Das Gräss Manuskript
Er hatte keinen Groschen mehr in der Tasche, sein Magen verkrampfte sich vor Hunger, und der Eisregen troff ihm ins Gesicht, obwohl er unter einem Büdchenvordach Schutz gesucht hatte. Eine Platinblonde mit rotem Schirm servierte gerade einen Freier, der im Mercedes saß, lautstark ab. Dann stöckelte sie auf ihren knielangen schwarzen Lederstiefeln auf ihn zu.
„Nen Zwani, auf die Schnelle.“, knirschte sie zwischen den Zähnen hervor. „Gleich, wenn es dunkel wird. Da hinten.“
Sie deutete auf eine Hausmauer, hinter der sich wohl eine stille Nische verbarg. Berthold Gräss schüttelte deprimiert den Kopf. Nein, er hatte kein Geld, nicht für käufliche Liebe, nicht einmal mehr für eine ordentliche Bleibe. In dem besetzten Haus, wo er ein Zimmer hatte, war der Strom abgeschaltet und die Heizung kalt geworden.
Die Platinblonde legte den Kopf schief. „Siehst mir aus, als könntest du eher was zu essen vertragen. Na, komm mal mit. Ne Tütensuppe und Toast wird sich bei mir schon finden. Brauch auch mal jemanden zum Reden.“
Wie viele Jahre war das her, damals, am Bahndamm, Industriestraße, wo die Nutten standen. Die Platinblonde hatte ein großes Herz gehabt und ebensolche Brüste, warm, weich, und er hatte seinen Kopf dazwischen gelegt und sich erholt.
Ja, dachte Berthold Gräss, diese Stadt ist voller Erinnerungen, und ich habe gewühlt, in diesem Labyrinth aus Straßen, um das zusammen zu klauben, was für mich relevant war. Fast fünfzig Jahre Düsseldorfer Stadtleben.
Sein Verleger hatte ihn darauf gebracht, einmal einen autobiografischen Roman zu schreiben. Und nun war das Manuskript in der ersten Version vollendet, wie eine wundervolle Rose. Zwar mit vielen Dornen, aber die blutroten Blüten waren dick, samtig und voller Fülle.
Und seit gestern zu zwei Teilen leimgebunden. So liebte er die erste Version seines Manuskriptes. Ein einziges Exemplar nur, ein altes Ritual, dass ihm vor vielen Jahren zu unverhofftem Glück, einem rapiden Aufstieg und sogar zu einem eigenen Haus in Benrath mit Sicht auf den Rhein verholfen hatte.
Jetzt kam die letzte Arbeitsphase, die ging recht schnell und die ersten Kapitel konnte er seinem Verlag schon in den nächsten Tagen schicken. Er freute sich schon auf die Arbeit.
Die Seiten, an denen er gerade schrieb, leuchteten ihm jeden Morgen auf der dunklen Holzplatte seines Schreibtisches entgegen. Wie eine Geliebte, die ihn zärtlich begrüßte.
Aber als Berthold Gräss an diesem Tag nach dem Duschen in sein Arbeitszimmer trat, stutzte er. Er blieb stehen, starr wie eine Statue. Erst nach einer Weile fassste er sich an die Stirn. Nein, das konnte nicht sein. Aber so sehr er seine Blicke auch schweifen ließ, sie war weg, fort, seine blutrote Rose.
Wirre Gedanken schossen in seinem Hirn durcheinander. Niemand konnte in seinem gut gesicherten Haus gewesen sein. Die Putzfrau besaß keinen Schlüssel. Während er sich weiter das Hirn zermarterte, begann er das gesamte Haus auf den Kopf zu stellen.
Verdammt, im Vertrauen auf seine zuverlässige Arbeit hatte er von seinem Verleger schon Vorschuss kassiert, bald sollte es wieder zu den üblichen Buchvorbestellungen kommen. Und nun schien alles dahin. Eineinhalb Jahre Arbeit. Wie konnten 400 Seiten einfach so verschwinden?
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Texte: Copyright 2009
Text und Cover Gabriele Seewald
Da dieser Kurzkrimi (22 Seiten)
demnächst in einem Buchsampler
erscheinen wird, ist hier aus
urheberrechtlichen Gründen nur noch eine
kurze Leseprobe veröffentlicht.
Tag der Veröffentlichung: 03.05.2009
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