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Anmerkung des Autors searched.and.found zu diesem Buch:
Die erzählte Geschichte beruht auf intensiven Recherchen zur Thematik und persönlichen und teils intensiven Kontakten mit Betroffenen – die Rahmenhandlung sowie die vorkommenden Menschen sind fiktiv.


Mein Name ist Moritz Jäger und dies ist meine Lebensgeschichte.
Geboren wurde ich am 26. November 1968 in München als Wunschkind meiner Eltern.

Mein Vater war selbständiger Graphiker und konnte sich seine Arbeitszeit weitestgehend frei einteilen – in seinem Arbeitszimmer in der Wohnung hat er die anstehenden Aufträge vorbereitet und dann zu den Kunden gebracht. Meine Mutter war Hausfrau und somit ständig zuhause.

Das monatliche Durchschnittseinkommen meines Vaters reichte nicht für luxuriöse Anschaffungen aus, doch war es immerhin genug, um diese kleine Familie – ich bin Einzelkind – ausreichend zu versorgen. Gewohnt haben wir in der Innenstadt in einem Altbau, der wohl Ende des 19. Jahrhunderts erbaut worden ist. Unsere Wohnung war sehr geräumig, was darin begründet lag, dass sie vormals von mehreren Mietparteien bewohnt gewesen ist und meine Eltern die gesamte Wohnung zu einer heutzutage unvorstellbar niedrigen Miete bezogen haben. Da die Hauseigentümer ziemlich vermögend gewesen sind, wurde diese Miete auch nur in Abständen von vielen Jahren um einen Bruchteil erhöht, das Haus aber trotzdem so weit baulich unterhalten, dass alles vorhanden und in funktionierendem Zustand gewesen ist – zwar gab es damals keine Zentral- oder Fußbodenheizung, doch waren in den Wohnungen mehrere Ölöfen sowie je ein mit Holz und Kohle beheizbarer Kaminofen. So hat es sich also ergeben, dass mein Vater 2 Zimmer als Arbeitszimmer nutzen konnte und ich in der Wohnung sehr viel Platz für meine Erkundungen und zum Spielen gehabt habe.

Ich hatte eine ausgesprochen glückliche Kindheit, weil meine Eltern sehr viel Zeit mit mir verbracht und sich intensiv mit mir beschäftigt haben. Mein Vater hatte einen Wagen, einen Volkswagen Käfer. Mit dem sind wir sehr oft spazieren gefahrenn – sehr oft in „die Berge“, also rings um Garmisch, den Tegernsee, den Achensee, Berchtesgaden und vieles mehr. In Österreich und Italien waren wir auch oft – mit oder ohne Übernachtungen. Unsere gemeinsamen Urlaube haben wir meistens in Venedig verbracht. Venedig war zu dieser Zeit nicht von Touristen überlaufen, weil dieser Lagunenstadt der Ruf vorausgegangen ist, dass die Venezianer ihre Abwässer in die Kanäle leiten und es also auch dementsprechend riecht. Wer verbringt schon gerne seinen Urlaub in einer Kloake? Wir, die Jägers, da das mit den Fäkalien und anderen Arten von Abwasser zum einen so nicht gestimmt hat – und zum anderen durch Ebbe und Flut ja ein ständiger Austausch zwischen Venedig und der offenen Adria gegeben war. Venedig war auch sehr preiswert, was Unterkünfte und Einkaufsmöglichkeiten anbelangte. Kein Wunder, da ja eh kein Massentourismus stattgefunden hat.

Auch kann ich mich an wunderschöne Urlaube in Südtirol, den Dolomiten und diversen Großstädten in Italien erinnern. Touristenpfade haben meine Eltern stets gemieden – für sie lag der Reiz darin, die fremde Umgebung, über die sie sich zuvor durch Reisebücher, Bildbände und anderes einen Überblick verschafft hatten, selbst zu entdecken und nicht mit der Masse mitzulaufen. Dadurch war eigentlich alles geprägt, was wir miteinander unternommen haben – ob es nun Spaziergänge, Spazierfahrten mit dem Auto oder anderes waren.

Der Kindergarten, in welchen ich dann gekommen bin, wurde von Klosterschwestern geleitet, die zwar sehr streng in der Erziehung der Kinder gewesen sind, der Umgang miteinander aber von Zuneigung, Freundlichkeit, Nächstenliebe und respektvollem Verhalten geprägt war. So gab es auch mehrmals am Tag gemeinsame Gebete zusammen mit uns Kindern. Alles dort war sehr friedlich, doch galt es eben, die Regeln einzuhalten. Verstöße dagegen wurden jedoch nur milde geahndet, Schläge oder dergleichen gab es nie. Über die Mittagszeit sind wir Kinder dann immer in einen großen Schlafsaal gegangen, wo jedes Kind ein eigenes Bettchen hatte. Es waren zwar mehr Liegen als richtige Betten, doch mussten wir da immer unseren Mittagsschlaf halten. Mittagessen haben wir natürlich auch bekommen. Und Spielsachen gab es mehr als ausreichend – zum Glück war das lange vor den Computerspielen oder anderem. Wir haben Bilder gemalt, mit Bauklötzen, Puppen oder anderem gespielt und hatten dabei ständig die Klosterschwestern um uns herum, die sich mit uns beschäftigt und natürlich mit uns gespielt und gesungen haben. Es war eine wirklich sehr schöne Zeit und ich bin sehr gerne im Kindergarten gewesen.

Dann kam die Zeit der Einschulung in die Volksschule, die, wie auch der Kindergarten, unweit unserer Wohnung gewesen ist. Also waren die Fußwege nie besonders lang. Am Tag der Einschulung habe ich mich riesig über meine Schultüte gefreut – es war eine besonders schöne Schultüte mit vielen schönen Geschenken und Süßigkeiten darin. Die anderen Kinder hatten natürlich auch solche Schultüten, um den Anfang nicht nur zu erleichtern, sondern auch zu versüßen. Die einzige Lehrerin, die wir die ersten 2 Jahre über hatten, war sehr lieb. Später hatten wir dann noch mehr Lehrerinnen und auch einen Religionslehrer, den ich aber nicht leiden konnte, weil, wenn es im Klassenzimmer zu unruhig geworden ist – sein Unterricht war nicht so packend und interessant, weil der Lehrer schon etwas älter und zu verklemmt gewesen ist -, es schon mal Ohrfeigen und anderes mehr gegeben hat. In der heutigen Zeit wäre das wohl nicht mehr statthaft, doch hat es keinem von uns wirklich geschadet.

Nach Schulschluss bin ich immer nach Hause gegangen und habe gleich meine Hausaufgaben gemacht, die mir, wie auch alles in der Schule, sehr leicht gefallen sind und bereits nach kurzer Zeit erledigt waren – ich war sehr begabt und hatte ja auch meine lieben Eltern, die mir natürlich alle meine Fragen beantworten konnten und mir somit sehr geholfen haben. Gelesen habe ich auch sehr viel, was wohl zu meiner Bildung beigetragen hat. Zwar waren es damals noch keine richtigen Bücher, sondern eben kindgerechtes wie etwa Comichefte, doch bin ich geistig sehr rege und interessiert gewesen. Da ich eine so gute Beziehung zu meinen Eltern hatte, war ich auch zu anderen stets freundlich und auch sehr hilfsbereit. Älteren Menschen gegenüber hatte ich immer ein sehr höfliches und respektvolles Auftreten. Kurz und gut: ich habe mich größter Beliebtheit erfreut.

Am 6. April 1978 sollte sich das alles jedoch schlagartig ändern.

Auf meinem Heimweg von der Schule musste ich eine große Straße überqueren. Natürlich gab es an der Kreuzung eine Ampel und ich bin auch immer nur dann rübergegangen, wenn das grüne Männchen geleuchtet hat. An jenem Tag war es auch so. Ich hatte die Straße schon zur Hälfte überquert, als plötzlich ein Auto auf mich zugerast kam – ich bin so erschrocken, dass ich nicht wegrennen konnte und von dem Auto frontal erfasst worden bin. Der Fahrzeughalter konnte übrigens nie ermittelt werden, da er Fahrerflucht begangen hat und keiner der Passanten der Polizei ausreichende Angaben machen konnte.

Aufgewacht bin ich erst 6 Wochen nach diesem Unfall – ich lag in einem Zimmer auf der Intensivstation und an meinem Bett saß meine Mutter, die ich jedoch nicht erkannt habe. Meine Mutter war die ganzen Wochen über Tag und Nacht bei mir, hat mir Geschichten erzählt und Lieder vorgesungen – das war ein absolutes Novum, da es seinerzeit noch keine Mutter-Kind-Zimmer in Krankenhäusern gegeben hat. Weil meine Mutter den Krankenschwestern allerdings so viel Arbeit wie nur irgend möglich abgenommen und sich auch um andere Kinder und erwachsene Patienten gekümmert hat, war sie auf der Intensivstation mehr als nur gern gesehen und man hat ihr auch ein Bett neben dem meinen zur Verfügung gestellt, damit sie über Nacht bleiben konnte. Mein Vater war nicht ganz so oft da, da ihm die Intensivstation mit all den schwerst verletzten Menschen so nahe gegangen ist und er ja auch seine Arbeit hatte.

Nachdem ich dann wieder ansprechbar gewesen bin – ich lag 6 Wochen im Koma und bis auf einen Arzt hatten mich alle bereits aufgegeben und nicht daran geglaubt, dass ich das überlebe, da ich neben einem dreifachen Schädelbruch und einem Schädel-Hirn-Trauma noch etliche andere Knochenbrüche hatte und zudem so lange komatös gewesen bin -, habe ich in nichts mehr dem lieben und freundlichen Kind von vor dem Unfall entsprochen. Ich war das genaue Gegenteil davon. Alle Menschen, die mit mir zu tun gehabt haben – zuallererst meine Eltern -, habe ich beschimpft und war extrem aggressiv.

Nachdem ich also nun auf einer „normalen Station“ in der Kinderabteilung des Krankenhauses gewesen bin und der Oberarzt der Station beschlossen hatte, dass ich durch mein Verhalten – ich war zwar bettlägrig, habe die Kinder, die in dem gleichen Zimmer waren, aber mit allem beworfen, was ich zu fassen bekommen habe. Den Kindern hat das natürlich nicht gefallen, doch kam bei der kleinsten Unruhe immer eine Schwester ins Zimmer und hat umgehend für Ruhe gesorgt – von den anderen Kindern abgesondert werden müsse, kam ich in ein Einzelzimmer, welches durch eine Glaswand auf der einen Seite von einem anderen Krankenzimmer getrennt gewesen ist. Da die Kinder im Nebenzimmer ständiger Betreuung bedurft haben, hatten mich die Schwestern durch die Glaswand auch stets im Blick, konnten mich also auch beobachten. Meine Mutter war jetzt nur noch tagsüber auf der Station, da sie mich ja nun gut aufgehoben und versorgt wusste und ich außer Lebensgefahr war. Nachdem auch das Einzelzimmer nichts an meinem Verhalten geändert hat, empfand mich der Oberarzt als Störfall und hat meine Eltern das auch wissen lassen. Nach vielen gemeinsamen Gesprächen haben sie dann gemeinsam den Entschluss gefasst, mich in ein anderes Krankenhaus verlegen zu lassen. Zwar gab es in diesem anderen Krankenhaus keine Kinderabteilung, doch meinte der Oberarzt, dass das besser für mich sei.

Dort angekommen, bin ich in meinem Bett in ein Vierbettzimmer geschoben worden. Um mich herum also drei erwachsene Männer, denen es überhaupt nicht recht gewesen ist, dass ein Kind bei ihnen im Zimmer liegt. Diese Männer waren auch bettlägrig, doch haben ihre verschiedenen Verletzungen sie nicht davon abgehalten, Bier zu trinken und Zigaretten zu rauchen. Unvorstellbar, dass es so etwas in einem Krankenhaus überhaupt gibt, doch war das eben so. Wegen meiner Aggressivität habe ich diese Männer natürlich auch ständig beschimpft. Die haben mich dann geärgert, wo immer sie nur konnten. Schlafen haben sie mich auch nicht lassen und sich laut unterhalten. Meinen Eltern ist das alles natürlich nicht entgangen, zumal diese Männer sich bei ihnen über mich mehrmals beschwert hatten. In einem Ton, den meine Eltern nicht kannten. Das haben sie den Ärzten und der Stationsleitung erzählt, woraufhin beschlossen wurde, mich auf den Gang zu verbringen. Also wurde ich in meinem Bett auf den Flur geschoben, wo ich zwar meine Ruhe vor diesen Männern hatte, aber eben dem Betrieb auf der Station ausgesetzt gewesen bin. Allerdings konnte das Stationspersonal mich hier immer im Blick behalten. Zum Teil waren die auch sehr freundlich, hatten aber keine Zeit, sich groß mit mir abzugeben. Wozu auch – ich war für nichts und niemanden zugänglich und ständig aggressiv. Aufstehen konnte ich erst viel später – ein Bein war vom Knöchel bis zur Hüfte eingegipst, weil es mehrfach gebrochen gewesen ist. Anfangs wurde ich in einem Stuhl herumgefahren, dann durfte ich das auch alleine machen. Allerdings war das kein Rollstuhl, bei dem die Räder mit den Händen bewegt werden können, sondern nur ein Stuhl mit Metallrahmen und Stoffbespannung für Rückenlehne und Sitzfläche sowie kleinen Rädern am Ende der Stuhlbeine. Die Fortbewegung erfolgte also durch Abstoßen mit dem gesunden Fuß. Dementsprechend unbeholfen war das Ganze... Das eingegipste Bein war geschient, so dass ich es ausgestreckt vor mir hatte – mittlerweile war das Becken nicht mehr eingegipst, aber der Oberschenkel doch noch bis zum Beckenansatz. Das mit den Gehhilfen kam dann erst sehr viel später.

Ich habe mich furchtbar allein und verlassen gefühlt, obwohl ich am Abend immer Gesellschaft von einigen Männern hatte, die schon gehen konnten und an einem Tisch, der ein Stück neben meinem Bett stand, Karten gespielt haben. Meine Mutter besuchte mich zwar nach wie vor jeden Tag, doch waren die Besuchszeiten etwas kürzer geworden. War sie dann weg, habe ich die ganze Zeit geweint und wollte zu meinen Eltern, wollte nach hause. Meine Mutter hatte mir Geld zum Telefonieren dagelassen, so dass ich dann immer den Stationsgang mit meinem Stuhl langgerollt bin, um durch weitere Stationen zum einzigen öffentlichen Telefon gelangen zu können. Da habe ich dann zuhause angerufen und das ganze Geld vertelefoniert. Manchmal haben mir die Männer dann noch ein bisschen Geld gegeben, damit ich noch mehr telefonieren konnte. Ich wollte nur weg von da.

Nachdem mir der Beingips entfernt worden ist, sollte ich, um wieder Muskulatur aufbauen und den Bewegungsablauf einüben zu können, auch in das Schwimmbad des Krankenhauses. Bei meinem ersten und letzten Aufenthalt in dem Schwimmbecken habe ich die anderen Patienten, die sich dort aufgehalten haben, ständig mit Wasser bespritzt und beschimpft, so dass auch das dortige Personal beschlossen hat, dass es besser sei, ich würde in das andere Krankenhaus zurückverlegt werden, weil die da eine Kinderstation haben und ich dort besser untergebracht sei. Nachdem meine Eltern sich mit dieser Maßnahme einverstanden erklärt hatten, erfolgte also die Rückverlegung.

Mittlerweile war dort ein anderer Oberarzt ansässig, der seine Beobachtungen anders anstellte. Er meinte, dass ich wohl schwere psychische Auffälligkeiten habe, die auf Gehirnverletzungen beruhen, was natürlich genauer untersucht werden muss. Als meine Eltern das mitbekommen haben, waren sie sehr aufgebracht, da sie die feste Ansicht vertreten haben, dass ich allein durch ihre liebevolle Zuwendung wieder gesunden werde und sie vor allem nicht wollten, dass ich auf Grund von Mutmaßungen in die Psychiatrie komme. Sie haben denn auch erreicht, dass ich auf eine andere Kinderstation verlegt worden und dort nach kurzem Aufenthalt als so weit gesundet befunden worden bin, dass ich in die Obhut meiner Eltern entlassen werden kann.

Darüber habe ich mich sehr gefreut, da ich mit all den Ärzten, Schwestern, Pflegern und vor allem den anderen Patienten nichts zu tun haben wollte. Also kam ich wieder zu meinen Eltern nach Hause, wo ich nach Strich und Faden verwöhnt worden bin, was sehr zu meiner Gesundung beigetragen hat. Zu meinen Eltern war ich nun etwas freundlicher als während der Zeit in den Krankenhäusern, doch hat das mit der Schimpferei und Aggressivität nicht aufgehört.

Nach einiger Zeit bin ich dann in die Volksschule zurückgekommen und hatte eine andere Lehrerin, die mich allerdings noch aus der Zeit vor meinem Unfall kannte. Sie war fest davon überzeugt, dass meine Genesung voranschreiten würde und wollte mich nicht zu sehr beanspruchen. Meine schulischen Leistungen sind in fast allen Fächern beinahe gleich Null gewesen, doch hat diese Lehrerin mir keine schlechtere Note als 4 in mein Zeugnis geschrieben. Da muss es wohl Absprachen mit der Schulleitung gegeben haben, das ist mir jedoch nicht bekannt. In der Folgeklasse dann hatte ich eine andere Lehrerin, die mich entsprechend meiner Leistungen bewertet hat, so dass ich prompt sitzen geblieben bin. Noch vor der Hälfte des zu wiederholenden Schuljahres hat sich diese Lehrerin dann eingehend mit meinen Eltern über mich und meine Leistungen unterhalten und vorgeschlagen, mich auf eine Privatschule zu schicken, da man dort nachsichtiger sei.

Meine Eltern hatten sich dann für eine private Wirtschaftsschule in München entschieden. Privatschulen haben es so an sich, dass Kinder dort nur gegen Bezahlung aufgenommen und unterrichtet werden. Meine Eltern haben jedoch immer an mich geglaubt und mich über alles geliebt, so dass sie nun auf viele Annehmlichkeiten verzichteten, um das Schulgeld zahlen zu können. Zumal meine berufliche Zukunft durch den Besuch einer Wirtschaftsschule ja bestens fundiert sein werde.

Aufgenommen worden bin ich von den Lehrkräften zwar freundlich, von meinen Mitschülern jedoch nicht. Von Anfang an wurde ich ausgegrenzt und beschimpft, was bei mir , da ich im Laufe der Zeit schon ruhiger geworden war, beinahe einen Rückfall in die extreme Aggressivität zur Folge gehabt hat. Das war jedoch nicht der Fall, da diese nun in Selbstmitleid umgeschlagen ist. Ich stellte mich und mein Dasein in Frage und war davon überzeugt, dass ich eine einzige Fehlfunktion bin. Als ein paar Jungs aus der Klasse dann beschlossen, mich ab und an mal nach der Schule in die Tiefgarage des Schulgebäudes zu zerren und mich dort zu verprügeln, habe ich mich auch nicht zur Wehr gesetzt, obwohl es mir an körperlicher Kraft nicht gemangelt hat. Eines Tages jedoch habe ich ein gutes Gegenmittel gefunden – ich habe mich mit einem der Schwächeren aus dieser Clique angefreundet, indem ich ihm ständig nach dem Mund geredet und keine Gelegenheit ausgelassen habe, ihm meine Demut ihm gegenüber zu zeigen. Eines Tages dann durfte ich ihn auf dem Heimweg begleiten. Ein Stück von der Schule weg gab es eine Telefonzelle. Er wollte seine Mutter anrufen, um ihr zu sagen, dass wir schon eine Stunde früher als sonst aushatten, weil ein Lehrer erkrankt ist. Also hat er die Telefonzelle betreten und die Münzen aus der Tasche geholt. Da hatte ich mich jedoch schon zu ihm in die Telefonzelle gequetscht und habe ihn so sehr verprügelt, dass er am nächsten Tag nicht zum Unterricht erschienen ist. Tags darauf kam er dann – ich wurde nicht mehr zusammengeschlagen und auch nicht mehr beschimpft. In die Clique wurde ich trotzdem nicht aufgenommen, weil ich für den Rest der Klasse schlichtweg nicht mehr existierte. Zum Glück waren meine schulischen Leistungen schlecht genug, als dass ich wiederum sitzengeblieben bin. In der neuen Klasse bin ich bereits am ersten Tag mit ablehnender und angriffsbereiter Haltung aufgetreten, was ein Fehler gewesen ist, wie sich alsbald herausstellen sollte. In dieser Klasse gab es nämlich keine Clique gewaltfreudiger Jugendlicher. Es hat also einige Zeit gedauert, bis ich wenigstens halbwegs in die Klassengemeinschaft aufgenommen worden bin. Freunde bzw. Freundinnen habe ich jedoch keine gewonnen – zwar erkannten die anderen mir meine Existenzberechtigung zu, doch ging nichts über einen freundlichen, aber reservierten Umgang während der Schulstunden hinaus. Ich war allein. Wenn ich heimkam, war ich entweder geladen oder depressiv, so dass meine Eltern unter meinen jeweiligen Stimmungen sehr zu leiden hatten. Meinen Eltern rechne ich es heute noch sehr hoch an, dass sie sich, egal, wie ich mich verhielt, niemals von mir abgewendet haben. Mir nie das Gefühl gegeben haben, allein und ohne Unterstützung zu sein.

Im Sommer 1981 war ich im Englischen Garten in München. Dort habe ich mich oft aufgehalten – am liebsten in der Gegend rund um den Monopteros. Da habe ich mich dann auf die Wiese gesetzt und andere Leute beobachtet. Die habe ich dann immer darum beneidet, dass es ihnen so gut geht und sie so zufrieden sind. Selten war da jemand allein, meistens haben sie im Kreis zusammengesessen, Gitarre gespielt, Ball gespielt oder anderes gemacht. Ich hatte mir auf dem Weg hierher im Supermarkt eine Flasche Bier gekauft und diese mitgenommen. So saß ich also auf der Wiese und habe mein Bier getrunken. Ganz plötzlich wurde mir schummrig – unter Alkoholeinfluss eigentlich nicht ungewöhnlich, doch war es eine andere Art von Benommenheit. Mir wurde ein wenig schwindlig und ein komisches Gefühl stieg vom Magen nach oben. Dann wollte ich etwas sagen – zu niemandem, da ich ja alleine saß, doch wollte ich unbedingt etwas sagen und machte den Mund auf. Meine Zunge wölbte sich nach oben an den Gaumen und ich brachte nur komische Würgelaute hervor. Dann verkrampfte sich mein rechter Arm, an der Schulter beginnend. Der Arm zuckte dann nach oben, mein Kopf drehte sich nach rechts – ohne mein Zutun. Alle Muskeln verkrampften sich. Mein Kopf zuckte, blieb aber rechts. Ich sah meinen Arm zucken und spürte die Verkrampfungen, konnte aber nichts dagegen tun. Ich hatte gerade meinen ersten epileptischen Anfall.

Einige Leute haben mich wohl angeschaut, doch hat sich vermutlich niemand etwas dabei gedacht – bis dann eine junge Frau zu mir gekommen ist und mich angesprochen hat. Natürlich konnte ich ihr nicht antworten, obwohl ich nichts lieber tun wollte, als etwas zu sagen. Die Frau erkannte, dass ich wohl einen Anfall hatte und blieb bei mir. Nach einer gefühlten Ewigkeit, die in Wirklichkeit wohl nur wenige Minuten gedauert hat, lösten sich die Krämpfe dann und ich sackte entkräftet in mich zusammen. Viel später bin ich dann aufgewacht – die Frau war noch immer bei mir und hat mich wiederum angesprochen. Es dauerte einige Zeit, bis ich ihr brabbelnd und wahrscheinlich kaum verständlich geantwortet habe. Irgendwie hat sie es dann geschafft, mir aufzuhelfen und mich auf sie zu stützen. Ich musste ihr wohl gesagt haben, wo ich wohne, denn sie hat mich zu Fuß nach Hause gebracht. Meine Eltern haben erstaunlich gefasst auf das reagiert, was ihnen die Frau erzählt hat und mich sofort ins Bett gebracht, wo ich dann auch gleich eingeschlafen bin. Wie ich hinterher erfahren habe, war die junge Frau Medizinstudentin, doch hat sie weder ihren Namen noch ihre Adresse oder gar Telefonnummer hinterlassen, so dass keine Kontaktaufnahme möglich gewesen ist – etwa, um mich bei ihr zu bedanken, was meine Eltern wohl schon getan hatten.

Im Anschluss daran – ich blieb der Schule entschuldigt einige Tage fern – sind meine Eltern mit mir zu einem Psychiater gefahren. Dem wurde ich vorgestellt, woraufhin er seine Diagnose gestellt hat: das, was ich im Englischen Garten gehabt hatte, war ein sog. „Jackson-Anfall“, der nach dem Erstbeschreiber John Hughlins Jackson benannt ist, welcher 1835 bis 1911 gelebt hat. Diese Anfallsart ist dadurch gekennzeichnet, dass keine Bewusstlosigkeit eintritt und der Anfall von der davon betroffenen Person also hilflos miterlebt wird.

Im Anschluss an diese Diagnose erfolgten vielerlei Untersuchungen – EEGs, Sehtests und anderes mehr, nachdem vermutet wurde, dass ich bei meinem Unfall wohl auch eine Verletzung des Gehirns gehabt habe, die durch das Eintreten bestimmter Reizwirkungen (wie z. B. Alkohol) aufgebrochen ist. Diese Annahme konnte durch die Untersuchungen zwar nicht bestätigt werden, doch bekam ich Medikamente gegen Epilepsie, sog. Neuroleptika, verschrieben, die ich mehrmals täglich einnehmen musste. Begleitet wurde das ganze durch regelmäßige Arztbesuche, die jeweils nicht nur mit Fragestellungen nach meinem Befinden, sondern auch mit Blutentnahmen für Serumspiegel und EEGs verbunden gewesen sind.

Nach einigen Wochen bekam ich den nächsten Anfall. Diesmal allerdings zu Hause – meine Eltern haben genau richtig darauf reagiert und um mich herum alles weggeräumt, woran ich mich verletzen könnte. Sie haben mich beobachtet, aber nicht versucht, meine Verkrampfungen durch Festhalten oder andere Maßnahmen zu unterdrücken. Da während eines Anfalls Speichel aus dem Mund gepresst wird, wegen der hochwölbten Zunge jedoch nicht frei abfließen kann, bildet sich Schaum vor dem Mund, den meine Eltern mit einem Handtuch abgewischt haben. Sie haben mir gut zugeredet und abgewartet. Im Anschluss daran haben sie mich ins Bett gebracht.

Wiederum einige Wochen später bekam ich schon wieder einen „Jackson-Anfall“ - bei diesem war ich jedoch in der Schule im Unterricht. Dort wusste man sich überhaupt nicht zu helfen und hat gleich einen Notarzt gerufen. Bei seinem Eintreffen war der Anfall schon lange vorüber und ich total entkräftet. Trotzdem bekam ich ein krampflösendes Serum intravenös gespritzt und wurde vom Notarzt mitgenommen. Da das Serum gleichzeitig einschläfernd wirkt, bin ich Stunden später in einem Bett in der Aufnahmestation eines Krankenhauses aufgewacht und wusste nicht, was mit mir los ist. Ich hatte furchtbare Kopfschmerzen und habe geweint – eine Schwester kam an mein Bett und redete mit mir, versuchte mich zu beruhigen und versicherte mir, dass sie sofort meine Eltern zu mir schicken würde – die saßen im Warteraum, weil sie nicht in der Aufnahmestation bleiben durften. Sie brachten mich dann nach Hause. Wiederum fehlte ich einige Tage in der Schule.

Die nächsten Anfälle, wiederum im Abstand von einigen Wochen, waren dann allerdings keine „Jackson-Anfälle“ mehr, sondern „Grand-Mal-Anfälle“. Diese sind von einem Sturz und Bewusstlosigkeit gekennzeichnet. Der Psychiater schickte mich zu einem Neurologen, der wiederum meine Medikation änderte, was aber auch nichts bringen sollte.

Also dachte ich mir, dass ich eine Selbsthilfegruppe aufsuchen werde, die mir der Neurologe empfohlen hatte. Es war eine Riesenenttäuschung, die mich keinen Schritt weitergebracht hat – da waren nur Menschen, die am Tag etwa 20 Tabletten einnehmen mussten und zum Teil so viele Anfälle hatten, dass sie keinem Beruf nachgehen konnten. Das hat mein Bewusstsein, ein „Kranker“ zu sein, nur noch verstärkt. Außerdem war ich von meiner Hilf- und Hoffnungslosigkeit jetzt erst recht überzeugt.

Meinen bislang schlimmsten Anfall hatte ich dann in einer Münchner U-Bahn – am Marienplatz hat der Zug gehalten und ich habe den Fahrplan gehörig durcheinandergebracht, weil der herbeigerufene Notarzt mit der Behandlung noch in der U-Bahn begonnen und mich dann an die Oberfläche zum Notarztwagen transportiert hat. Diesmal kam ich in ein anderes Krankenhaus, wo beschlossen wurde, mich 4 Wochen zur Beobachtung im Haus zu behalten. In diesen 4 Wochen musste ich diverse Medikamente nehmen, wurde täglich mehrmals untersucht und habe mich ansonsten furchtbar gelangweilt. Mein Heimweh war nicht mehr so stark, doch kam ich mir im Krankenhaus völlig fehl am Platze vor, weil ich mich gesund fühlte. Gesund unter lauter Kranken. Das passt nicht zusammen.

Im Anschluss an diese 4 Wochen folgte wiederum ein Arztwechsel auf Empfehlung der Ärzte hin. Mit dem anderen Arzt bekam ich auch eine andere Medikation. Pro Woche war nun ein Arztbesuch angesagt, nach einiger Zeit war es alle zwei Wochen, schließlich alle vier Wochen.
Nebenher bin ich selbstverständlich meiner Schulpflicht nachgekommen und meine Leistungen hatten sich sehr verbessert – die Abschlussprüfung habe ich dann zwar nur mit Ach und Krach, aber trotzdem bestanden.

Die zeitlichen Abstände zwischen den Anfallsereignissen hatten sich , wohl auf Grund der umgestellten Medikation nun verlängert, doch kamen sie immer wieder. Von den bekannten Reizfaktoren, wie z. B. Alkohol, schnelle Hell-Dunkel-Lichtwechsel, wenig Schlaf, Stresssituationen, schnelle Kopfbewegungen (Karussellfahren, Achterbahnfahren, Schaukeln etc.), hatte ich mich im Bewusstsein der von ihnen ausgehenden Gefahren eh schon vollkommen abgewendet, doch waren all meine Vorsichtsmaßnahmen nicht ausreichend, der Epilepsie vollkommenen Einhalt zu gebieten.

Nachdem ich in den Jahren seit dem tragischen Unfall mich zwar nicht zu den als selbstverständlich empfundenen Erfolgen der Zeit davor weiterentwickeln konnte, mich geistig jedoch mehr und mehr in den Griff und unter Kontrolle bekam, fielen mir die alltäglichen Verrichtungen nun auch nicht mehr so schwer. Damit einher ging auch die Einsicht, dass ich mich nicht selbst ausgrenzen, mich als „Sonderling“ empfinden darf. Schließlich ist die Mehrzahl der Menschen nicht von meinem Schicksal betroffen und bringt wohl auch kein oder nur wenig Verständnis dafür auf. Da ich aber nicht allein auf dieser Welt und vor allem Bestandteil dieser sog. „Gesellschaft“ bin, die mit in erster Linie durch diverse Medien aufgezwungenen Meinungen über Wohl oder Übel einzelner Menschen entscheidet, verblieb mir kein anderer Ausweg, als mich ungeachtet meiner Epilepsie so weit wie irgend möglich zu integrieren. Also keinen Sonderstatus für mich beanspruchen zu wollen, den ich eh nicht bekommen würde. Zwar gibt es die Erkenntnis, dass eine Kette immer nur so stark wie ihr schwächstes Glied ist, doch gilt das nicht für die „Gesetze“ der „Gesellschaft“. Diese ist gnadenlos und nur auf Erfolg in der Art ausgerichtet, wie die Medien ihn jeweils präsentieren.

So besann ich mich also auch darauf, dass ich mir eine existenzielle Grundlage schaffen muss, nachdem ich ja nun schon den Abschluss der privaten Wirtschaftsschule bewerkstelligt hatte und der Besuch dieser Schule ja nicht nur meinem Zeitvertreib gedient hatte. Zwar schreckte ich davor zurück, bei diversen Arbeitgebern um eine Arbeitsstelle auf Grund meiner vorliegenden Qualifikation, nämlich diesem Schulabschluss, wegen einer geeigneten Stellung vorsprechen zu müssen, doch hatte ich schon so viele Hürden genommen, dass ich das wohl auch noch hinkriegen sollte.

Da ich ja noch immer bei meinen Eltern wohnten und diese nicht viel weniger als zuvor Hauptbestandteil meines Lebens waren, bezog ich sie natürlich auch in diese aktuelle Sorge mit ein. Mein Vater und meine Mutter hatten sich über meine Berufswahl auch schon ihre Gedanken gemacht und meinten, dass es für mich wohl am besten sei, nicht gleich nach den Sternen zu greifen, da diese viel zu weit entfernt seien. Lieber Schritt für Schritt eine Grundlage aufbauen, von der aus die Entfernung zu den Sternen dann nicht mehr ganz so weit ist. Wohl war ich meinen Eltern einerseits sehr dankbar für diese Unterstützung, doch erkannte ich auch, dass es an der Zeit ist, mich auf meine eigenen Beine zu stellen und eigene Entscheidungen für mein Leben zu treffen. Der Loslösungsprozess vom Elternhaus sozusagen.

Das war ein sehr schwerer Entschluss, weil meine Eltern mir in der Vergangenheit so viel geholfen hatten, mir Wege geebnet hatten, die zu gehen mir ohne ihre Hilfe nicht möglich gewesen wäre. Weil sie mir so viel gegeben und beigebracht hatten und ich sie nun nicht enttäuschen wollte. Um mir Klarheit über mein Vorhaben zu verschaffen, ging ich in diverse Buchhandlungen und suchte mir Bücher, in denen etwas zu dieser Thematik stand. Gefunden habe ich zu viel, mir aber doch das eine oder andere herausgesucht. Zumeist handelte es sich um Erfahrungsberichte sowohl von Eltern als auch denen, die diesen Loslösungsprozess hinter sich gebracht hatten. Auch waren Ratgeber von Psychologen dabei. Die Quintessenz zeigte mir, dass dies absolut notwendig ist, es aber von der Art und Weise der Umsetzung abhängt, in wie weit beide Parteien, also die Eltern auf der einen, der junge Erwachsene auf der anderen Seite, dies möglichst unbeschadet überstehen. Also so, dass sich dabei niemand als Verlierer fühlt. So, dass mehr oder weniger ein Arrangement getroffen wird, mit dem alle einverstanden sind.

Nun wich ich davon ab, den Rest meines Lebens als Egoist im negativen Sinne verbringen zu wollen, um eine radikale Umkehr herbei zu führen, und beschloss, meinen Eltern das in langen und entspannten Gesprächen näher zu bringen. Sie wissen zu lassen, welche Bedürfnisse ich habe und in wie weit ich es für notwendig halte, meine eigenen Entscheidungen zu treffen, sie allerdings trotzdem um Rat fragen kann, wenn ich auf unerwartete Schwierigkeiten stoße. Da ich in der Vergangenheit immer einen unbegrenzten Vertrauensvorschuss erfahren hatte, sollte das auch zu machen sein.

Aus einer Quelle, die mir entfallen ist, habe ich einmal erfahren, dass Hoffnung etwas für Verlierer ist, für Menschen, die keine Erwartungshaltung haben. Klingt brachial, stimmt aber. Wer fest darauf vertraut, dass dies oder jenes eintreffen wird, hat die größeren Erfolgsaussichten, weil er den Glauben an die eigenen Fähigkeiten nicht verloren hat.

Das sollte sich auch bei meinem Vorhaben bewahrheiten – meine Eltern waren sehr verständig und sagten mir ihre volle Unterstützung in jeder Hinsicht zu, so ich diese denn von mir aus in Anspruch nehmen wolle. Sie befürworteten meinen Entschluss sogar ausdrücklich, da ich damit zeigte, dass ich von mir überzeugt bin. Dass ich davon überzeugt bin, ein Ziel als solches zu erkennen und zu wissen, dass es gewissen Aufwandes bedarf, es zu erreichen.

So fing ich also an, zu versuchen, zwischen meinem Schulabschluss und einer beruflichen Karriere eine Verbindung herzustellen. Das fiel mir angesichts der seinerzeit schlechten Lage des Arbeitsmarktes zwar schwer, doch wollte ich es auf jeden Fall probieren.

Diese Bemühungen wurden leider wieder durch einen Grand-Mal-Anfall unterbrochen, der mich für einige Zeit wieder vollkommen außer Gefecht gesetzt hat – dazu möchte ich hier bemerken, dass ich Anfälle nie als wirklich schlecht empfunden habe. Eher das Gegenteil war der Fall. Zwar besteht bei jedem Anfall die Möglichkeit, dass er den Tod zur Folge hat, doch ist die paroxysmale (= anfallsartige) synchrone (= gleichzeitige) Entladung von Neuronengruppen im Gehirn im Endeffekt nichts anderes als eine Art Druckabbau. Also damit zu vergleichen, wenn eine Wohnung durch das weite Öffnen aller Fenster durchlüftet wird. Kurz nach der Wiedererlangung des vollen Bewusstseins nach einem Anfallsereignis fühlte ich mich stets so, als würde ich ein Stück über dem Boden schweben. Erleichtert, befreit von Lasten, die sich im Laufe der Zeit auf mich gelegt und mein Allgemeinbefinden beschwert hatten. Die mit starken Kopfschmerzen einhergehende Mattigkeit beruht dann darauf, dass ja sämtliche Muskeln extrem verkrampft gewesen sind und ob dieser ungewöhnlichen Anstrengung zunächst einer Erholungsphase bedürfen.

Das war der letzte Termin, den ich bei meinem derzeitigen Neurologen haben sollte – er stand kurz davor, eine Privatpraxis zu eröffnen, in der keine Kassenpatienten mehr behandelt werden. So machte ich mich also auf die Suche nach einem passenden Ersatz, da ich ja regelmäßiger Untersuchungen und meinen Medikamenten bedurfte. Da ich ja nun Herr meiner eigenen Entscheidungen sein wollte, nahm ich mir ein Telefonbuch und startete dort meine Suche. Bislang hatte ich Neurologen, also Männer, denen ich die Verantwortung für meine Heilung überlassen hatte. Auf Grund der Erfahrungen, die ich im allgemeinen mit Frauen gemacht hatte, sollte es nun eine Neurologin sein, da sie meiner Meinung nach weniger nach Lehrbüchern, als auch sehr nach ihrem Gefühl entscheiden würde. Zu meinem Glück wurde ich auch gleich fündig – es handelte sich dabei um eine Neurologin, deren Praxis in der Münchner Innenstadt ist. Also in gut erreichbarer Nähe. Tags darauf rief ich dort an und bekam auch gleich einen ersten Termin, worüber ich mich sehr freute. In mein „Vorstellungsgespräch“ brachte ich meine bisherige Krankheitsgeschichte und die gemachten Erfahrungen mit Ärzten ein. Sie forderte daraufhin meine Krankenakte an, wozu ich noch eine Erklärung unterschreiben musste, mit welcher ich eine Entbindung von der ärztlichen Schweigepflicht bezüglich meiner Daten bestätigte. Bei meinem nächsten Termin hatte sich die Neurologin durch Studium meiner Akten gut vorbereitet und fragte mich, ob ich denn einen Schwerbehindertenstatus hätte. Warum sollte ich? Ich bin doch kein Schwerbehinderter...! Sie war da jedoch ganz anderer Meinung und zeigte mir auch die Gesetzestexte dazu, welche im Sozialgesetzbuch enthalten sind. Nach der Häufigkeit meiner Anfälle zu urteilen gehöre ich zur Gruppe der Schwerbehinderten, weshalb sie wegen der Überprüfung und Erstellung eines Schwerbehindertenausweises ihre ärztliche Stellungnahme mit meinem Einverständnis an das Versorgungsamt schicken werde. Da die Neurologin einen sehr wohlüberlegten und vernünftigen Eindruck bei mir erweckte, gab ich ihr meine schriftliche Zustimmung, die sie zu meinen Akten genommen hat.

Wenige Wochen später bekam ich Post vom Versorgungsamt mit der Mitteilung, dass sie um Zusendung eines Lichtbildes für den Ausweis bitten, den ich dann umgehend zugesendet bekomme. Der Grad meiner Schwerbehinderung betrifft als Resultat der Überprüfungen meines Gesundheitszustandes 60 %. Das war eine vollkommen neue Erfahrung für mich – ich, der ich so an meine Stärken zu glauben begonnen hatte, war nun ein Schwerbehinderter. Jemand, der anderen Menschen gegenüber benachteiligt ist. Jemand, der ganz offiziell beurkundeter Schwächling ist. Das passte nicht in mein Selbstbild. Dann jedoch besann ich mich darauf, dass das ja nicht meine Entscheidung beim Blick in den Spiegel im Badezimmer gewesen ist, sondern die, welche mein Gesundheitszustand zunächst bei der Neurologin und danach beim Versorgungsamt nach Prüfung der gesetzlichen Anspruchsgrundlagen ausgelöst hatte. Also war dieser für mich neue und noch unbekannte Status auch kein Zeichen von Schwäche, sondern lediglich der amtlich beurkundete Ausdruck dessen, dass ich gesundheitliche Einschränkungen habe. Zwar haderte ich mit „gesundheitlichen Einschränkungen“, da diese Umschreibung sehr wohl dazu geeignet ist, wiederholte Selbstzweifel aufkommen zu lassen, doch lief ich da keine Gefahr, da ich diesen Zustand als gegeben hinzunehmen vermochte. Mein neues Selbstverständnis, welches mir auch künftig sehr dabei helfen sollte, mein Leben zu meistern.

So entdeckte ich in einem Stadtteilanzeiger, der allwöchentlich in unserem Hausbriefkasten vorzufinden war, denn auch die Anzeige einer großen Buchhandlung in der Stadtmitte, dass ein Auszubildender für die Position eines Einkäufers gesucht wird. Das habe ich als Wink angesehen, mich dort umgehend zu erkundigen – könnte ja sein, dass damit meine Suche nach einem Arbeitsplatz beendet ist. Mein Anruf hat denn auch gleich einen Termin für ein Vorstellungsgespräch ergeben, zu dem ich mein Abschlusszeugnis und einen schriftlichen Lebenslauf mitbringen sollte. Das Glück sollte mir hold sein und ich bekam den Ausbildungsplatz. Das Anfangsgehalt war zwar nicht so umwerfend hoch, doch konnte ich ja noch auf den finanziellen Rückhalt durch meine Eltern vertrauen, so dies denn nötig sein sollte. Auch musste ich ja keine volle Wohnungsmiete zahlen und meine sonstigen Lebenshaltungskosten hielten sich in überschaubarem Umfang, da ich ein sehr häuslicher und sparsamer Mensch bin. Zu der Zeit habe ich auch noch keinen PC besessen, da ich mir ohne diesem technischen Hilfsmittel Informationen jeglicher Art aus Büchern oder diversen Fachzeitschriften geholt habe. Das sollte sich bereits kurze Zeit nach dem Antritt meiner Stelle als Auszubildender bei der Buchhandlung ändern, da ein Großteil meiner Arbeit nur über den dortigen PC zu machen ist. Einen Lehrgang dafür bezahlte mein Arbeitgeber, was mir sehr entgegengekommen ist. Um auch privat üben zu können, kaufte ich mir einen PC und die gängige Literatur dazu. Meinen Eltern kam dies auch sehr gelegen, so dass wir gemeinsam damit geübt und die uneingeschränkten Informationsmöglichkeiten des Internet für uns entdeckt haben. Mittlerweile haben sie sich auch einen PC gekauft... Meinem Vater erleichtert das seinen Arbeitsablauf um vieles, da er die Auftragsabwicklung nun auf diesem Wege erledigen und seine beruflichen Fähigkeiten nun über seine Website anbieten kann, was die Auftragslage sehr verbessert hat.

Da ich ja ausreichend Gelegenheit dazu hatte, mir meine Energie und Durchsetzungskraft zu beweisen, führte das dazu, um einiges ausgeglichener zu werden und meine gehäuft aufgetretenen Selbstzweifel beinahe gänzlich zu überwinden. Vorhaben – Planung – Durchführung – Erfolgserlebnis. Meistens waren es diese vier Schritte. Daran hätte ich nicht geglaubt, wäre es mir vor einem Jahr prophezeit worden. Wie ich überhaupt so vieles nicht glaube, was mittlerweile Realität geworden ist. Das soll auch nicht bedeuten, dass ich nur Erfolgserlebnisse habe. Keineswegs. Doch schaffe ich es, auch Fehlschläge als Erfolge zu werten, da diese mir Schwachpunkte aufzeigen, die ich künftig berücksichtigen und somit ausschließen werde.

Meine Neurologin suchte ich mittlerweile nur noch einmal pro Quartal auf, also alle drei Monate. Dabei berichtete ich ihr jeweils in Kurzform über meine Fortschritte und das Ausbleiben von Anfällen – sie änderte meine Medikation. Das lag allerdings auch darin begründet, dass ich ihr über aufgetretene Erscheinungen (Haarausfall und Zahnfleischschwund) berichtete, die ich als sehr störend empfand. Sie meinte, dass das einige von vielen möglichen Nebenwirkungen der Medikamente seien, die ich nunmehr seit Jahren in unveränderter Form verordnet bekommen habe, weshalb die Umstellung auf andere Präparate notwendig sei. Die Umstellung sollte ganz langsam erfolgen, wozu sie mir einen genauen Einnahmeplan gab, nach dem ich die Tabletten morgens und abends einnehmen müsse.

So blieb ich insgesamt drei Jahre vollständig frei von Krampfanfällen. Während dieser Zeit lernte ich auch meine jetzige Ehefrau kennen – sie war Kundin in der großen Buchhandlung und hatte sich mit ihrem Bücherwunsch an mich gewandt, der ich gerade auf dem Weg in mein Büro auf der gleichen Etage gewesen bin. Daraus entwickelte sich ein Beratungsgespräch – bereits einige Tage später sahen wir uns wieder, wobei sie mir freudestrahlend erzählte, wie fesselnd sie das Buch fand und wie schnell sie es durchgelesen habe. Dass es wirklich eine tolle Empfehlung von mir gewesen ist. So besuchte sie diese Filiale immer häufiger, bis wir eines Tages im Anschluss an meine Arbeitszeit in ein Café gegangen sind. Das wiederholte sich dann zunächst in wöchentlichem und bald in täglichem Turnus, bis wir uns näher gekommen sind. Das hatte dann auch zur Folge, dass ich bei ihr eingezogen bin – sie hatte eine geräumige Wohnung in Schwabing, also auch in sehr zentraler Lage. Das Zimmer in der Wohnung meiner Eltern blieb im vorherigen Zustand, so dass ich bei Bedarf auch dort wohnen konnte. Ein wirklich paradiesisches Leben, welches ich führte.

Da meine Lebensgefährtin noch keine Erfahrungen mit Epilesie hatte, klärte ich sie darüber auf – vor allem über die zu ergreifenden Hilfemaßnahmen, falls ich in ihrem Beisein einen Anfall bekommen sollte. So dürfe sie nicht versuchen, mich festzuhalten oder meine Bewegungen in irgendeiner Form einzuschränken. Sie müsse lediglich Sorge dafür tragen, dass ich mich durch meine Zuckungen nicht an Hindernissen verletzen könnte und das Anfallsgeschehen genau beobachten. Sollte es eine Dauer von fünf Minuten überschreiten, müsse sie unter 112 den Feuerwehr-Notarzt anrufen. Doch erst nach fünf Minuten, da dann die Gefahr eines Status epilepticus gegeben ist, der auf jeden Fall von einem Notarzt unterbrochen werden muss, um schwerwiegende Schädigungen meiner Gesundheit ausschließen zu können. Sandra zeigte sich sehr verständig und machte sich Notizen für den Notfall.

Dieser trat dann auch wenig später ein – das Anfallsereignis kam mitten in der Nacht, während des Schlafs. Sandra hatte sich wegen meiner Aufklärung so weit unter Kontrolle, dass sie nicht in Panik verfiel, sondern hielt sich genau an die ihr von mir beschriebenen Maßnahmen und deren Abfolge. Leider überschritt der Anfall tatsächlich die fünf Minuten und machte es notwendig, den Notarzt zu rufen. Bis zu seinem Eintreffen verging nur wenig Zeit, da in geringer Entfernung das Klinikum Schwabing und somit nur ein kurzer Anfahrtsweg ist. Die Unterbrechung des Anfalls erfolgte durch intravenöse Injektion eines krampflösenden Serums, welches dann auch umgehend seine Wirkung entfaltet. Sandra erzählte dem Notarzt, wie lange und in welcher Häufigkeit ich Krampfanfälle bekomme, so dass er erkannte, dass es nicht notwendig ist, mich mitzunehmen, da Sandra den Eindruck erweckte, dass sie sehr wohl in der Lage dazu ist, sich dementsprechend um mich zu kümmern.

Weil ich Sandra so unendlich dankbar dafür gewesen bin, habe ich sie einige Tage später zum Abendessen in einem der teuersten Restaurants in München eingeladen.
Meinen Arbeitgeber hatte ich bereits bei meiner Einstellung über meine Epilepsie in Kenntnis gesetzt, so dass ich mit meinem eintägigen Fernbleiben vom Arbeitsplatz auf vollstes Verständnis gestoßen bin.

Ein Jahr danach haben Sandra und ich geheiratet. Nun steht auf dem Klingelschild also „Moritz und Sandra Jäger“, der Eintrag im neuen Telefonbuch wird dem entsprechen. Unsere Eltern sind nun auch noch glückliche Schwiegereltern und wir verbringen viele Wochenenden gemeinsam. Mittlerweile habe ich meine Ausbildungszeit mit Bravour hinter mich gebracht und habe nun eine ziemlich gut bezahlte Stellung als Einkäufer für den Raum Süddeutschland inne.

Dank der Menschen, die fest an mich geglaubt haben, war es mir möglich, ein ganz normales Leben aufzubauen, welches ich eigenständig und weitestgehend ohne fremde Hilfe führen kann.
Dafür gilt all jenen, welche sich nach diesem lebensbedrohlichen Unfall nicht von mir abgewandt haben, mein Dank.

Und all jenen, welche diese Aufzeichnungen lesen werden, möchte ich ans Herz legen, Verständnis zu zeigen, wenn ihnen jemand mit eingeschränkten Befähigungen gleich welcher Art begegnet und diesen Menschen nicht abwertend zu beurteilen. Jeden Moment kann jeden Menschen dieses oder ein schlimmeres Schicksal treffen. Wir leben in einer Gemeinschaft, die Zusammenhalt erfordert.

Impressum

Texte: alle Rechte bei Autor searched.and.found
Tag der Veröffentlichung: 01.11.2009

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
mein Dank all jenen Menschen, die mir durch ihre Erfahrungen sehr dabei geholfen haben, dieses Buch zu schreiben

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