Damals, als Claudie noch bei ihm war, hat Jeannot seine Zitronen geliebt, und das Meer und die Sonne auch. Fünfzehn Jahre, nachdem Claudie ihn verlassen und seine Tochter Lucie mitgenommen hat, kann nur eine den alten Griesgram wieder zum Leben erwecken: Lucie. Die steht nämlich plötzlich vor dem Tor zum Zitronengarten in Menton und wirbelt nicht nur sein Leben mächtig durcheinander, sondern auch das von Daniel, dem Pâtissier mit gebrochenem Herzen. Schließlich hält der Frühling Einzug an der Küste und da soll niemand alleine bleiben, und sei es nur für den Augenblick eines Traums.
Es war einer der Tage, an denen man sich freute, in dieser Welt leben zu dürfen. Das Meer lag tiefblau vor Menton, nur gelegentlich malte eine Welle einen weißen Streifen von Schaum hinein. Stille lag über der Côte d‘Azur, ein Windhauch trug den Klang der Kirchenglocken aus der Altstadt hinüber nach Garavan, wo Jeannots Zitronengarten am Berghang klebte und von dort rüber nach Italien schauen konnte. Ein Adlerhorst, ein Nest für Träume, ein Heim für Sterne. Eigentlich.
„Blöde Sonne“, fluchte Jeannot, als er aus der quietschenden Tür seines Hauses trat, das kaum mehr als eine Hütte war. Ein quadratischer Kasten aus weiß gestrichenem Holz und Möbeln aus den sechziger Jahren darin. Nachts hörte man die Straße hoch über Menton und tagsüber die Rasenmäher in den Residenzen der Reichen. Jeannot spuckte sich in die Hände und strich damit seine grau-braunen Locken zurück. Als Claudie noch hier gelebt hatte, hatte sie stets angewidert die Mundwinkel verzogen und ihm einen Topf mit Haargel ins Badezimmer gestellt. Doch das war nicht dasselbe. Wer ein ordentlicher Landwirt war, der mit Schweiß und Tränen arbeitete, dessen Haare vertrugen doch wohl auch ein wenig Spucke!
Jeannot ließ seinen Blick durch den Garten wandern und seufzte. Zitronen. Überall. Zwar versuchten sie, sich unter tiefgrünen Blättern zu verstecken und wahrlich, Jeannot wäre es lieber gewesen, wenn sie das getan hätten, aber er sah sie trotzdem. Er stemmte die Hände in die Hüfte, seufzte noch einmal – sicher ist sicher, vielleicht klappte es doch und die Zitronen verkriechen sich durch den unheilvollen Ton zurück ins Blattwerk – und setzte einen Schritt vor den nächsten, bis um ihn herum nur noch Zitronenbäume waren. Aus seiner Jeanstasche zog er ein Messer und schnitt eine der leuchtenden Früchte auf, bis sich saftiger, frischer Geruch in den südfranzösischen Himmel erhob.
Jeannot rümpfte die Nase. „Reif“, sagte er halb zu sich selbst, halb zu den Zitronen, deren Stündchen wieder einmal geschlagen hatte. Das bedeutete Arbeit. Er würde nach halbwegs heilen Holzkisten suchen müssen, die irgendwo im Schuppen lagen, und dann würde er hoffen müssen, dass das klapprige Fahrrad ihn noch einmal ins Dorf tragen würde, wo ihn das Allerschlimmste erwartete: Köche und Kuchenbäcker, die seine Ware herbeisehnen. So wie Daniel, dem jungen Pâtissier mit dem finsteren Blick. Der ihn schlecht bezahlte und ihn vorwurfsvoll ansah, als wenn die Zitronen eine Schande waren.
Jeannot spuckte einen großen Brocken Schleim ins Gras. Wie viele Jahre machte er diesen Job nun? Kurz nachdenken. Die Augenbrauen finster ins Gesicht ziehen. Sein Lebensalter minus fünf, vielleicht sechs Jahre. Bis er groß genug gewesen war, um an die Zitronen in den Bäumen heranzukommen. Also fünfundfünfzig etwa. Er wusste gar nicht mehr genau, wann sein Geburtstag war und auch nicht, wann er ihn das letzte Mal gefeiert hatte.
Doch.
Wusste er.
Ganz genau.
Das vorletzte Jahr mit Claudie. Auch wenn sie ihn immer tadelnd angesehen hatte, so hatte sie doch auch einen zweiten Blick in ihren Repertoire: Das Strahlen in den Augen, das er einmal als Liebe verstanden hatte und das dann, nach vielen, aus seiner Sicht glücklichen Jahren, erloschen war. An genau dem Morgen, nachdem er die Ernte des Tages hinunter in die Stadt gebracht hatte. Als er zurückkam, stand Claudie mit Lucie an der einen Hand und dem gepunkteten Koffer in der anderen vor der Haustür und teilte ihm mit, dass sie ihn verlasse. Es ginge nicht mehr. Das Haus. Die Armut. Man müsse doch was aus diesem Garten machen, hatte sie immer wieder gesagt. Lucie braucht doch ein richtiges Zimmer und eine neue Zahnbürste und wenn sie irgendwann einmal zur Schule ginge, müsse man ihr doch bunte Schulhefte kaufen.
So war das gewesen, damals. Seine Zitronen waren nicht gut genug. Sie hatten es nicht geschafft, seine kleine Familie zu ernähren. Wie auch? Sie waren doch nur saures Fleisch, in das man ungerne biss und das einen das Gesicht vor Ekel verziehen ließ. Mit Zucker und Sprudelwasser waren sie gut und im Sößchen der feinen Herren der Côte d‘Azur auch, aber nicht für Claudie und Lucie. Er hatte sie geliebt. Also alle drei. Claudie, Lucie, die Zitronen. Bis zu diesem einen Tag. Damals. Mit Zahlen hatte er es nicht so, aber an diese erinnerte er sich genau.
April. Der fünfzehnte. 2005.
Der letzte Tag, an dem er in Claudies Augen gesehen hatte. Der letzte Tag, an dem er durch Lucies Locken gestrichen hatte, um ihnen alles gute für die Reise zu wünschen. Wie dumm er gewesen war, denn natürlich war es keine Reise, von einer Reise kommt man ja zurück und man fährt, um sich zu erholen. Aber Claudie war mit Lucie gefahren, um zu leben.
Für ihn selber blieb seitdem nur das dunkle Loch von Haus, während um ihn herum die Villen Mentons immer größer und schöner wurden, die Palmen höher und wuchtiger. Während er im Dunkeln seines Wohnzimmers saß, sah er draußen die erbarmungslose Sonne der Côte d‘Azur und in seinem Garten das Knallgelb der Zitronen wie das winziger Sonnen, die ihn verhöhnten, ihn auslachten.
Zuverlässig viermal im Jahr kam irgendein Immobilienheini vorbei, steckte ihm seine Karte zu und forderte ihn zwanghaft lächelnd auf, doch mal anzurufen. Sein Grundstück sei ein wahres Goldstück und könne ihm eine schöne Neubauwohnung verschaffen, im komfortablen Tal von Gorbio, das sei doch wirklich ein gutes Angebot, er solle es sich überlegen, bevor es zu spät sei.
Jeannot überlegte jedesmal 0,000001 Sekunden und kam zuverlässig jedesmal zu demselben Ergebnis: Non, merci. In seinem Leben hatte er nur ein einziges Mal Ja gesagt, für Claudie in der großen Kirche mit den zwei unterschiedlichen Türmen, einem kleinen und einem großen. Das musste reichen, denn es hatte ihn maßlos enttäuscht.
Jeannot warf die Zitronen in eine Kiste und rupfte ein paar Blätter ab, die er zwischen die Früchte steckte. Die Kunden wollten das so. Er würde das Ganze später runter ins Dorf bringen, jetzt hatte er sich einen Mittagsschlaf verdient. Er schlurfte zurück zum Haus.
„Pardon, bin ich hier richtig?“
Es mochte ihm zwar möglich sein, die Augen zu schließen und nichts zu sehen, aber die Ohren konnte er nicht nach Belieben zu machen und nichts hören.
„Nein“, warf er der Person hinter dem Tor zu. Natürlich ein Nein, was denn auch sonst? Das Tor war so hoch, dass er nur ihren braunen Lockenkopf sah, während ihr Gesicht verborgen blieb.
„Aber… das hier ist doch der Garten von Jeannot Lapierre, nicht wahr?“
Er saß in einer Zwickmühle. Wenn er wieder Nein sagte, würde er eine Erklärung abgeben müssen. Wenn er Ja sagte, musste er wieder an Claudie in der Kirche denken und außerdem würde dieses Mädchen da vor dem Tor womöglich hereinkommen wollen, oder sie würde zumindest mit ihm reden wollen und davon bekam er Kopfschmerzen. Was sollte er denn jetzt sagen?
„Vielleicht?“ Unwillkürlich trugen ihn seine Füße zwei Schritte näher an das Tor heran. Das Mädchen hatte eine interessante Haarfarbe, braun mit einem Rotstich, so wie Claudie.
„Oh, wie wunderbar! Ich wusste, dass es hier ist. Ich wollte mir nichts anderes vorstellen als genau diesen Garten und da war er plötzlich.“ Das Mädchen redete wie ein Wasserfall und legte ihre Arme um den großen Pfosten neben dem Tor. Dann wummerte ein Fuß gegen das Holz, dann noch einer und schließlich sah er ihr Gesicht, als sie drüber hinwegkletterte. Jeannot schlug Wurzeln und er merkte, wie sich sein Mund nicht mehr zuklappen ließ. Und dann stand sie vor ihm, sie war genauso groß wie er und sie hatte dieselbe Nase wie er, nur eine Nummer kleiner, so als sei jemand im Himmel durch das Regal mit den Nasen gegangen und habe hinter dem Karton mit den großen noch den mit den zierlicheren gefunden. „Wie wunderbar es hier ist! Ich bin so froh, dass ich dich endlich gefunden habe, Papa.“
Lucie gab Farben Adjektive. Wenn sie morgens mit dem Finger über die Bügel in ihrem Kleiderschrank strich, bis sie alle zum Leben erweckt waren und klackerten, suchte sie sich aus, was sie tragen wollte: Zauberhaftes Erdbeerrot. Funkelndes Grasgrün. Oder eben hypnotisches Blau. Jenes tiefe Blau, in dem das Meer der Côte d‘Azur strahlte. So, wie das Meer an diesem Morgen war.
Und dann saßen sie beide an dem wackligen Tisch in der wackligen Hütte und sahen sich an. Das heißt, Lucie sah Jeannot an, während es sich andersrum eher so verhielt:
Blick über das Wasserglas hinweg, erschrecken, Blick senken. Tief einatmen. Kopf zur Seite drehen, so tun, als blicke man aus dem Fenster, was Jeannot freilich nie tat, vorsichtig zur Seite blicken und Lucies strahlendes Gesicht mustern, erschrecken und wieder auf die Tischplatte sehen.
Jeannot zuckte zusammen, als Lucie seine Hände nahm. Sie waren weich und warm, genau wie Claudies damals gewesen waren, bei den zwei Buchstaben in der Kirche. Er war nie gut im Rechnen gewesen, aber es genügte, Lucie anzusehen. Sie war eine junge Dame. Vielleicht achtzehn, vielleicht zwanzig, er wusste es nicht genau. Und sie saß hier mit ihm an diesem Tisch wie damals, nur dass ihre Beine jetzt bis auf den Boden reichten und dass ihre Milchzähne ausgefallen und durch größere und schneeweiße Exemplare ersetzt worden waren.
„Ich habe es erst vor zwei Wochen erfahren. Maman hat immer erzählt, dass Jacques mein Vater ist und ich war als Kind auch mächtig stolz, einen Papa mit Pool und Mercedes zu haben, aber ich hatte immer diesen Garten vor Augen. Und einen Mann mit Hosenträgern, der Kisten voller Zitronen trägt. Und hier bist du!“ Sie strahlte ihn an. „Du bist es wirklich, ich kann es kaum glauben.“ Sie lachte wie in dieser Hütte seit sechzehn Jahren niemand mehr gelacht hatte und für einen Moment hatte er Angst, dass das einzig heile Glas dadurch vibrieren und herunterfallen könnte, weil nichts hier mehr an Frauenlachen gewöhnt war. Aber das Einzige, das vibrierte, war sein Herz, als ein Vögelchen darin herumsprang und ihn für einen Moment die unsäglichen Zitronen vergessen ließen.
„Lucie.“ Er versuchte sich an einem Lächeln, aber es tat im Mundwinkel weh, wahrscheinlich war vor Schreck die Haut aufgesprungen.
Lucie wollte drei Dinge tun:
1. Aufspringen und ihren Vater umarmen
2. „Papa“ schluchzen
3. Ihm einen Schmatzer auf die Stirn geben
Sie dachte den Bruchteil einer Sekunde nach und entschied sich für alles.
„Mama hat von deinem Zitronengarten geschwärmt“, erklärte Lucie nach einer Weile und Jeannot hörte für einen Moment auf zu atmen. Claudie hatte von seinem Garten geschwärmt? Wirklich?
„Grmpf“, machte er und war froh, dass er wieder finster dreinsehen konnte, das kam ihm normal vor.
„Ja, sie hatte dieses Funkeln in den Augen, als sie mir von dir erzählt hat. Endlich. Ich frage mich, warum sie damals fortgegangen ist.“ Lucie biss sich auf die Lippe und sah hinaus. Ein muffiger Geruch stieg ihr in die Nase. Ein Loch klaffte in der Wand neben der Spüle und hatte das Holz modrig werden lassen. Das Geschirr war schon länger nicht mehr in Seifenwasser getaucht worden und Wasser ohne Seife hatte die vertrocknete Geranie in dem einsamen Topf vor dem Haus auch lange nicht mehr gesehen. „Aber jetzt wird alles besser“, sagte sie schließlich, so als hätte sie mit Jeannot über das gesprochen, was sie gerade gesehen hatte, doch der Verfall blieb unausgesprochen. Sie strahlte. „Ich bleibe nämlich hier.“
Daniel hasste Zitronen. In seinem Badezimmer roch es danach, wenn Antonella mit ihrem Putzbus aus Genua herübergefahren war, um sie – pft pft – auf die Fliesen zu sprühen. „Jetzt riecht wieder sauber“, sagte sie dann bestimmt und so italienisch und Daniel wäre am liebsten im Boden versunken, weil das doch hieß, dass es vorher unsauber gerochen habe, oder nicht?
„Danke“, sagte er dann knapp, zog die dunklen Augenbrauen noch mehr in die Nähe seiner dunklen Augen und reichte Antonella die beiden Scheine. „Dann bis nächste Woche.“ Antonella zählte die Scheine durch, zehn, zwanzig, stimmte wie immer, und brauste davon. Dann war Daniel wieder alleine mit seinem Zitronenbad und dem blauen Blick aus dem Fenster seiner finsteren Altstadtwohnung. Dabei war es im Frühling noch ganz erträglich hier. Das Meer roch noch frisch und die Gassen dünsteten noch keinen Geruch nach Verwesung und Sonnencreme aus wie im Sommer.
Montag war sein freier Tag, da saß er für gewöhnlich in seinem Wohnzimmer, trank Kaffee und sah hinaus. Yachten zogen weiße Linien über das tiefe Blau und die Geranien seiner Nachbarin gegenüber malten rote Tupfer in das Azur. Er hatte es probiert, das mit den Törtchen. Hatte weiße Linien aus Zuckerguss über das blaue Heidelbeermus gemalt. Hatte Tupfer aus knallroten Erdbeeren in Feigenpüree gemalt und versucht, die Törtchen à la Côte d‘Azur zu verkaufen, aber vergeblich. Die Leute wollten Zitronen. Tarte au citron, tartelettes mit Limogeschmack, kandierte Früchte auf Mandelkuchen. Seitdem machte er nichts anderes mehr als gelbe Törtchen mit gelben Zitronen.
Dabei hatte er wirklich versucht, Zitronen zu mögen, aber es gelang ihm nur, wenn er sich vorstellte, sie seien sonnengelb oder narzissengelb. Seine Verkäuferin Magalie lachte ihn immer aus, wenn er von neuen narzissengelben Törtchen sprach, die er in die Durchreiche zum Laden gab, bevor er sich wieder in seine Backstube zurückzog. „Aber die sind doch zitronengelb“, lachte sie dann und Daniel biss die Zähne zusammen. Natürlich, hier an der Côte war Gelb immer Zitronengelb, vor allem in Menton.
Ihre Haare waren gelb gewesen. Antonia aus Deutschland. Als er dann von Antonellas Putzservice in der Zeitung las, hatte er kein Sekunde gezögert und sie engagiert, in der Hoffnung, Antonia vergessen zu können, wenn ein Name beinahe wie ein anderer war, austauschbar, verwechselbar. Aber es hatte nicht geklappt und jetzt sprühte Antonella sein Bad jede Woche mit Zitronenschaum ein und Antonia träufelte Zitronensäure in sein Herz. Weil sie weg war. Weil sie ihm gesagt hatte, dass in Deutschland ein Job auf sie warte und der Sommer an der Küste ihr immer in Erinnerung bleiben würde. Das war fast ein Jahr her und wenn er darüber nachdachte, dann wäre das kleine Mädchen mit blonden Zöpfen, von dem er geträumt hatte, seit er Antonia kannte, schon geboren. In zwei Jahren hätte er ihr Haar flechten können und in drei weiteren hätte er ihr eine zitronengelbe Schultüte gekauft, die größer als sie selber gewesen wäre. Er hatte ein Bild von Antonia als kleines Mädchen gesehen und sie hatte ihm lachend erklärt, dass die Kinder in Deutschland zum Schulstart Schultüten mit Süßigkeiten bekamen, aber manchmal war auch Obst drin. „Zitronen?“ hatte Daniel gefragt und dabei an den alten Jeannot denken müssen, der ihm immer eine Kiste sündhaft teurer Zitronen verkaufte, mit denen er sündhaft teure Törtchen machte.
Antonias Lachen. Es platzte aus ihr heraus wie wenn man eine reife Weintraube zwischen den Fingern zerdrückte und der süße Saft über die Finger rann. Er hatte gezählt, wie oft er es in dem Sommer gehört hatte, dreihunderteinundzwanzig Mal. Das waren entweder eines zu viel oder neun zu wenig, aber er konnte es nicht ändern. Vielleicht hatte er sich auch verzählt, das war durchaus möglich, er hatte im letzten Winter viel darüber nachgedacht.
Und jedes Mal, seit Antonia weg war und Jeannot ihm griesgrämig jeden Dienstag die Zitronen brachte, musste er an ihr zitronengelbes Haar denken und an ihr prickelndes Lachen wie Zitronenlimonade. Jeannot würde mit seinem klapprigen Fahrrad den Berg herunterfahren, wie immer. Er würde mit den Füßen bremsen müssen, denn die Bremsen an seinem Fahrrad funktionierten schon nicht mehr, als Daniel das erste Mal seine eigene Pâtisserie aufgeschlossen hatte, vor fünf Jahren. Dann würde Jeannot die Kiste mit den schrumpeligen Kugeln vor die Tür des Lieferanteneingangs knallen und die Glocke ziehen, damit Daniel herauskam. Er würde „grmpf“ machen, auf die Kiste zu seinen Füßen deuten und Daniel würde „grmpf“ antworten, ihm zwei Scheine reichen wie für Antonella und dann würde Jeannot davoneiern, sein Rad würde Rostspuren auf den Fliesen vor der Pâtisserie hinterlassen und Daniel war mit dem Zitronengestank wieder alleine.
Lucie versuchte gar nicht, sich die Haare zu kämmen. Als sie aufstand, strich sie nur einmal über ihre Locken und drehte die eine über ihrer Stirn über ihrem Zeigefinger zusammen, bis sie sich kringelte wie ein Korkenzieher.
Jeannot saß noch im Dunkeln seiner Küche und kaute auf einem Stück altem Baguette herum.
„Aber Papa, du musst doch den Frühling hereinlassen!“, rief Lucie und riss die Fensterläden auf. Die Luft explodierte, schleuderte den Geruch der Küste in den kleinen Raum. Sonnengewärmte Erde, weißer Flieder, salziges Meer. Lucie saugte sie auf wie ein Schwamm. „Herrlich.“
Aus ihrem Rucksack holte sie ein Glas Erdbeermarmelade und stellte es vor Jeannot auf den Tisch. „Selbstgemacht. Das ist Sommer im Glas.“ Ihre Augen leuchteten.
Tatsächlich, las Jeannot auf dem Etikett. Sommer im Glas. „Hast du noch mehr?“
Lucie kramte ein Gläschen Basilikumpesto hervor. „Grünes Glück?“, fragte sie, aber Jeannot schüttelte den Kopf. Dann lieber Sommer im Glas, denn der Sommer war nicht übel. Da wuchsen keine Zitronen, da hatte er seine Ruhe.
„Ich muss nachher runter ins Dorf“, sagte er. Dabei war Menton zuletzt vor fünfzig Jahren ein Dorf gewesen, jetzt war es eine lebendige Stadt. „Der alte Daniel braucht eine Kiste Zitronen.“
„Wie praktisch!“ Lucie klatschte in die Hände. „Ich muss auch runter ins Dorf, ich brauche eine Welle Meer an meinen Füßen.“
Jeannot verstand nur die Hälfte von dem, was sie sagte, aber was auch immer das Mädchen an seinen Füßen brauchte, würde es bekommen. Und so brausten sie beide auf dem klapprigen Rad den Hügel herunter und Jeannot wäre unter Garantie im Gebüsch gelandet, hätte Lucie ihn nicht mit ihrem Juchzen den Berg heruntergetrieben wie ein Schutzengel. In jeder Kurve stieg ihm ein Hauch ihres Parfüms in die Nase. Erdbeere und Basilikum entschied er. Sommer im Glas und grünes Glück. Als er sein Rad vor Daniels Pâtisserie parkte, stand der Zuckerbäcker bereits draußen vor der Tür und sah ihm ungläubig zu. Man sah ihm an, dass er aus der Backstube gestürzt war, als er Jeannots Rad in Kombination mit Lucies Lachen gehört hatte.
„Ich dachte, ich werde irre“, murmelte er und war sich plötzlich nicht mehr sicher, ob er es nicht durch wurde, als er Lucies Locken sah und den riesigen Mund in dem strahlenden, erdbeerrunden Gesicht. Vorsichtshalber verschränkte er die Hände vor der Brust. Sie sollte nicht denken, dass er wegen ihr vor die Tür gekommen war, er kannte sie ja gar nicht.
„Ich bin Lucie“, hauchte sie atemlos und hauchte ihm ebenso zwei Küsschen auf die Wangen, die den Duft von Erdbeere und… nein, tatsächlich? Erdbeere und Basilikum hinterließen.
„Schon ok“, sagte er und verpasste sich innerlich einen Kinnhaken. Das war genauso dämlich wie Zitronentörtchen auf der Zunge seiner superreichen Kunden.
„Und du bist der alte Daniel?“ Lucie zupfte ihm ein Haar von seiner Schürze. „Das ist aber gar nicht grau“, stellte sie fest.“
Jeannot machte „grmpf“ und sah beschämt weg. So, der alte Daniel also, was für eine Frechheit.
„Wir bringen Zitronen“, fuhr Lucie fort, ohne eine Antwort abzuwarten, die er sowieso nicht hatte. Sie hielt ihm die Kiste hin und Daniel musste die Augen zusammenkneifen. Das Gelb war heute wirklich ziemlich gelb. Musste an der Sonne liegen, im Frühling war sie gnadenlos klar.
„Schon ok“, sagte er wieder und verspürte den zweiten Kinnhaken.
„Nein, nicht ok. Blendend, prächtig, wundervoll!“ Lucie nahm eine Frucht heraus und hielt sie in die Sonne, die das grüne Blättchen daran transparent erscheinen ließ. „Das sind die schönsten Zitronen, die ich je gesehen habe. Sie sind süß wie Zucker und haben das Aroma des Meeres in sich.“ Aus der Tasche ihres Frühlingskleids holte sie ein kleines Messer und schnitt sie auf. Es war dasselbe Geräusch, wie wenn man eine reife Traube zwischen den Fingern zerdrückte, ganz zart. Dann rann ihr der Saft über die Hände und sie reichte Daniel ein Stück gelbes Fleisch.
„Riecht sauer“, log er.
„Du lügst“, sagte Lucie und verfolgte das Stück Fleisch, bis es in seinem Mund verschwunden war.
Tatsächlich, dachte Daniel überrascht. Die Zitrone war frisch, luftig, süß. Sie schmeckte gelb wie Zitronengelb. Und das erste Mal dachte er dabei nicht an Antonias Haar, sondern sah nur Lucies erdbeerroten Mund.
„Danke für die Erdbeeren“, sagte er und kramte nach Geld. „Die Zitronen, meine ich“, und lief himbeerrot an. Lucie lachte schallend wie eine Mittelmeerwelle, die auf einen Felsen traf. Stürmisch, ozeanisch. Er hörte Jeannot kichern. Jeannot kichert nie. Daniel fühlte sich wie in einem Traum gefangen. Ein Albtraum auf einer rosa Wolke, vielleicht Zuckerwatte, wenn es ganz schlimm kam.
Er hielt Lucie zwei Scheine hin und zählte diesmal selber. Fünfzig, hundert. Steckte sie schnell zurück in die Geldbörse und holte zwei neue heraus. Zehn, zwanzig. Reichte sie ihr und bekam noch ein Erdbeerlächeln.
„Du bist süß“, sagte sie und verabschiedete sich mit einem Erdbeer-Basilikumküsschen. Daniel hielt ihr die andere Wange hin.
„Im Süden gibt man zwei“, nuschelte er und bekam noch eines.
„Wir sehen uns nächste Woche“, sagte Lucie und kletterte zurück auf den Gepäckträger von Jeannots Rad. Ihr Kleid legte sich um ihre wohlgeformte Hüfte wie Fondant um einen Kuchen und als er noch einmal auf ihre Lippen starrte, wusste er wieder, woran sie ihn erinnerten. Zuckerschrift, ganz klar.
„Ich könnte schon morgen neue Zitronen brauchen“, hörte er sich sagen und an Erbeere und Basilikum denken.
Als sie weg waren, wischte er sich über die Augen. Vielleicht hatte er an seinem freien Tag zu viel Kaffee getrunken, das Koffein vernebelte ihm die Sinne.
Am nächsten Morgen war Jeannot allein. Im Haus roch es nach der Frühlingsluft, die weiter in die kleine Hütte strömte. Er hatte glatt vergessen, die Läden über Nacht zu schließen. Als er draußen in den Zitronengarten ging, strahlten ihn gelbe Früchte an. Sie reiften so schnell um diese Zeit, lugten schon wieder gelb unter den grünen Blättern hervor. Er rupfte eine ab und strich ihr über die schrumpelige und feste Haut. Sie war ganz sonnenwarm und setzte den Geruch von gerade geöffneten Blüten frei.
„Lucie?“, rief er. Das musste er ihr zeigen, diese Zitrone war ein Wunderwerk. Eine so schön geformte hatte er lange nicht gesehen und keine, die so fein duftete. Aber Lucie kam nicht. Er nahm die Frucht mit und öffnete vorsichtig die Tür zu ihrer Kammer. Das Bett war gemacht, so wie vor fünfzehn Jahren, als Claudie und Lucie verschwunden waren. Seltsamerweise lag Staub auf dem Kissen. Dabei hatte Lucie es doch benutzt, und auch die Decke. Alles eingestaubt. Er riss die Fensterläden auf und ließ Meeresluft herein. Wo war sie denn?
Er griff zu Baguette und Butter und suchte in dem kleinen, schmutzigen Kühlschrank nach der Marmelade, die Lucie mitgebracht hatte. Unauffindbar. Vielleicht das Pesto? Besser als nichts, auch wenn er Basilikum zum Frühstück nicht besonders mochte. Verschwunden. Lucie hatte es bestimmt gestern Abend aufgegessen, nachdem er schon Schlafen gegangen war.
Nachdenklich packte er eine Kiste mit frisch geernteten Zitronen und schnallte sie auf sein Rad. Als er herunter ins Dorf kurvte, dachte er an Lucie. Sah einmal kurz nach hinten auf seinen Gepäckträger, der rostig wie immer war. Und leer.
An diesem Tag brachte er die Kiste nicht zum Lieferanteneingang. Er wollte erstmal in den Laden schauen. Eigentlich war er viel zu früh, es war Mittwoch, die nächste Lieferung wäre am Dienstag kommender Woche dran. Misstrauisch betrachtete er die Auslage und begrüßte Magalie mit einem „Bonjour“. Sie sah ihn ebenso misstrauisch an.
„Monsieur Jeannot?“ fragte sie und wich ein Stück zurück. „Alles in Ordnung mit Ihnen?“
Jennot konnte nichts dagegen tun, er musste grinsen. Nicht wegen Magalie. Sondern wegen der Törtchen in der Auslage. Erdbeer-Basilikum.
Daniel stieß die Tür zur Backstube mit dem Ellbogen auf, in den Händen hatte er Fondant und Zuckerschrift. „Jeannot?“, fragte er und zog die Augenbrauen hoch. Er war doch ein ganz hübscher Bursche und bestimmt nicht älter als dreißig. Im Winter hatte er ausgesehen wie fünfzig.
„Ich bringe Zitronen“, sagte Jeannot und stellte die Kiste auf die Theke.
„Es ist Mittwoch“, sagte Daniel und lugte nach draußen zu Jeannots Rad.
„Ich weiß“, sagte Jeannot und sah zu, wie Daniel eine Zitrone aufschnitt und ein Stück Fruchtfleisch im Mund verschwinden ließ.
„Frisch, luftig, süß.“ Daniel ließ das Messer wieder in seiner Schürze verschwinden. Dann sah er Jeannot an und für einen Moment brauchten sie keine Worte. Jeannot schüttelte den Kopf kaum merklich und Daniel deutete auf die Auslage. „Darf es etwas sein?“
Jeannot schluckte. „Ein Erdbeer-Basilikum-Törtchen bitte.“
„Geht aufs Haus.“ Daniel reichte Jeannot die Tüte und lehnte beide Arme auf die Theke. „Ich glaube, wir sollten uns mal unterhalten, Jeannot. Was meinst du?“
Kühle Hamburgerin stolpert in die heiße Provence
Immobilienmaklerin Laura ist auf Spezialmission in der Provence: Sie soll dem hoch verschuldeten Lavendelbauern André die Farm abluchsen. Dummerweise wird sie schon am ersten Tag angefahren und wacht später auf ebenjener Farm auf. Danach ist nichts mehr, wie es war, denn André ist nicht nur pleite, sondern auch ziemlich unwiderstehlich.
Doch er verbirgt etwas vor Laura und sie muss sich fragen, was sie eigentlich will. Denn die Dorfbewohner hat sie genau wie das lila Zauberland schnell ins Herz geschlossen. Außerdem ist ausgerechnet Andrés bester Freund Ben ihr eine große Hilfe, um Fuß zu fassen. Und um Lauras Herzen einen Stups zu geben, den sie eigentlich nicht will...
Dieser Sammelband enthält die komplette Serie mit fünf Teilen:
Süßer Lavendel
Süßer Lavendel - Rückkehr in die Provence
Süßer Lavendel - Fünf sind drei zu viel
Süßer Lavendel - Eine provenzalische Hochzeit
Süßer Lavendel - Lavendelträume, Lavendelschäume
***Mit zwei zauberhaften Lavendelrezepten für sündhaft gute Sommermomente***
Tag der Veröffentlichung: 30.03.2021
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