Piriac, 08. September
Liebe Oma Lila,
wenn ich an Piriac denke, denke ich zuerst an die salzige Luft, das Parfum des Meeres, das jeden Tag ein anderes ist und das eine Geschichte erzählt. Mal schwer, von Algen geschwängert, wenn der Sommer dem Herbst Platz macht und der Atlantik als Erstes etwas davon weiß. Mal süßlich frisch, wenn die Sonne die Oberfläche erwärmt und der Frühling versucht, Sommer zu werden. Und oft salzig, sehr oft sogar salzig. In den schweren Stürmen des Winters und in den frühen Morgenstunden des August. So wie in jenem, in dem ich dich verließ.
Denke ich an Piriac, denke ich auch an die Hortensien in den Straßen und Gärten. Natürlich, denn wer denkt nicht an Hortensien, wenn er Piriac im Kopf hat? Der kleine Balkon der Halbinsel Guérande, so hast du unsere Heimat immer genannt und ich erinnerte mich oft daran, wenn ich auf meinem winzigen Balkon in Paris saß, unter mir die brüllenden Autos. Dann rief ich mir Piriac in Erinnerung und die bunten Blumen, die in ihren Farben die Schätze der Erde zeigten. Rote Blüten für eisenhaltigen Boden, rosa für Kalk, Blau für sauren Boden. Ich sehe deinen prächtigen Garten vor mir, über und über mit dicken Blüten geschmückt, an denen es summt und lebt. Wie oft habe ich mir später gewünscht, selber eine dieser Bienen zu sein, deren einzige Hektik das Sammeln von Blütenstaub zu sein schien. Meinen Kopf in eine Blume zu stecken und von dem süßen Nektar zu kosten. Aber ich hatte ja nur Paris mit seinem Lärm und den seltsamen Parks, in die allzu viele Menschen flüchten, um von grüner Luft zu kosten.
Denke ich an Piriac, habe ich aber vor allem dich im Kopf. Deine altmodischen Rüschenblusen, die immer nach Rosenwasser rochen. Deine langen, grauen Haare, in denen sich meine Kinderfinger verfingen und die du stets akkurat zu einem Knoten auf dem Kopf drehtest, immer hoffend, dass sich im Laufe des Tages nicht allzu viele Strähnen daraus lösten. Vergebens. Ich sehe dich hinter den runden Crêpe-Steinen stehen, die Wangen gerötet, voller Wonne große Räder von Crêpes und Galettes für deine Kunden entwerfend wie ein Kunstwerk. Je später der Abend wurde, desto mehr Strähnen lösten sich und umrahmten dein Gesicht wie ein heller Schein auf einem Heiligenbild.
Heute weiß ich es besser, aber als ich klein war, warst du meine Heilige. Du hast mich aufgefangen, als meine Eltern gestorben waren, die ich nie gekannt habe. Du hast mir ein Zuhause in deinem kleinen Häuschen mit dem Hortensiengarten gegeben, du hast mich Dinge gelehrt, die ich nie vergessen habe. Wie man einen bretonischen Pullover strickt zum Beispiel, mit blauen und weißen Streifen und als besonderes Extra einer Tasche auf der Brust, in die die Pfeife eines Fischers passte.
Du hast mir beigebracht, was Sehnsucht ist.
Ich habe verzweifelt versucht, das zu vergessen. Dieser ziehende Schmerz im Herzen, wenn man etwas vermisst. Auf dass sich Leid und Freude so sehr mischen, dass alles an einem voll ist mit diesem einen Gefühl, das mir als das bretonischste aller Empfindungen erscheint. Sehnsucht.
Ich habe sie oft gespürt, nachdem ich Piriac verlassen habe. Und auch, als du dachtest, ich komme darüber hinweg, weil die Sache mit Adrien nur eine Schulmädchenschwärmerei gewesen sei.
Es ging alles sehr schnell, fast wie eine überstürzte Abreise. Du hattest mir Opas ledernen Koffer vom Dachboden geholt. Ich sehe mich noch heute vor deinem Haus stehen, auf den Bus wartend, der mich nach La Baule zum Zug bringen sollte und der Zug mich nach Paris. Es war ein frischer Augustmorgen, einer jener salzigen Tage, an denen das Meer still wie ein Spiegel vor Piriac lag und das Licht golden über das Land floss, bereit für das letzte Aufbäumen des Sommers.
Du hast gesagt, dass Adrien mit einem Fischer hinausgefahren sei, ganz spontan, und sich deswegen leider nicht verabschieden konnte. Ein Kloß saß mir im Hals, aber ich versuchte stark zu sein. Als dann der Bus aus dem Dorf herausfuhr und die letzten Hortensien hinter sich, sah ich ihn auf dem Hügel stehen. Auf der Wiese, auf der wir so oft gespielt hatten, als wir klein gewesen sind. Seine Schultern hingen und sein Hemd war zerknittert und voller Grasflecken, so als habe er die Nacht auf dieser Wiese verbracht. Ich erkannte ihn sofort, seinen dunklen Schopf, die tiefliegenden, schwarzen Augen, die markanten Brauen. Einen Moment nur sah ich ihn, bevor der Bus um die Kurve bog und ihn mir wegnahm, meinen Adrien.
Und da begann ich zu begreifen.
Auch in Paris gibt es diese goldenen Morgen, wenn die Sonne sich nur langsam erhebt und alle Kraft zusammennimmt, um dem Sommer noch einmal Feuer zu geben, unsere Gesichter noch einmal zu erwärmen, wenn wir sie in den Himmel heben. Sommermorgen, an denen die Luft bereits würzig und schwer ist und erste Blätter auf die Boulevards und die Kieswege der Parks fallen. Seit diesem Abschied in Piriac habe ich diese Tage gehasst. Immer musste ich an dich denken, in deiner grauen Strickjacke vor dem Haus, wie du mich umarmtest und gesagt hast, mich bald in Paris besuchen kommen zu wollen. Ich solle Philippe grüßen und es würde schon alles gut werden mit dem Studium, Philippe würde auch mich aufpassen. Ich solle mich melden, wenn ich da bin. Und ja, »ach, beinahe hätte ich es vergessen zu erwähnen«, sagtest du, als ich auch die Uhr sah und auf Adrien wartete, der sich verabschieden wollte. Er sei heute in der Früh mit einem Fischer rausgefahren und komme erst heute Abend zurück. Er bestelle mir schöne Grüße und wünsche mir alles Gute. Es klang wie ein Abschied für immer. Genau das wolltest du damals, einen Abschied für immer. Dass Adrien und ich uns nicht wiedersehen, dass unsere Herzen sich nicht finden.
Ich habe versucht, mich nicht zu erinnern. Bin nie ans Meer gefahren, weil ich den Geruch nicht ertragen konnte. Den Geruch des Verlustes. Als wir uns verabschiedeten, Großmutter, hatte ich das alles noch nicht gewusst. All das, was du mir verschwiegen hast. Und auch nicht, dass ich dich danach nie wiedersehen sollte.
Eine Lindenblüte segelte zu Boden, als Julie und ihre Freundin Selima nach Feierabend auf der Place des Vosges saßen und zeitgleich in ein Sandwich bissen. Paris war schon ganz auf Sommer eingestellt, doch der Wind pfiff gelegentlich eisig aus Osten, so wie an diesem Abend.
»Sieh mal, da drüben«, flüsterte Selima und begann zu kichern. »Wenn mich nicht alles täuscht, ist der Typ genau nach deinem Geschmack.« Selima wurde nicht müde, Julie davon überzeugen zu wollen, dass Paris voller schöner Männer war, die nur darauf warteten, dass Julie an ihnen vorbeilief und aus Versehen stolperte, damit sie sie auffangen, ihr tief in die Augen sehen und ihr sogleich einen Heiratsantrag machen würden. Seufzend sah Julie dennoch zu dem Mann auf der Bank gegenüber. Meistens lag Selima ziemlich falsch, was ihren Geschmack betraf, aber das hatte damit zu tun, dass sie selber gar nicht wusste, wer denn nach ihrem Geschmack war. Auf der Bank unter den Linden saß ein schlanker Kerl mit aschblonden Haaren, einer modischen Brille und braunen Lederschuhen, der in einer Zeitung las. Altmodischer Zeitungsleser, das könnte ihr tatsächlich gefallen, aber die Wahrheit war, dass es auf diesem Planeten niemanden gab, der weniger auf der Suche nach einem Partner war als sie.
»No brown in town«, sagte Julie und ahnte, dass Selima sie verständnislos von der Seite anschaute. »Ich übersetze für dich: Keine braunen Schuhe in der Stadt.«
»Ich bin fassungslos! Braune Schuhe hin oder her, der sieht super aus. Und er liest Zeitung. Hast du mir nicht neulich erklärt, dass dein Traummann drei Kriterien erfüllen muss? Erstens Zeitungsleser sein, zweitens bereit sein, mit dir dreimal hintereinander eine Winnie-Puuh-DVD zu gucken und drittens ein tadelloses Soufflé backen zu können. Der da drüben erfüllt sie alle!«
Wieder seufzte Julie. »Woran siehst du, dass er mit mir Winnie-Puuh-Filme guckt und ein Soufflé backen kann?«
»Das steht ihm geradezu auf die Stirn geschrieben.« Selima warf das Papier ihres Sandwisches in den Mülleimer und schlug vor, auf dem Rückweg ganz aus Versehen bei ihm vorbeizulaufen.
»Und wie soll ich ihn deiner Meinung nach ansprechen?«, versuchte Julie ihrer Freundin klar zu machen, dass deren Plan ein Luftschloss war, an dem sie außerdem kein Interesse hatte.
»Frag ihn nach seiner Telefonnummer.«
Julie lachte auf. Wenn Direktheit einen Namen hatte, dann Selima. Dabei war sie es gewesen, die damals Marcel ansprechen musste, weil Selima sich nicht getraut hatte, auf der Vernissage einfach zu diesem schlaksigen Kerl mit den braunen Locken zu gehen, der immer ein wenig von seinem Champagner verschüttete, wenn er vor einem Bild stand und es gestikulierend bewunderte.
Julie gehörte nicht zu der Spezies Mensch, die sich schnell schämte. Sie hatte sogar ein ziemlich dickes Fell und Selima meinte, das müsse ihr bretonisches Erbe sein, obwohl sie noch nie zuvor eine Bretonin gekannt hatte. Julie neigte zu Schusseligkeit, die mit dem Gefühl von Scham ein gutes Duo gebildet hätte. Sie sah es pragmatisch, wenn sie in der Metro mal wieder ihren Rucksack jemandem ins Gesicht donnerte oder ihr im Supermarkt ein Glas mit Erbsen und Möhren auf den Boden fiel. Also fiel es ihr auch diesmal nicht schwer, einfach aufzustehen und mit Selima im Schlepptau zu dem Mann auf der anderen Seite der Allee zu schlendern.
»Oh mein Gott, du sprichst ihn wirklich an!« Selimas Augen glänzten, aber sie versuchte gleichzeitig, sich im Hintergrund zu halten.
Julie räusperte sich. »Entschuldigung«, begann sie. Der Mann sah auf, er hatte blaue Augen und dürfte so um die dreißig gewesen sein, genau wie sie. »Meine Freundin und ich hatten gerade eine lebhafte Diskussion um einen Film, den wir in unserer Kindheit gesehen haben. Sie als Zeitungsleser sehen aus wie jemand, der Allgemeinbildung hat und sich vielleicht erinnert.« Eine Windböe zupfte eine weitere Lindenblüte ab und ließ sie in Julies Haar segeln, ohne dass sie es bemerkte.
Der Mann schien überrascht, aber auf freudige Weise. Er klappte rasch die Zeitung zu. »Oh, tatsächlich? Dann will ich mal sehen, ob ich helfen kann.«
»Es geht um Winnie Puuh. Sie wissen schon, dieser tapsige Bär mit den vielen tierischen Freunden. Da gibt es eine Eule, die ganz besonders schlau ist. Klar, ist ja auch eine Eule. Aber uns ist der Name entfallen. Sie kennen es sicher, wenn einen etwas quält, das man mal wusste und jetzt nicht mehr. Man findet den ganzen Tag keine Ruhe.«
Der Mann stand von der Bank auf, so als sei es ihm unangenehm, in Gegenwart einer Dame auf einer Bank zu sitzen. Er war ein ganzes Stück größer als Julie. »Ähm, ja, das kenne ich. Nur kenne ich diesen Film leider nicht, pardon.«
»Das macht doch nichts«, lächelte Julie ihn an. »Trotzdem vielen Dank und einen schönen Abend noch.« Selima hatte sich mittlerweile bei ihr eingehakt und versuchte, sie am Gehen zu hindern. Aber Julie war entschlossen, denn immerhin hatte sie gerade den Beweis angetreten, dass Selima mal wieder falsch lag und dieser Typ nicht der Traumprinz sein konnte, als den sie ihn ihr verkaufen wollte.
»Moment!«, hörte sie eine Männerstimme hinter sich. Dann Schritte auf dem Kies. »Sie… Sie haben da etwas im Haar.«
»Tatsächlich?« Julie schüttelte ihre langen schwarzen Haare. Vergebens.
»Ich glaube, es steckt fest. Eine Blüte von diesen Bäumen hier.«
»Linden, es sind Linden.«
»Damit kenne ich mich leider nicht aus«, sagte er und Julie sah, wie sich seine Wangen unterhalb der Brille ganz leicht erröteten. »Ich bin übrigens Paul.«
»Danke für deine Hilfe, Paul«, lächelte Julie. »Ich muss jetzt gehen. Meine Quiz-Show beginnt gleich.« Sie hörte, wie Selima neben ihr scharf Luft einsog.
Als sie außer Hörweite waren, prasselte es auf Julie ein.
»Wie konntest du nur? Er war so nett zu dir und er sieht so fantastisch aus und du lässt ihn so auflaufen! Du hast ihn bloßgestellt mit deiner blöden Winnie-Puuh-Sache. Die Eule hat gar keinen Namen!«
»Doch, sie heißt Eule.«
»Wie konntest du nur?«, wiederholte Selima vorwurfsvoll. Bis sie bei der Metrostation Bastille angekommen waren, herrschte Schweigen zwischen den beiden Frauen. Julie mochte Selimas Art, aber ihr Engagement, Julies Lebensglück auf der Straße zu suchen, war zu viel des Guten. Sie musste ihr möglichst bald und möglichst schonend klarmachen, dass sie nicht auf der Suche nach irgendwem war, sondern dass sie einfach ihre Ruhe wollte. Ihre Arbeit in der Galerie, für die Selima Homepage und Flyer designte und in der sie selber eine mäßig erfolgreiche Verkäuferin war, genügte ihr vollkommen. Abends hatte sie Pizza und Fernsehen und genoss den Blick aus ihrer Dachkammer auf Paris. Das Leben hatte es gut genug mit ihr gemeint, sie wollte ihr Glück nicht herausfordern.
Als Julies Metro kam und sie nach Montmartre bringen sollte, drückte Selima ihr einen Zettel in die Hand. »Ruf ihn an, er ist nett.«
Julie fiel es wie Schuppen vor die Augen. »Du hast ihn in den Park bestellt!« Die Türen der Bahn öffneten sich und eine Menschenhorde stieg mechanisch aus.
»Ich habe ihn mal irgendwo getroffen und wie beiläufig fiel das Gespräch auf dich«, sagte Selima rasch und schob Julie in die Bahn. »Er passt zu dir, glaub mir. Bis Morgen, Schätzchen!« Sie warf ihr noch Luftküsse zu, als sich die Türen schlossen und die Metro anfuhr.
Julie warf Selimas Zettel in den Klappmülleimer und dachte dann wieder über ihren Job nach, das Einzige, was sie zur Zeit interessierte. Das zweite Jahr in der Galerie Jacobsen, Dumas & Poirot war beinahe überstanden, ohne dass sie gefeuert worden war. Bisher hatte sie noch keine falschen Preise genannt und sich auch bei der allerhässlichsten Kunst, die insbesondere von dem Dänen Jacobsen kam, nicht verplappert. Kein ‚Ich an Ihrer Stelle würde das nicht kaufen‘ oder ‚Wenn Sie dieses Bild in Ihr Wohnzimmer hängen wollen, kann ich für Ihren Ehefrieden nicht garantieren‘. Jacobsen konnte sie nicht leiden und sie ihn auch nicht.
Studium der Kunstgeschichte, so wie Oma Lila das eingefädelt hatte. Unterstützt von Philippe, der ausgerechnet in dem Jahr in Piriac aufgetaucht war, in dem sie die Liebe zu Adrien hatte aufblühen sehen wie die Hortensien in Lilas Garten. Ein mäßig abgeschlossenes Studium und dann jedes Jahr Philippes Wasserstandsmeldungen, auf die sie gerne verzichtet hätte.
»Entschuldige, Julie, aber ich denke, der Job ist nichts für dich. Ich hätte da noch was in der Buchhaltung.«
Noch ein Jahr später: »Sag mal, hast du im Studium nicht mal einen Sprachkurs gemacht? Du könntest die Angebote für unsere ausländischen Kunden übersetzen.«
Noch ein Jahr später: »Die Bilderrahmen müssten mal wieder abgestaubt werden. Machst du das, Julie?«
Dann der Knall. »Hör mal… Ich habe da jemanden kennengelernt und würde ihr gerne eine Stelle in meiner Galerie anbieten. Du hast doch nichts dagegen, oder?« Philippe hatte mit einem exzellenten Zeugnis gewedelt und ihr das Visitenkärtchen von Jacobsen, Dumas & Poirot zugesteckt, Montmartre, Kunst für Touristen und stinkreiche Amerikaner, die keine Ahnung hatten.
Und da war sie jetzt. Morgen war die Vernissage für Jacobsens neue Serie. Porträts in Blätter gekleideter Frauenkörper. Künstlich, billig, geschmacklos. Julie musste Morgen früh unbedingt noch den rosafarbenen Champagner besorgen, den Jacobsen ausgeschenkt haben wollte. Nicht gerade die typische Aufgabe einer Galeristin, aber die war sie ja auch eigentlich nicht. Ein Leben zwischen den Stühlen. Und vor dem Fernseher, denn immerhin das war sicher.
Zu Hause zog Julie als Erstes ihre Schuhe aus. Sie war der Überzeugung, dass die meisten Frauen nur Stöckelschuhe trugen, weil es ein so erleichterndes Gefühl war, sie wieder ausziehen zu können. Ein Griff zur Fernbedienung und das wohlige Geräusch sprechender Menschen erfüllte ihr Wohnzimmer, das zugleich Schlafzimmer und Küche war. Sie öffnete das Fenster und sah für einen Moment auf Paris herab. Das Paris der Hinterhöfe, der versteckten Gärten und der metallenen Dächer.
Als die Quiz-Sendung beendet war, schob Julie eine Pizza in den Ofen und sah dabei zu, wie sich der Käse hob und senkte wie ein Lebewesen. Manchmal dachte sie, dass die Pizza lebendiger war als sie, aber nach der ein oder anderen Träne, die sie darüber vergoss, ging es ihr meistens besser und es gelang ihr wieder, ihren Alltag zu schätzen.
Doch an diesem Abend war etwas anders. Wer auch immer vor ihrer Tür stand, er musste zweimal klingeln, damit Julie es wahrnahm. Das kam ihr äußerst ungelegen, denn die Pizza war nur so lange gut, wie sie heiß war.
»Ja bitte?«, fragte sie, als vor der Tür ein Blumenstrauß erschien und hinter dem wiederum ein Mann, den sie schon einmal gesehen hatte.
»Guten Abend, Julie. Selima hat gesagt, dass ich dich abholen soll.«
»Pierre?«
»Fast. Paul.«
»Stimmt, ich erinnere mich.« Sie hatte die unfreiwillige Begegnung im Park beinahe wieder vergessen. Und es wäre noch besser gewesen, auch das Öffnen der Tür einfach vergessen zu haben, aber nun stand er da. Wortlos trat sie einen Schritt zur Seite und Paul verstand es als Einladung.
»Danke«, sagte er und drückte ihr die Blumen in den Arm. »Eine… hübsche kleine Wohnung hast du. Wirklich, ganz niedlich.«
»Tja.« Julie stellte die Blumen in ein Glas, denn eine Vase besaß sie nicht. »Entschuldige mich einen Moment.«
»Nur zu, bitte«, sagte dieser Paul nervös und verschränkte die Hände über dem Bauch, so wie jemand Achtzigjähriges am Samstagabend vor dem Fernseher saß und das Große Schlagerfestival schaute.
Julie schloss sich im Bad ein, sicher war sicher. Selimas Handy klingelte dreimal, viel zu oft, bis sie endlich abnahm.
»Spinnst du?!«, brüllte Julie in den Hörer. Von der anderen Seite kam nur ein Lachen.
»Ich wusste, dass du anrufst. Glaub mir, ich tue dir einen Gefallen, du weißt das nur noch nicht zu schätzen.«
»Das Einzige, was ich schätze, ist, dass du den Verstand verloren hast!«
»Paul ist ein ganz Netter. Soll ich dir vorlesen, was er auf die Anzeige geantwortet hat?«
Julie war dem Herzinfarkt nahe. Eine Anzeige? »Eine Anzeige!«
»Habe ich dir das nicht gesagt? Ups.« Selima sagte zwar ‚Ups‘, aber sie klang nicht nach ‚Ups‘, sondern eher nach ‚Ich tue so, als habe ich es dir sagen wollen, aber ich wusste genau, dass du dagegen sein würdest.‘
»Ich fasse es nicht! Du hast allen Ernstes eine Kontaktanzeige in meinem Namen aufgegeben? Womöglich auch noch im Internet und mit Bild.«
»Das… ist durchaus möglich. Aber es ist ein hübsches Bild von dir mit roten Sandalen, der schwarzen Flatterbluse, die so schön zu deinen Haaren passt.«
»Das ist mein Büro-Outfit, Selima! Ich sehe damit aus wie eine pseudoseriöse Handleserin vom Astrologie-TV.«
»Also Paul hat‘s gefallen.«
Schweißperlen standen auf Julies Stirn, noch dazu wurde es in dem winzigen Bad immer stickiger und wenn sie sich nicht täuschte, hörte sie vor der Tür schleichende Schritte.
»Wäre ich eine bessere Köchin, würde ich Hackfleisch aus dir machen, Selima. Ich rufe dich später wieder an und wehe, du nimmst nicht ab! Wir sind noch nicht fertig.«
Als Julie die Badezimmertür mit Schwung öffnete, fuhr Paul zusammen. Er saß immer noch auf dem Sofa, zum Glück. Für ihn. Er sah sie aus seinen großen blauen Augen an, erwartungsvoll und beinahe bettelnd wie ein Hundebaby.
»Ich...«, begann Julie, wusste aber nicht, wie sie den Satz weiterführen sollte. Sie hasste Überraschungen, die passten nicht in ihren geliebten Alltag.
»Du musst nichts sagen«, nahm Paul ihr das Reden ab. »Ich habe es geahnt. Selima hat mir geschrieben, dass du von der Anzeige nichts weißt, aber ich dachte mir, vielleicht habe ich Glück und wir verbringen einen netten Abend zusammen. Es ist okay, wenn du mich jetzt fortschickst.« Er machte Anstalten aufzustehen.
Ohne dass sie es wollte, erweichte Pauls Satz ihr Herz. Das Fortschicken hatte sie am eigenen Leib erfahren, vor zehn Jahren und zwar von ihrer geliebten Oma Lila.
»Ich schicke dich doch nicht fort.« Ihre Stimme war wieder ganz ruhig. »Also… was hattet du denn geplant?«, fragte sie und holte ein Glas Wasser aus der Küchenecke, während ihr Blick immer wieder zu der erkaltenden Pizza ging. Sie war definitiv verdorben, jede Minute machte sie ungenießbarer.
Paul grinste. »Da gibt es ein besonderes Restaurant.«
»So weit ich weiß, ist Paris voller besonderer Restaurants«, seufzte Julie. In der Hauptstadt aß man völlig anders als in der Bretagne und auch das Ambiente war anders.
»Aber es gibt nur eines auf dem Eiffelturm.«
Julie ließ die Schultern hängen. »Das Jules Verne.« Ein Luxusrestaurant. Nichts war weniger Julie als Luxus.
»Ja, genau. Selima hat mit erzählt, dass du gerne isst.«
Na toll. Wie das klang. Als wenn sie daran arbeitete, kugelrund zu werden, was sie niemals werden würde. Klein und zierlich lag in der Familie. Trotzdem zog sie Schuhe und Jacke an und folgte ihm.
»Was machst du eigentlich beruflich? Bist du Banker?«
»Nein«, lachte Paul. »Sehe ich so aus?« Ja, dachte Julie. Und nur so jemand kam auch die Idee, sie ins Jules Verne zu schleppen. »Ich bin Mathematiklehrer.«
Oh. Mein. Gott. Paul war nicht der harmlose Dackel, der sich dafür fürchtete, von ihr fortgeschickt zu werden, er war der wandelnde Albtraum.
»Okay...« murmelte sie und versuchte zu lächeln, was nicht ganz gelang. »Dann… lass uns mal losgehen.« Desto schneller würde sie wieder hier sein, fügte sie in Gedanken an.
Sie fuhren mit der Metro zum Eiffelturm. Nichts könnte unpassender sein als mit öffentlichen Verkehrsmitteln zu einem Luxusrestaurant zu fahren, aber Paul schien es nicht zu stören. Ein Glück, dass sie beide stehen mussten und so jedes Gespräch unterbunden wurde. Erst als sie aus dem Pariser Untergrund ans Licht der Champs du Mars kamen, lächelte er sie wieder an. »Schön, nicht?«
Julie fühlte sich wie die reinste Touristin. Kein Pariser bestieg freiwillig einfach so den Eiffelturm, genauso wenig wie ein New Yorker Selfies an der Freiheitsstatue machte.
»Ja, schönes Wetter«, sagte Julie. »Immerhin müssen wir nicht anstehen.« Schon von weitem sah sie die Schlangen an den Füßen des Turms, die geduldig auf Einlass warteten. Das Jules Verne hatte einen Privataufzug, was man für die Menü-Preise ja wohl auch erwarten konnte.
Als sie auf der zweiten Plattform ausstiegen, blieb Julie die Luft weg. Sie hatte geglaubt, von ihrer Wohnung einen Blick auf Paris zu haben, aber wenn etwas Blick auf Paris hatte, dann das hier. Goldenes Abendlicht überzog die Stadt und machte sie zu einem Meer aus Edelsteinen. Hier oben war es still bis auf das Rauschen des Windes. Und dann war da die Seine. Eine goldene Lebensader, flüssiges Licht, das Paris durchzog und es zu dem machte, was es war: Paris, Stadt des Lichts.
»Toll, nicht?«, fragte Paul, dessen Augen ebenfalls golden leuchteten. Julie merkte gar nicht, wie er ihre Hand nahm und sie zum Restaurant führte. Er nahm ihr die leichte Jacke ab wie ein Gentleman und überließ ihr den Platz mit dem Rücken zum Raum, sodass sie nach draußen sehen konnte. Hier oben, über Paris schwebend, fiel es Julie schwer, nicht romantisch zu werden.
Es gab zwei Menüs zur Auswahl, eines mit fünf und eines mit sieben Gängen. Unwillkürlich suchten Julies Augen nach einem P für Pizza als Hauptgang, aber sie fanden nur H für Hummer und K für Kaviar. Und B für Bretonisch.
»Bretonischer Hummer«, las sie. Wo sie auch war, ihrer Heimat konnte sie doch nicht entkommen, auch wenn es seltsam anmutete, dass man dieses Meerestier hier als teure Delikatesse aß, während sie das bodenständige Ambiente bretonischer Crêperien und Fischrestaurants am Hafen gewohnt war. Bestimmt sah man es nicht gerne, wenn die Gäste das letzte Fleisch aus der Kruste lutschten, so wie sie es kannte.
»Wir nehmen die fünf Gänge«, bestellte Paul und fragte sie, ob das in Ordnung sei.
»Klar. Ich bin es nur nicht gewohnt, dass mein Essen mehr Gänge hat als mein Fahrrad«, flüsterte sie. »Dieser Luxus...«
»… ist nichts für dich«, vervollständige Paul flüsternd ihren Satz. »Da bin ich aber sehr froh. Ich dachte, wer in einer Galerie arbeitet, ernährt sich hauptberuflich von Champagner und Kaviar.«
»Ich kaufe beides hauptberuflich ein, aber kredenzt wird das nur den Kunden«, seufzte Julie. Gleichzeitig hoffte sie, dass im Gegenzug nicht er von seiner Arbeit berichtete. Der Ausblick hier oben war zu schön, um über das Grauen des Mathematikunterrichts zu sprechen.
»Das heißt, eine Pizza hätte dir gereicht.«
»Oh ja, ich bin große Expertin. Mit Schinken und Käse, das reicht vollkommen, um mich glücklich zu machen.«
Paul lachte und Julie musste zugeben, dass es gar nicht übel klang. Er wieherte nicht, er grunzte nicht, er klang nicht wie ein kaputter Föhn. Sie hatte viel Zeit damit verbracht, das Lachen der vornehmen Kunden in der Galerie zu studieren, aber Paul klang absolut okay.
Als das Essen kam, hatte keiner von ihnen auch nur die leiseste Ahnung, was sie vor sich auf den Tellern hatten, nur die Karte verriet, worum es sich handeln könnte.
»Oh, ich glaube, das hier ist ein Stück Orangenschale«, sagte Paul und pulte etwas Oranges heraus.
»Ich erkenne Karottenhäcksel, wenn ich sie sehe«, antwortete Julie lachend. »In der Bretagne kriegen das die Kaninchen.«
Wider Erwarten amüsierten sich sich prächtig. Einmal ernteten sie den strengen Blick eines eleganten Pärchens am Nachbartisch, was Julie nur noch mehr losprusten ließ. Als schließlich das Dessert serviert wurde, das ganz simpel als ‚Schokolade‘ angepriesen wurde, machten sie sich einen Spaß daraus, ihre Servietten in den Kragen zu stecken und möglichst oft »deliziös« und »bonfortionös« fallen zu lassen.
Der Abend war äußerst nett gewesen und Paul hatte sich als angenehmer Gesprächspartner erwiesen. Dabei stürzte er sich selber in Unkosten, nur um ihr dieses besondere Essen zu ermöglichen. Aus dem Augenwinkel nahm sie wahr, wie er immer hektischer in seiner Jackentasche kramte, auch die Hosentaschen durchsuchte und schließlich den Fußboden um den Tisch herum.
»Mein Portemonnaie! Ich finde es nicht.« Wieder durchsuchte er alle Taschen, aber darin waren nur Kassenbons und Cent-Münzen, die er achtlos auf den Tisch warf. »Ich bin mir ganz sicher, dass ich es eingesteckt habe, zu einhundert Prozent! Ich würde fast sagen zu tausend Prozent, aber das gibt es natürlich nicht.« Nun wurde er doch noch mathematisch. Julie seufzte.
»Man muss es mir in der Metro gestohlen haben.« Bei dem Stichwort ‚Metro‘ sah das Paar nebenan wieder auf und diesmal nahm Julie ein herablassendes Lächeln wahr.
»Ich zahle«, sagte sie, um dem Theater ein Ende zu bereiten. Ihr Konto war zwar leer, aber da waren noch fünfhundert Euro von ihrem Dispo übrig. Der Ober kräuselte die Lippen kaum merklich, als sie ihm ihre Bankkarte hinhielt. Crédit Agricole, wohl nicht glamourös genug.
Als sie draußen waren, durchsuchte Paul immer noch seine Taschen und hatte keinen Blick mehr für die sanft hereinbrechende Nacht, in der die alten gusseisernen Laternen die Stadt aus dem Dunkel hoben.
»Lass doch gut sein«, sagte Julie. »Du meldest es der Polizei und mit Glück bekommst du irgendwann deinen Ausweis zurück. So ist es bei mir immer.«
»Du wurdest bestohlen? Mehrfach?«
»Nein, aber ich verliere gerne Dinge. Man sagt mir nach, der größte Schussel unter der Sonne zu sein.«
»Also… bisher wirkst du ganz normal.«
»Danke. Du auch.« Sie war froh, dass er Normalsein genauso als Kompliment auffasste wie sie selber.
Paul brachte sie bis vor ihre Haustür, ganz altmodisch, und verabschiedete sich mit Handschlag.
»Es war schön, dich kennengelernt zu haben, Julie. Ich wünschte, wir hätten uns unter anderen Umständen kennengelernt. Und ich hoffe, es war nicht allzu schlimm. Es würde mich daher erleichtern, wenn du deine Freundin nicht zusammenfaltest, sie meinte es ja nur gut.« Julie bemerkte ein leichtes Stottern. Er war nervös und das gefiel ihr seltsamerweise, weil endlich mal nicht sie die Nervöse war.
»Mache ich nicht«, lächelte sie und meinte es so. »Ich fand es auch ganz okay.«
»Okay ist prima!«, entfuhr es Paul erleichtert.
Und dann tat Julie etwas, das sie noch nie einfach so gemacht hatte. Ohne nachzudenken. Sie küsste ihn.
Tag der Veröffentlichung: 13.07.2021
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