen hatte, indem er einfach eingedrungen war. Vielleicht bewachte sie nun eifersüchtig ihr Paradies.
Oder ihr mochte langweilig sein, da ihr Gemahl seit Wochen unterwegs war, zu Turnieren, zum Jagen, oder um seine Ländereien zu kontrollieren. Aber Frowin war Blanchefleurs Gesellschaft lieb, denn auch Ritter Helfrich der Ramberts Mannen begleitete, bot nun keine Abwechslung.
Bald kam es Frowin vor, als gehörte die ganze Burg nur ihm und Blanchefleur alleine. Das Gesinde ging wie unsichtbar seinen Tätigkeiten nach. Selbst der Burgvogt scharte nur eine Handvoll Vertrauter und wichtiger Wachleute um sich, und kümmerte sich rücksichtsvoll wenig um Ritter Helfrichs Gast.
Umso mehr war die Burgherrin an Frowins Seite. Blanchefleur gab sich emsig, wenn der künftige Apothecarius ihr die verschiedenen Kräuter auf den Beeten erklärte, wie damit umzugehen sei, um ihre Heilkräfte hervorzulocken. Sie war gelehrig und sog jedes seiner Worte wie ein ausgetrockneter Schwamm auf.
„Dank sei dem unverhofften Unwetter,“, sagte Blanchefleur. „das Euch in unsere Burg geführt hat. So musstet Ihr Eure Reise unterbrechen. Und nun habe ich einen kenntnisreichen Lehrmeister.“
„Ja, ohne das Unwetter,“, erwiderte Frowin geschmeichelt. „hätte ich in der nächsten größeren Stadt ein Pferd erstanden und mich bis zur Küste durchgeschlagen.“
„Ihr wollt wirklich nach London?“, fragte sie.
„Mein Vater hat einen Vertrag mit seinem Bruder über meine weitere Ausbildung abgeschlossen. Den kann ich unmöglich brechen. Sonst bringe ich Vater in Verruf. Und außerdem ist mein Onkel alt. Seine Zipperlein und Gebrechen plagen ihn. Er hat nur eine junge Tochter, die für ihn sorgt. Er wüsste seine Apotheca gerne in guten Händen. Irgendwann muss ich wieder fort.“
Blanchefleur nickte voller Verständnis. Frowin dachte an des Onkels Tochter, ob sie kratzbürstig war, oder liebreizend und wie sie wohl aussah? Aber als er neben sich blickte, kam keine Frau diesem Bildnis gleich, dass die weiße Blume in sein Herz gebrannt hatte.
Sie wanderten gemächlich an den Beeten entlang. Als Frowin vorschlug, einen gelehrigen Knecht mit der Pflege des Kräutergartens zu betrauen, schüttelte Blanchefleur heftig den Kopf. „Dazu ist später immer noch Zeit. Und bis dahin möchte ich Euer immenses Kräuterwissen mit niemandem sonst teilen.“
Es erfüllte Frowin mit Stolz und Verlegenheit und er gab sich umso freizügiger mit seinem Kenntnisstand.
Als der Sommer begann, hatte Blanchefleur die Herstellung der verschiedenen Heilmittel dezent an sich gerissen.


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ur Mitte des Sommers kehrte Burgherr Rambert von Arklen mit seinen Mannen und Ritter Helfrich zurück.
Frowin freute sich darauf, seinen Freund wiederzusehen, und er machte sich gegen Nachmittag zu Ritter Helfrichs Kammer auf, um eine Partie Schach mit ihm zu spielen und Neuigkeiten zu hören. Als Frowin am kleinen Saal vorbeikam, hörte er erregte Stimmen. Durch die halb geöffnete Tür konnte er zwei Gestalten erkennen.
„Was jammerst du Weib, du bist selber schuld. Denn bis jetzt, nach drei Jahren Ehe hast du mir immer noch keinen Sohn geboren. Ja, nicht einmal eine Tochter.“ Rambert von Arklen spukte auf den Boden. „Was für ein leeres und unnützes Gefäß habe ich mir nur eingehandelt.“
Bevor Blanchefleur zurückzucken konnte, schlug er ihr mehrmals hart ins Gesicht. Sie stand wie gelähmt, während Rambert sie brutal schüttelte und immer wieder schlug.
Erst nach einer Weile ließ er von ihr ab. Blanchefleur hastete schnell hinaus, den langen Korridor entlang. Frowin folgte ihr erschüttert, aber er fand sie nicht.


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rst am frühen Abend, als Frowin nach seinem Besuch bei Ritter Helfrich auf der Rasenbank saß, sich ein paar Minzeblätter in den Mund steckte und sich an dem frischen Geschmack erfreute, sah er Blanchefleur durch die Büsche huschen.
Ob sie ihren Lehrmeister suchte, oder eher die Einsamkeit des Kräutergartens? Nach menschlichem Ermessen musste sie verzweifelt sein. Frowins Sorge wuchs, er sprang auf und folgte ihr.
Als er hinter ihr stand, räusperte er sich. „Ein schöner Abend, nicht wahr?“
Erschrocken drehte sich Blanchefleur um. Sie zitterte wie Espenlaub. Frowin sah ihr mit durchdringendem Blick ins Gesicht. Ihr rechtes Auge war blutunterlaufen, das Lid auf Hühnereigröße angeschwollen.
„Ich bin eine Stiege hinuntergestürzt.“, murmelte sie. „Sehr unachtsam von mir.“
Frowin starrte sie an. Seit der häßlichen Szene der Eheleute glaubte er nicht mehr an Pferdebisse und Unfälle. Die Wut krampfte seinen Magen zusammen. Am liebsten hätte er Blanchefleur auf ein Pferd gepackt und in Sicherheit gebracht. In Sicherheit vor ihrem Gemahl Rambert, der sie so niederträchtig behandelte.
Als ahnte sie seine Gedanken, sagte sie plötzlich. „Eine Ehefrau muss sich fügen.“
Nein, dachte Frowin empört, und es durchströmte ihn schmerzhaft. Wenn du mein wärest, ich würde dich auf Händen tragen.


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eider blieb ihm sein Ansinnen verwehrt. Seit Rambert und seine Leute wieder auf der Burg waren, blieb Blanchefleur tagsüber verschwunden. Abends saß sie niedergeschlagen neben ihrem Gemahl an der Tafel, aß wenig und nippte nur ab und zu an ihrem Pokal.
„Er behandelt sie schändlich.“, flüsterte Frowin Ritter Helfrich zu, während ein Knappe auf seiner Laute neues Liedgut zum besten gab.
„Ich weiß.“, murmelte Helfrich. „Wenn Rambert vom Pferd stürzte und sich das Genick bräche, wäre der Burgherrin mit Sicherheit wohler.“
Mir auch, seufzte Frowin innerlich und er schielte zu Blanchefleur hinüber. Es wollte ihm fast das Herz brechen, dass ihm nicht einfiel, wie er sie beschützen könnte. Fast kühn dachte er, ... würde Blanchefleur mit mir fliehen? Oh, eine Edeldame teilt ihr Leben mit einem Habenichts. Vergiß es du Dummkopf, vielleicht erhältst du ja eines Tages die eingesessene Apotheca des Apothecarius aus London, aber dann auch nur mit der dazugehörigen Tochter als Eheweib. Wie Frowin auch hin und her überlegte, es gab nichts, was er tun konnte. Außer Rambert zu einem Zweikampf auf Leben und Tod zu fordern. Aber mit Sicherheit würde er verlieren und damit war Blanchefleur wenig geholfen.
„Würdest du deinen Bruder fordern?“, fragte er Ritter Helfrich musternd.
„Bin ich verrückt?“ Ritter Helfrich lachte leise. „Selbst wenn ich ihn bezwänge, seine Freunde würden mir gewiss im Hinterhalt auflauern und mich erschlagen. Die beste Lösung ist, wenn ihn die Pest holt.“
Ritter Helfrich verzog angewidert die Lippen und trank seinen Becher auf einen Zug leer. „Ja, ... die Pest holt.“
Seltsam, sie hatten noch nie über Blanchefleur gesprochen, zumindest nicht zu diesem Thema, immer nur als Burgherrin. Aber eigentlich war sie das niemals gewesen. Sie war ein folgsames Anhängsel ihres Herrn, nur wirklich frei, wenn Rambert von Arklen weit weg war.
Sie war noch bleicher als sonst und Frowin betrachtete sie unauffällig. Sein Blick wanderte von ihrem Gesicht bis zu ihren Händen, die bewegungslos auf dem Tisch lagen. Ihre schönen weißen Hände, die wie zarte Blütenkelche wirkten. Frowin riss erschrocken die Augen auf. Blanchefleurs linke Hand war von roten und blauen Striemen, die vielleicht von einer Reitpeitsche stammten, aufgequollen.
Urplötzlich kam Frowin der exzellente Lammbraten in Rosmarin-Muskat und Rosinentunke bittergallig wieder hoch.


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ank Frowins Arnikaumschlägen schwoll Blanchefleurs Augenlid und ihre verletzte Hand nach einigen Tagen ab. Die verrätischen Spuren einer unglücklichen Ehe verschwanden, ebenso wie Burgherr Rambert mit seinen Spießgesellen. Ritter Helfrich begleitete den Trupp wie üblich.
So wurde es wieder ruhig auf der Burg. Aber die sonst so geliebte Stille hatte für Frowin etwas betrübliches an sich, seit er um Blanchefleurs Kummer wusste. Selbst im Kräutergarten, zu den üblichen Lehrstunden verlor die Burgherrin kein Wort über ihren ungebührlichen Ehemann. Aber sie war unkonzentriert, als sei sie mit ihren Gedanken auf Reisen. Als Frowin versuchte, ihr den Unterschied zwischen den verschiedenen Methoden der Konservierung zu erklären, legte sie die Margeriten, die sie zu einem Zopf geflochten hatte, auf die Rasenbank.
„Lasst uns ausreiten, Frowin.“
„Mit wem?“, fragte Frowin, auf offiziellen Anstand bedacht.
Blanchefleurs Blicke bettelten. „Es ist niemand hier, mir diesen Wunsch zu erfüllen, außer meinem tugendhaften Lehrmeister. Ein Gefolge würde mir Pein bereiten.“
Frowin nickte verblüfft und so ritten sie durch den nahen Wald, ohne Begleitung.
Frowin betrachtete Blanchefleur beglückt. Es war gut, auf ihren Vorschlag eingegangen zu sein. Endlich hatte sie wieder Freude. Als sie auf eine Lichtung kamen, war Blanchefleur sogar entzückt über das sommerbunte Fleckchen Natur. Frowin hingegen ernster, als er die mächtige Pflanzenansammlung sah. Dicke Hummeln taumelten schwerfällig auf die blauvioletten, helmartigen Blüten zu. Ihr Summen deckte sich über die Stille des Waldes.
Frowin pfiff warnend durch die Zähne. „Blanchefleur! Haltet Euer Pferd zurück. Meidet die mörderischen Pflanzen!“
Blanchefleurs Augen weiteten sich entsetzt. „Sind diese wunderschönen Blumen wirklich so gefährlich?“
Die stechenden Ausdünstungen piksten in Frowins empfindlicher Nase. „Jede Berührung mit dem Wolfskraut wird den sicheren Tod bringen.“


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ls Burgherr Rambert nach einigen Wochen mit seiner lärmenden Horde zurück kam, belagerten sie sofort den Saal. Frowin sehnte ihre Abwesenheit zurück.
Aber stattdessen drang das Gekläffe der Jagdhunde durch die Mauern, zotiges Lachen und Gegröhle aus der Halle, dem Saal und den Fluren. Die lauteste Stimme von allen gehörte Burgherrn Rambert. Zusehends gewann sie an Schärfe. Wen mochte er gerade anschreien?
Frowin fürchtete um Blanchefleurs Wohlergehen und machte sich von seiner Kammer auf, um nach ihr zu suchen. Erst nach einer Weile fand er sie und Ritter Helfrich im Kaminzimmer. Die beiden standen nahe beeinander wie verschmolzen, und als Frowin eintrat, sprangen sie auseinander wie Kinder, die eine verbotene Frucht genascht hatten.
„Ich wollte nur sehen, wie es Euch ergeht.“, murmelte Frowin.
Er bemerkte sofort die knisternde Spannung, die in der Luft lag, wie die angestaute Aufladung eines hitzigen Tag vor dem Gewitter. Blanchefleurs Hände zitterten.
Ritter Helfrich setzte eine steinerne Miene auf. „Ja, Frowin, zum Glück blieben wir von der ansteckenden Ruhr, die im Süden grassiert und ähnlichen Gottesgeißeln, die die Menschen dort in sich trugen, verschont. Ich berichte auch dir später von unseren Reisen.“ Helfrich schien ganz woanders. „Nun, vielleicht heute Abend an unserer Tafel.“
Es war brütend warm im Raum. Kein Wunder, im Kamin war das Feuer hochgeschossen, um gierig seine neue Nahrung, mehrere frische Holzscheite, zu verzehren.
Verwundert blickte Frowin in die züngelnden Flammen. „Eure Handschuhe, Blanchefleur. Habt Ihr nicht bemerkt, dass sie in das Feuer geraten sind?“
Blanchefleur zog ihn schnell vom Kamin weg. Ihre Augenlider flatterten wie Vogelschwingen. „Lasst die Handschuhe darin. Pfui, pfui, sie haben so gestunken. Ramberts garstige Lieblingstöle hat darauf uriniert. Er hasst mich, der Hund.“
Meinte sie mit „Hund“ ihren Gemahl Rambert?
Jäh wurden Frowins Gedanken unterbrochen.
„Eilt zu Hilfe!“ schrie ein Knappe durch die Korridore. Mehrere aufgeregte Stimmen gesellten sich dazu. Der Lärm hallte zwischen den kahlen Mauern wie ein vielfach zurück geworfenes Echo hin und her. Der ganze Trakt war in Aufruhr.
Auch Frowin, Ritter Helfrich und Blanchefleur hasteten zum Saal, wohin die Menschenmenge strömte. Selbst das Gesinde war mit wassergefüllten Krügen und Schüsseln herbeigeeilt, als sei ein Feuer ausgebrochen.
Aber als sie den Saal erreichten, schlug die Aufregung um in Erstaunen, gemischt mit hilflosem Entsetzen. Frowin drängte sich vor, um zu sehen, worum sich die Ritter scharten.
Burgherr Rambert von Arklen lag verkrümmt auf den kalten Steinfliesen. Seine Freunde umstanden ihn mit ungläubigen Blicken. Sie wußten nicht was sie tun sollten. Das Gesinde tuschelte hinter vorgehaltener Hand, und beratschlagte, ob sie heiße Linnen oder heißen Wein herbeischaffen sollten.
Rambert sah mit starrem Hals zu ihnen hin, als wollte er etwas sagen, aber seine Kehle brachte nur ein Gurgeln zustande. Dann zuckte er hin und her, seine Lippen zitterten und seine Augen waren glasig. Er war nicht in der Lage sich aufzurichten, dass sah jeder, aber keiner seiner sonst so mutigen Mannen rührte einen Finger.
„Ist es ansteckend? Etwa die Ruhr?“, flüsterte einer der Ritter.
„Herr im Himmel!“ Eine hagere Magd bekreuzigte sich und trat einen Schritt nach hinten. Ihrem Beispiel folgten Dutzende, so unauffällig wie möglich. Aber es war sicherer, sich aus der Gefahrenzone, die Rambert von Arklen nun für sie alle beuten konnte, zu entfernen. In Frowin schossen die Gedanken durcheinander. Welche Heilkräuter, welche Mixtur war stark genug, gegen diese Gottesgeißel anzugehen?
Rambert schüttelte sich derweil in Krämpfen. Sein dunkles Haar lag schweißnass um seinen massigen Schädel. Schwer röchelnd schnappte er nach Luft. Zitternd beugte er sich vor und zeigte auf Blanchefleur. „Die, die ...“
„Holt den Medicus.“, rief Ritter Helfrich. „Rambert hat das Antoniusfeuer!“
In die Gaffer kam plötzlich Bewegung. Ein paar der Ritter rannten hinaus in die Vorhalle und befahlen den Knechten nach ihren Pferden.
Aber es war zu spät. Burgherr Rambert bäumte sich ein letztes Mal auf, dann knallte sein Kopf auf den harten Stein.


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ls der Herbst einzog sortierte Frowin zum letzten Mal seine Aufzeichnungen und Fläschchen. Seine Notizen hatte er säuberlich abgeschrieben, um sie den Burgbesitzern anzuvertrauen. Die ursprüngliche Fassung nahm er an sich. Ritter Helfrich, seit seines Bruders Tod der neue Burgherr, hatte seinem Gast angeboten als Freund zu bleiben und den Kräutergarten weiterhin zu betreuen. Aber Frowin hatte einen Brief von seinem Onkel erhalten, der ihn dringend benötigte, auf die zugesagte Hilfe pochte und ihn endgültig nach London beorderte.
Der Abschied fiel schwer. Die Burg war Frowin in all den Monaten zu einem zweiten Zuhause geworden. Alles war so vertraut. Und nun musste er all dies verlassen und ihm blieben nur noch seine Erinnerungen. Als er seine Habseligkeiten von einem Knecht nach draußen tragen ließ, betrachtete er ein letztes Mal mit einem wehmütigen Rundblick seine Kammer. Dann gab er sich endlich einen Ruck.
Burgherr Helfrich folgte Frowin auf den Burghof. Sie umarmten sich und ahnten, dass sie sich nie wiedersehen würden.
Frowin seufzte. „Hab Dank für alles Helfrich. Ich bin sicher, du wirst Blanchefleur zuverlässig zur Seite stehen.“
„Gewiss.“, Helfrich lächelte süffisant. „Du weißt es noch nicht. Nach der angemessenen Zeit werde ich Ramberts Witwe Blanchefleur zur Frau zu nehmen. Es ist seit gestern Abend beschlossene Sache.“
Frowin war so perplex, dass er den Mund öffnete und ihm das Kinn lang wurde wie eine Gurke. Obwohl er das plötzliche Interesse seines Freundes an Blanchefleur bemerkt hatte, war das Endergebnis doch schockierend. Frowin beneidete Helfrich zutiefst, schluckte schwer und seine Stimme klang heiser. „Du wirst ihr ein guter Mann sein. Da bin ich sicher.“
Vor Frowins feuchten Augen verschwamm das Bild, als Blanchefleur auf den Hof trat. Ihr bleiches Gesicht leuchtete in der Herbstsonne. Sie kam auf die beiden Männer zu. In ihren Händen hielt sie ein Holzkästchen.
Nach einigen freundschaftlichen, endgültigen Abschiedsworten saß Frowin auf. Der kräftige Apfelschimmel und eine mit Münzen gefüllte Geldkatze waren Ritter Helfrichs Abschiedsgeschenke, als Dank für die Pflege des Kräutergartens. Seit Rambert von Arklens Tod hatte Blanchefleur die Lust an den Lehrstunden verloren. Aber Frowin wusste den Garten in guten Händen. Der jüngste Sohn des Burgvogts, ein kluger Bursche, hatte die Pflege nun übernommen.
Als Frowin in die Zügel greifen wollte, reichte ihm Blanchefleur das Holzkästchen. „Eine Erinnerung an gemeinsame Lehrstunden. Wir sind Euch zu tiefstem Dank verpflichtet.“
Frowin nahm es entgegen und legte es auf den Sattelknauf. Dem Holz entströmte ein betörender Duft. Er wuchs vor seiner Nase zu einem ganzen Sommergarten. Arnika, Thymian, Lavendel ...
Ein Sommer, den er nie vergessen würde.
„Lebt wohl.“ Blanchefleur lächelte flüchtig.
Frowin betrachtete sie sehnsüchtig, Blanchefleur, die weiße Blume, deren Blütenkelch sich nun für ihn für immer verschloß.


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n die Segel.“
Auf Deck rannten die Seeleute hin und her.
Nur wenige der Passagiere hatten sich an die frische, kräftige Salzluft gewagt. Dabei war die Nordsee ruhig und die Sonne schien von einem strahlend blauen Himmel. Der milde Seewind trieb die wenigen schneeweißen Wolken in Richtung Kontinent, der sich mehr und mehr entfernte.
Das Segelschiff gewann an Fahrt. Frowin stand an Deck, sog die salzige Luft ein und sah die Küste immer kleiner werden. Um sich an die Erinnerung zu klammern, hielt er sich das Holzkästchen unter die Nase, aus dem der intensive Duft stieg. Der Duft eines ganzen Kräutergartens, in dem er so oft mit Blanchefleur gesessen hatte. Seiner gelehrigen Schülerin.
Soviel hatte hatte er ihr beigebracht. Sie wusste nach all den Monaten mit dem Mörser und Stößel umzugehen, einen Sud zuzubereiten, ebenso die Heilmittel zu konservieren. All die Namen der wichtigsten Kräuter waren ihr geläufig, ihre Anwendungen und Zubereitungen, bis auf die Messerspitzendosis genau. Ihre Neugierde war beachtlich, und es war schon seltsam, dass sich eine Edeldame ihre Zeit mit derlei Beschäftigung vertrieb. Was hatte Blanchefleur dazu bewogen? Langeweile, Wissensdurst, Zuneigung zu einem werdenden Apothecarius?
Frowin seufzte entsagend, Zuneigung, wie sie einem Manne gebührte wohl eher nicht. Aber zumindest er hatte Blanchefleurs Nähe genossen, hatte sie in die Geheimnisse der Natur eingewiesen, die ebenso heilbringend wie gefährlich sein konnten. Bei falscher Anwendung sogar tödlich!
Frowin stutzte plötzlich. Der kräftige Apfelschimmel, die Münzen in der Geldkatze und das Holzkästchen, alles Geschenke zum Dank für seine Hilfe. Oder als geheimes Zeichen für den Mitwisser!
Frowin schluckte schwer, als sich seine Gedanken verdichteten. Was für ein geschickter Plan, ihn von Anfang an an den Kräutergarten zu fesseln, sein Wissen unbedarft aus ihm heraus sprudeln zu lassen. Mit der frühen Absicht, einstmals eine ansteckende Krankheit wie das Antoniusfeuer vorzuschieben, wodurch ein Leichnam nicht viele Untersuchungen auf sich zog und zu schnell beigesetzt wurde.
Ein Plan, ausgedacht von einer Verzweifelten. Oder sogar von einem Liebespaar, von dessen langer und heimlicher Liaison bisher niemand etwas geahnt hatte!
Der würzige Kräuterduft aus dem Holzkästchen verwandelte sich unter Frowins Nase jäh in stechende Ausdünstungen. Und wie an jenem Tag, sah er Blanchefleur auf der sommerbunten Lichtung im Wald. Und diesmal tanzten ihre Hände inmitten der blauvioletten Blüten, der mörderischen Blüten. Aber das hochgiftige Wolfskraut, auch blauer Eisenhut genannt, konnte ihr nichts anhaben, denn Blanchefleurs Hände waren geschützt.
Geschützt durch ihre Handschuhe, die sie kurz vor Ramberts plötzlichem Tod, gemeinsam mit Ritter Helfrich im Kamin verbrannt hatte.





Begriffsserläuterung:




Antoniusfeuer


Vergiftungen durch Mutterkorn das die Getreideähren befiel, (meist Roggenähren) hielt man im Mittelalter für eine ansteckende Krankheit, da niemand wusste, wo es herkam

Apotheca


Lat. Lehnwort aus dem griechischen: Magazin, Lager, Vorratskammer, Depot
heute gebräuchlich in:spanisch: Bodega, franz: Boutique

Apothecarius


professioneller Hersteller von Mixturen aus Heilkräutern, Drogen und Gewürzen, heute: Apotheker

Brouche


Eine Art Unterhose

Capitulare de villis


Erlass Karls des Großen, erste Land- und Wirtschaftsverordnung des Mittelalters, Vorbild für die empfohlene Pflanzensammlung waren die Kräutergärten der Klöster

Geldkatze


Geldbörse


Gottesgeißel


ansteckende Krankheiten, Seuchen

Hübschlerin


Prostituierte

Medicus


Arzt

Mutterkorn


auch: Kornzapfen, Wolfszahn, Krähenkralle,
zapfenartiger Pilzbewuchs an Getreideähren, hochgiftig

Wolfskraut


Blauer Eisenhut, hochgiftig


Impressum

Texte: Cover, Illustrationen & Text Copyright: Gabriele Seewald
Tag der Veröffentlichung: 14.07.2009

Alle Rechte vorbehalten

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