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Dieses monotone Gepiepe – nervtötend und meinen wohlverdienten Schlaf beendend. Mich daran erinnernd, dass es an der Zeit ist, aufzustehen.
Aus mir unerfindlich erscheinenden Gründen, da dieser Tag sich von den anderen nur durch das Datum unter- scheidet. Das ist schon der einzige Anlass für mich, ihn willkommen zu heißen. Heute ist außerdem ein Festtag, das habe ich ja schon fast vergessen – vor genau einem Jahr (das habe ich extra mit gelbem Filzstift auf meinem Wandkalender notiert) habe ich eine Reise angetreten. Einen sehr langen Urlaub – Ruhestand.

Nach dem Frühstück und dem Blumengießen sehe ich auf meinem Wandkalender, dass heute wieder Blutdruck- messen ansteht. Das lasse ich immer in einer Apotheke machen – die sind da immer so freundlich und wollen auch kein Geld von mir. Noch dazu hole ich mir immer die Apotheken-Rundschau. Tageszeitungen sind mir zu teuer – bei der kleinen Rente. Am einfachsten wäre es, in die Apotheke im Nebenhaus zu gehen, aber das will ich nicht. Ich habe da meine Stammadresse in der Nähe meiner früheren Arbeitsstelle. Also mache ich mich stadtfein und auf den Weg. Vorher nochmal prüfen, ob ich auch alles richtig gemacht habe. Das habe ich mir extra aufge- schrieben, fein säuberlich auf einen Zettel. Der ist in einer Klarsichtfolie, damit er nicht schmutzig wird und hängt neben der Garderobe in der Diele, also gleich neben der Wohnungstür.
Frische Unterwäsche habe ich an – meine Mutter hat mir immer gesagt, ich muss jeden Tag meine Unterhose wechseln, falls mir was passiert und der Notarzt kommt. Saubere Strümpfe habe ich auch angezogen. Die Schuhe hatte ich noch am gestrigen Nachmittag mit Schuhcreme eingerieben und vor dem Zubettgehen poliert. Also auch in Ordnung. Eine saubere und gebügelte Hose hatte ich mir zuvor aus dem Kleider- schrank geholt. Das saubere und gebügelte Hemd mit Krawatte dazu. In meinem Kleider- schrank herrscht Ordnung – an der Stange hängen Hosen und Hemden mit dazugehörigen Krawatten jeweils nebeneinander. Für jeden Wochentag zwei Bügel. Ganz rechts hängen dann die Jacketts, von denen ich drei verschiedene habe. Die getragene Kleidung holt dann immer meine Wohnungsnachbarin am Freitag ab und wäscht sie mir. Eine Waschmaschine kann ich mir eh nicht leisten, weil die zu teuer sind. Das hält sie für selbst- verständlich, denn man muss sich ja schließlich behilflich sein. Dafür gebe ich ihr dann auch immer etwas Salz oder anderes zum Kochen, wenn sie mal bei mir klingelt und ihr das fehlt. So gleicht sich das wieder aus. Unter den Bügeln, also auf dem Schrankboden, liegen dann jeweils schön glatt aufeinander gelegt die frischen Strümpfe. Ich bin ja ein sehr reinlicher Mensch und wurde sehr streng erzogen. Gefrühstückt habe ich auch, meine Blutdrucktabletten und die Herztropfen habe ich auf Vorrat in der Innentasche meines Jacketts. Den Schlüsselbund habe ich sicher in der Hand, also kann es jetzt ja losgehen – nicht vergessen, zwei mal von außen abzusperren, weil die Hausrat- versicherung sonst bei einem Einbruch nichts zahlt. Hat mir mein Enkel Tobias gesagt. Ein sehr netter junger Mann. Hat auch eine adrette und sehr sympathische Freundin. Wäre mir nur recht, wenn sie bald heiraten würden, weil sie ein wirklich kluger Mensch ist – studiert auch an der Universität. Fast hätte ich meinen Gehstock vergessen – eigentlich brauche ich ihn ja nur selten, doch nehme ich ihn lieber immer mit, damit mir auch jeder mein Alter ansieht und mir einen Sitzplatz anbietet.

Mein Weg zur S-Bahn braucht seine Zeit. Ist zwar nur am Ende des nächsten Wohnblocks, also nicht weit weg, doch muss ich schön langsam und immer an der Hausmauer entlang gehen, um mich abstützen zu können. Im fort- geschrittenen Alter sind Schwindelanfälle an der Tagesordnung. Hat ja auch keiner gesagt, dass die Zeit nach dem Ruhestand ein Wunschkonzert sein wird, also nehme ich das in Kauf. Zu meinem Glück hat der S-Bahnhof auch einen Aufzug. Rolltreppen verabscheue ich, weil die viel zu schnell eingestellt sind. Bis ich da mal einen festen Stand auf einer Stufe habe, ist die schon einen Meter weiter gefahren und ich muss zusehen, dass ich mich am Laufband festklammern kann, um nicht hinzufallen. Das ist ja eh mein Albtraum – auf der Rolltreppe stürzen. Da kann einem auch keiner helfen, wenn man erst mal auf eine der Eisenstufen gefallen ist und sich was gebrochen hat. Zumal in meinem Alter ein Knochenbruch das Aus bedeuten kann – von meinem Enkel Tobias weiß ich, dass Knochen bei alten Menschen kaum noch zusammenwachsen. Ärzten ist das eh egal, weil in der Bundesrepublik Deutschland ja das Prinzip der Sozialverträglichkeit gilt. Also auch bei den Krankenkassen. Die zahlen da nichts mehr, wenn sie nicht müssen. Alte Menschen leben eh nicht mehr lange, also braucht man da auch nichts mehr zu investieren. Interessant wird es erst dann, wenn sie Pflegefälle sind – da müssen dann die Angehörigen ran, weil die Rente nicht ausreicht, um Zusatzversicherungen zahlen zu können. Aber trotzdem lebe ich gerne, weil ich gut auf mich aufpassen kann. Und dann gibt es noch Tobias und seine Freundin, meine Wohnungsnachbarin und die freundlichen Frauen in der Apotheke. Was will ich mehr? Die im Supermarkt kennen mich auch alle und sind mir immer behilflich – manchmal tragen sie mir auch die Einkäufe bis vor die Wohnungstür, was ich sehr nett finde. Alles unaufgefordert. Aber das geht nur, wenn genug Personal da ist. Eine der Geißeln der heutigen Zeit. Überall fehlt Personal. Trotzdem gibt es Arbeitssuchende. Komisch.

Das ist ja schön – der Aufzug ist schon da, also brauche ich nicht zu warten. Zeit hätte ich ja genug, doch will ich die nicht verschwenden. Manche Vorsätze verliert man nie. Im S-Bahn-Geschoss angelangt sehe ich auch, dass der Zug, mit dem ich fahren werde, schon angezeigt ist. Ein richtiger Glückstag heute. Wenig später fährt der Zug ein – wieder mal überfüllt, wie üblich. Da ich trotz meiner wegen der Arthrose und dem Rheuma gebeugten Haltung noch recht groß aussehe und ja meinen Gehstock mitgenommen habe, machen mir die Fahrgäste jedoch Platz und einer bietet mir seinen Sitzplatz an. Wie gesagt: ein Glückstag. Ich liebe das Fahren mit der S-Bahn. Habe ja eine verbilligte Jahreskarte zum Seniorentarif und verbringe oft ganze Tage nur mit Hin- und Herfahren. Von einer Endstation zur anderen. So sehe ich wenigstens noch was von der Welt. Und treffe manchmal auch sehr nette Menschen, mit denen ich mich dann unterhalten kann. Zwar nicht lange, weil die meistens gleich wieder aussteigen, aber immerhin. Meine heutige Fahrt dient aber nur dem Apothekenbesuch. Das sind nur ein paar Haltestellen. Jetzt leert sich der Zug zusehends, weil wir gerade im Stadtzentrum angelangt sind. Da steigen die meisten Leute aus. Und weil es noch nicht so spät ist, kommen nicht viele neue dazu, weil die meisten jetzt in ihren Büros sitzen. Meine Stammapotheke ist ein wenig außerhalb Münchens – damals war das schön, weil ich immer in die Arbeit geradelt bin. Da konnte ich das noch.
War immer eine schöne Fahrt – auf Schleichwegen durch die Innenstadt und dann auf Radwegen an der Isar entlang bis in einen Vorort von München. Da hatte mein Arbeit- geber eine Niederlassung. Ich habe die Buchhaltung gemacht. War nur eine kleine Zweigstelle, also auch nicht zu viel zu tun. Alles schön übersichtlich. Dementsprechend niedrig mein Gehalt und nun auch die Rente. Zum Leben reicht es gerade noch aus. Bin ja sehr anspruchslos. Brauche eigentlich nicht viel. Habe ja noch nicht einmal einen Fernseher. Nur einen PC, den mein Enkel Tobias mir zum Ruhestand geschenkt hat. Damit ich noch was erlebe, sozusagen. In der Arbeit hatte ich auch einen PC, doch war das ganz anders. Tobias hat mir das aber alles gezeigt. Tobias ist sehr geduldig, muss er bei mir auch sein. Doch jetzt kann ich schon ein bisschen selbständiger damit umgehen. Vieles vergesse ich zwar, aber dann reicht ein Anruf bei Tobias – er hat mir das am Telefon eingerichtet. Auf einer Taste hat er seine Telefonnummer gespeichert und mir die Taste mit einem Aufkleber markiert. Das steht dann alles auch auf einem Zettel, der neben dem Telefon auf dem Tisch in einer Klarsichtfolie festgeklebt ist. Muss ja alles seine Ordnung haben.

Wo bin ich jetzt eigentlich – ah, da auf der Anzeige steht ja die nächste Haltestelle: Siemenswerke. Hier ist auch der TÜV, da war ich mal in jungen Jahren, als ich noch ein Auto hatte. War sehr zuverlässig, aber dann doch zu repara- turanfällig. Habe es damals einem Arbeitskollegen verkauft. Der hatte Bekannte aus Rumänien – da schaut man nicht so auf den technischen Zustand. Hauptsache, es ist ein Auto und fährt. Die haben da wohl auch keine so strengen Kontrollen wie bei uns. Ich war nie in Rumänien, habe aber so das eine oder andere gehört. War mir auch egal, weil ich froh war, für das Auto wenigstens noch ein paar Hundert Mark – damals waren es noch Mark und keine Euro – zu bekommen. Fürs Verschrotten hätte ich ja was zahlen müssen. Was ist denn da vorne los? Wer macht da solchen Krach? Was stört da meine Erinnerungen an die Vergangenheit? Da stehen drei junge Männer und plärren rum. Wie üblich, ist ja so eine laute Zeit geworden. Die jungen Leute können ja nicht mehr normal miteinander reden. Ist ja auch kein Wunder, weil sie dauernd so laute Musik hören. Da wird man ja schwerhörig. Anstand haben die eh keinen mehr, weil sie den nicht von den Eltern anerzogen bekommen. Eltern kümmern sich ja nicht mehr um ihre Kinder. Lieber einen PC vor die Nase stellen und am besten noch ein paar Spieleprogramme dazu. Dann sind sie wenigstens beschäftigt und nörgeln nicht dauernd herum. Was sollen die Eltern auch machen – wenn beide arbeiten, um das Geld für den Haushalt und vor allem ihre Kinder zu verdienen, haben sie für Beschäftigung mit ihren Kindern keine Nerven und vor allem keine freie Zeit mehr. Ist ja verständlich. Alles wird immer schlimmer – na ja, ich bin raus. Ich habe jetzt meine Ruhe, bekomme meine Rente, bin niemandem Rechenschaft schuldig. Und ich habe ein geordnetes Leben, in dem ich alles plane, damit ich auch nichts vergesse. Nanu, jetzt wird es ja noch lauter. Was haben die denn? Jetzt steht da noch ein Mann dabei. Ob der zu denen gehört? Nein, er ist ja schon etwas älter und es sieht so aus, als hätte er Streit mit ihnen. Dass die sich nicht zurückhalten können. Da mischt man sich doch nicht ein, da schaut man doch weg. Da tut man doch am besten so, als würde man es nicht mitbekommen. Sind ja noch Jugendliche – ach nein, da sitzen ja auch Kinder dabei. Dann ist ja alles klar – die müssen ja laut sein. Können ja nicht anders. Was muss man sich da aufregen? Jetzt scheint etwas passiert zu sein, weil der Mann weggeht und die Jugendlichen auch. Und die Kinder plärren auch nicht mehr rum, sitzen eng beieinander und tuscheln wohl etwas. Ich kann das ja nicht hören, weil ich so weit weg von ihnen sitze. Kann mir auch egal sein. Andererseits ist es schon interessant – so viel Neues passiert ja nicht, also darf ich mir auch nichts entgehen lassen. Ist ja ganz unterhaltsam. Nächste Halt: Solln. Soll ja eine Frau sein, die die ganzen Haltestellen ansagt. Nein, die fährt ja nicht gleichzeitig in allen Zügen, Trams und Bussen mit – ist ja eine Ton- bandansage. Über die Frau habe ich mal was in der Apotheken-Rundschau gelesen. Stand mal ein Artikel drin. Steht überhaupt viel drin. Von Arthrose über Krampfadern bis zu Dritten Zähnen. Alles, was einen beschäftigt. Und manchmal eben auch Berichte über ganz allgemeine Belange. Wie eben die Frau mit der Stimme, die die Haltestellen ansagt. Der Mann und die Jugendlichen steigen aus. Vielleicht gehören die ja doch zusammen. Vielleicht ist der Mann ja ihr Lehrer. Oder ihr Ausbilder. Oder einfach ein Bekannter. Kenne die Leute ja nicht. Und schon geht es weiter mit der Fahrt. Auf der Anzeige steht zu lesen: Nächste Halt Großhesselohe Isartalbahnhof. Eine Station danach muss ich dann aussteigen, weil in Pullach die Apotheke ist. Das ist das schönste Stück der Strecke, wenn die S-Bahn über die Großhesseloher Brücke fährt. Darunter ist die Isar. Da habe ich einen schönen Ausblick bis nach München. Darüber freue ich mich jedes Mal wieder.

In Pullach wird es dann beschwerlich – da gibt es keinen Aufzug. Hier wohnen wohl keine älteren Menschen. Na, das kenne ich ja schon. Also schön langsam Schritt für Schritt die Treppe runter und immer eine Hand am Geländer. Bis zur Apotheke ist es ja nicht weit, dauert aber trotzdem seine Zeit. Frau Bauer ist heute auch da – das ist schön, weil die immer so freundlich zu mir ist. Die kenne ich auch schon seit vielen Jahren.
Das mit dem Blutdruckmessen hatte ich auch schon vor meinem Ruhestand, weil mein Herzleiden kurz nach meinem fünfzigsten Geburtstag angefangen hat. Nehme auch immer Tropfen dagegen ein – die, die ich für den Notfall in der Innentasche in meinem Jackett immer bei mir habe. Zusammen mit den Blutdrucktabletten. Habe ich aber noch nie gebraucht, weil es noch keinen Notfall gegeben hat. Passe ja auch immer so auf und bin immer vorsichtig. Muss ja alles seine Ordnung haben. Frau Bauer freut sich, dass ich mir wieder den weiten Weg gemacht habe und bietet mir ein Glas Wasser an nach der anstrengenden Fahrt. Das Angebot nehme ich dankend an und setze mich erstmal hin. Mein Herz rast ein wenig, was es aber immer tut, wenn ich nicht ruhig im Bett liege. Also auch nichts Neues. Man gewöhnt sich ja an alles. Nun hat Frau Bauer Zeit für mich. Schön. Wir unterhalten uns ein wenig über dies und jenes, während sie das Blutdruckmessgerät um mein Handgelenk legt – das ist auch eine der Errungenschaften der Neuzeit. Früher gab es das nur als Manschette, die um den Oberarm gelegt worden ist. Heute haben die da etwas, das sieht aus wie eines dieser Dinger, die sie manchmal in Science- Fiction-Filmen um das Handgelenk tragen. Die haben da ja so komisches Zeugs. Mein Blutdruck ist aber ganz normal, nichts Beunruhigendes. Also bedanke ich mich bei Frau Bauer, die mir noch ein Tütchen Pfeffer- minzpastillen mit auf den Weg gibt und mache mich auf den Weg zurück zum S-Bahnhof. Diesmal fällt mir das Treppensteigen auch nicht ganz so schwer. Liegt wohl an Frau Bauers Fürsorge mit dem Glas Wasser, dass ich so erfrischt bin. Ist schon eine wirklich nette Person. Und so anständig. Ihr Mann ist ja schon vor Jahren verstorben. Kehlkopfkrebs. Hat ziemlich lange leiden müssen, hat Frau Bauer mir damals erzählt. Sie leidet heute noch unter dem Verlust. Hat ja nun niemanden mehr, weil ihre Ehe kinderlos geblieben ist und ihre Geschwister nach Amerika gegangen sind. Hat sie mir erzählt. Ich weiß überhaupt ziemlich viel über Frau Bauer.

Kaum bin ich auf dem Bahnsteig angekommen, fährt auch schon die S-Bahn Richtung Innenstadt ein. Ist ja wirklich ein Glückstag heute. Ist auch schön leer im Zug, denn die Leute aus Wolfratshausen fahren nicht untertags nach München. Wozu auch? Die sind ja alle schon in der Arbeit. Heimfahren werden die meisten dann am späteren Nachmittag. Bis auf diejenigen, welche in Wolfratshausen oder im Umland ihren Arbeitsplatz haben. Eines Tages geht es denen so wie mir: da gehen sie in den Ruhestand. Den längsten und letzten Urlaub des Lebens. Nach etwa einer halben Stunde Fahrt bin ich dann wieder an der Reihe mit Aussteigen. Sind kaum Menschen unterwegs zu dieser Zeit, so dass ich auch keine Angst haben brauche, dass mich jemand anrempelt. Muss ja so aufpassen, dass ich nicht hinfalle. Wegen den Knochenbrüchen. Und dann erst das, was danach kommt. Notarzt, Fahrt ins Kranken- haus. Nein, lieber nicht daran denken. Beim Heimgehen schaue ich noch kurz in den türkischen Lebensmittelladen, der vor ein paar Wochen aufgemacht hat. Da gibt es immer so schön frisches Obst und Gemüse. Bin ja mal gespannt, ob da auch wieder frische Äpfel dabei sind. Die schmecken immer so gut. Nicht zu süß und nicht zu sauer. Sind auch nicht zu fest. Da gab es mal eine Zahnpasta, für die wurde immer Reklame gemacht mit einer Frau, die in einen grünen Apfel beißt, um zu zeigen, wie gut ihre Zähne sind. Nichts für mich. Heutzutage nicht mehr. Nur noch weiche Lebensmittel, weil ich mit meinen Dritten eh nicht mehr fest beißen oder gründlich kauen kann. So ist das eben. Mustafa begrüßt mich überschwenglich freundlich – mit Türken habe ich nur gute Erfahrungen gemacht. Sind so nette Menschen. Und so hilfsbereit. Die wissen noch, was Anstand ist. Und vor allem Respekt. Ganz anders als die Deutschen. Mustafa hat mich schon so oft in sein kleines Büro hinten im Geschäft gebeten und mir ein Glas Apfeltee gegeben. Trinken die ja dauernd. Ist ja auch viel gesünder als Bier. Oder diese Alkopops, die von jungen Menschen getrunken werden wie Wasser. „Alkopops“ - wer sich das wieder ausgedacht hat? Bestimmt kein Türke. Die haben ja ihren Apfeltee. Zum Abendessen werde ich dann wohl Milch im Topf aufwär- men und mir hinterher einen Teller Haferflockensuppe mit kleingeschnittenen Apfelschnitzen drin essen. Das macht dann auch schön müde. Vor dem Zubettgehen darf ich aber nicht vergessen, meine Dritten noch ins Wasserglas auf meinem Nachttisch zu tun – da ist irgendein Reinigungszeugs drin, das macht immer die Wohnungsnachbarin, die sich um solche Sachen kümmert, wenn ich unterwegs bin. Ist übrigens eine Kroatin. Kommt wohl aus Dubrovnik, wenn ich das nicht mit mit meinen Reiseerinnerungen durcheinanderbringe. Habe da nämlich mal zwei Wochen Urlaub gemacht. Ziemlich hektische Stadt. Aber ganz schön. Ist eine Pauschalreise mit einem Hotel am Stadtrand gewesen. Hatte drei Sterne und war sehr sauber und ordentlich eingerichtet. Das waren noch Zeiten. Doch wozu sich grämen – jetzt habe ich ja meinen Ruhestand und den Kopf voller Erinnerungen. Das ist auch schön. Man muss sich auch mal mit etwas begnügen können und nicht immer nach den Sternen greifen. Sind eh zu weit weg.

Außerdem bin ich ja noch gar nicht so alt. Nicht so alt wie die meisten Ruheständler. Wegen meiner schlechten Gesundheit bin ich in den Vorruhestand gegangen. Daher auch die wenige Rente. Das wird einem ja alles abgezogen. Ist der Regierung doch egal, ob jemand genug Geld zum Leben hat. Denen ist doch eh alles egal, Hauptsache, das eigene Portemonnaie ist immer prall gefüllt. In Spanien soll das anders sein. Hat mir die Frau aus dem zweiten Stock erzählt. Die ist Spanierin und mit einem deutschen Mann verheiratet. Auch sehr nette Menschen. Ihre große Schwester lebt in Spanien. Die ist schon achtundsechzig Jahre alt und allein. Ihr Mann hat sich vor Jahren von ihr getrennt, weil er sich in eine andere verguckt hat. So ist das Leben – nichts ist für die Ewigkeit. Ihre Schwester hat ausgesorgt. Zumindest, was das Geld anbelangt. In Spanien ist das nämlich so, dass jeder Rentner eine Festrente bekommt. Darüber hinaus dann das, was er einbezahlt hat. So ist das Alter nicht mehr ganz so belastend. Warum die das wohl in der Bundesrepublik Deutschland nicht machen? Ach ja, Sozialverträglichkeit. Das wäre ja ein Widerspruch. Stimmt.

Zwei Tage später klingelt mein Telefon. Wer kann das sein? Weil mein Enkel Tobias mir ja ein schnurloses Telefon geschenkt hat, habe ich das gleich neben mir liegen, muss also nicht erst lange zum Telefon laufen. Neben meinem Lieblingssessel (das ist so einer zum Ausziehen, ein Ruhesessel) ist nämlich kein Telefonanschluss in der Wand. Und mein Lieblingssessel hat seinen festen Platz am Fenster. Da ist er und da bleibt er auch. Ordnung muss sein! Es ist Tobias – so eine Freude. Er ruft nicht jeden Tag an, weil er ja immer von der Arbeit so kaputt ist. Die strengt ihn so an. Na ja, er ist ja auch in der Fabrik am Fließband. Die machen da Autos. In München. Tobias erzählt mir, dass er in myspace etwas sehr interessantes entdeckt hat. myspace – was war das denn gleich wieder? Ach ja, hat er mir ja mal gezeigt. Ist im PC. Also muss ich doch aufstehen, weil der PC auf dem Tisch steht. Und der ist auf der anderen Seite meines Zimmers. Hilft nichts, wenn Tobias schon sagt, dass das so interessant ist. Ist ja schön, wenn er an mich denkt. Nun, dann gehe ich halt rüber, aber nicht ohne Gehstock. Will ja nicht hinfallen – wegen der Knochenbrüche. Tobias erklärt mir auch, wie ich den PC anschalte, weil ich doch so vergesslich geworden bin. Also gehen wir das zusammen durch. Macht ja nichts, wenn es länger dauert, weil Tobias nämlich sehr schlau ist – er hat da eine Flatrate abgeschlossen. Daran kann ich mich noch erinnern. Eine Flatrate ist ein Festbetrag an Stelle des Abbuchens einzelner Telefonate. Ist viel günstiger. Die Sparsamkeit hat Tobias eindeutig von mir geerbt. So etwas soll ja generationsübergreifend sein. Das Vererben meine ich.

Tobias erzählt mir gerade von jemandem, der immer recht interessante Blogs schreibt. Ein Blog ist so eine Art virtuelles Tagebuch. Wusste ich vorher auch nicht, aber Tobias erklärt mir ja alles immer so verständlich, damit ich auf dem Laufenden bleibe. Ist überhaupt ein sehr netter junger Mann. Nachdem er mir den Namen buchstabiert hat, gebe ich ihn ein bei „Freunde finden“. Er heißt searched_and_found. Ist es überhaupt ein Er oder eine Frau? Es ist ein Mann, weil in seinem Profil „male“ steht. Das heißt auf englisch „männlich“.
Wieder so ein Fremdwort... Nun habe ich also das Profil von searched_and_found vor mir. Und was nun? Ah – da steht es ja: „Forderung nach Zivilcourage und Deeskalation – eine hochaktuelle und brisante Frage“. Und das soll eine Überschrift sein? Ist ja wohl ein wenig zu lang dafür. Doch Tobias sagt mir, wie ich den Blog öffnen kann, was ich denn auch mache. Nein, das kann ich nicht lesen. Viel zu klein, die Schrift. Also liest Tobias mir den Text vor. Zuerst dachte ich mir, was denn so wichtig sein kann, dass es mich interessieren sollte, doch weiß ich es jetzt. Dieser männ- liche Mensch hat da etwas zu dem Unfall mit Todesfolge am S-Bahnhof Solln am 12.09.2009 geschrieben. Das war ja vorgestern. Als Tobias mir weiter vorliest, fällt mir ein, dass ich das ja in der S-Bahn mitbekommen habe. Das waren also diese lauten Leute. Die Kinder, die Jugendlichen und der ältere Mann. Der, der anscheinend für Ruhe gesorgt hat. Der zusammen mit den Jugendlichen am S-Bahnhof Solln ausgestiegen ist. Was – den haben die totgeprügelt? Wieso das denn? Tobias erzählt also weiter, dass die Jugendlichen von den Kindern Geld erpressen wollten und der Mann sich da eingemischt hat. Hätte ich auch gemacht. Vor dreißig Jahren noch. Da ging es mir noch nicht so schlecht, da war ich noch gesund. Natürlich, das muss gewesen sein, wie die dann plötzlich ruhig geworden sind und von den Kindern weggegangen sind. Und dieser searched_and_found hat sich da ja richtig Mühe gegeben. Der hat doch tatsächlich Artikel aus dem Internet abgeschrieben für seinen Blog. Da steht das mit dem Überfall mit Todesfolge drin. Und Tipps von der Kriminalpolizei. Wie man sich verhalten soll, wenn man so etwas direkt mitbekommt. Wie gesagt, vor dreißig Jahren hätte ich das getan. Aber heute? Was ist, wenn ich mir da hinfalle und mir Knochen breche? Nein, dieser Gefahr setze ich mich nicht aus.
Dafür werde ich morgen gleich meiner kroatischen Wohnungsnachbarin, Mustafa und Frau Bauer davon erzählen.


Wer Interesse daran hat: der Blog von searched_and_found bei myspace ist vom 14.09.2009 und kann jederzeit nachgelesen werden.

Mit vielem Dank für die Aufmerksamkeit
und das Nachdenken und Umsetzen dessen,
worum im Blog gebeten wird...

Mit freundlichem Gruß

searched.and.found

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 05.10.2009

Alle Rechte vorbehalten

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