Immobilienmaklerin Laura hasst Urlaub. Nachdem sie sich im Kundengespräch einen Schnitzer geleistet hat, besteht ihr Chef auf eine Auszeit und schickt sie mit Spezialauftrag in die Provence: Sie soll einem Lavendelbauern namens René die Farm abluchsen. Doch kaum in Frankreich angekommen, wird sie angefahren und wacht erst auf der Lavendelfarm eines gewissen André auf. Der verbirgt nicht nur etwas vor ihr, sondern ist auch noch ungeheuer anziehend...
Als Laura von den seltsamen Zufällen und Lügen genug hat, fliegt sie zurück nach Hamburg. Doch man sieht sich immer zweimal im Leben und so bricht sie, gelockt von Entschuldigungen und Besserungsversprechen, wieder nach Südfrankreich auf. Plötzlich ist André aber nicht mehr so begeistert, sie zu sehen und ergreift die Flucht. Als Laura dann auf jemanden trifft, der seit zwanzig Jahren ihre Träume heimsucht, ist die Verwirrung perfekt und sie muss sich fragen, was sie wirklich will im Leben. Immerhin haben sie die Menschen in Saint-Jacques-les-Monts ins Herz geschlossen und ihr Arbeit in einer zauberhaften kleinen Bäckerei gegeben. Und dann ist da noch Andrés bester Freund Benjamin, der ein Auge auf Laura geworfen hat.
André zog den abgewetzten Lederkoffer vom Schrank herunter und wurde von einer Staubwolke umhüllt, die ihn husten ließ.
„Merde!“, fluchte er und riss das Fenster auf. Das alte Ding musste dort länger gelegen haben, als er vermutet hatte. Das Leder der Schnallen war brüchig geworden, und doch ließen sie sich leicht öffnen. Die Letzte, die diesen Koffer berührt hatte, war seine Mutter gewesen. Einige Monate, bevor sie starb. André wischte sich Staubflocken aus den Augen und bemerkte, wie sich einige Tränen darunter gemischt hatten.
„Putain de merde!“ Er würde sicher nicht wegen eines Koffers heulen. Der Staub legte sich in dem kleinen Schlafzimmer und schließlich klappte André den Deckel hoch. Er war enttäuscht, darin nichts als eine Welle alter Luft vorzufinden, die sich sogleich im Raum verteilte und dann verblich. Er kniete sich hin und starrte den Koffer an. Dann sank er mit dem Rücken gegen die Wand und blieb so sitzen, eine ganze Weile.
Die Erinnerung rollte über ihn wie eine Lawine.
Einige Jahre war es her gewesen, dass er eines Abends, als er mit Sabine bei einem Glas Rosé auf seiner Dachterrasse in Marseille gesessen hatte, mit Blick auf die glänzenden Lichter der Stadt. Es klingelte an der Tür, obwohl sie beide niemanden erwartet hatten.
„Sicher ein Klingelstreich“, hatte Sabine genervt gemurmelt und sich dann das nächste Glas Wein eingegossen. Es war die Zeit gewesen, als sie beide die köstlichsten Tropfen tranken wie Wasser. Weil sie es sich leisten konnten. André hatte damals nicht geahnt, dass sich sein Leben an diesem Abend verändern sollte und eigentlich konnte er die ganze Sache erst rekonstruieren, als er vor dem ledernen Koffer seiner Mutter saß, mit dem Rücken an der Wand.
Irgendwann war Sabine dann doch aufgesprungen, noch mit dem Glas in der Hand, und wütend zur Tür gestapft, während André keinen Finger gerührt hatte.
„Ja bitte?“, hörte er ihre Stimme durch die weitläufige Wohnung hallen. Und kurz darauf die zitternde Stimme seiner Mutter.
„Ist André da? Ich würde ihn gerne sprechen.“ Wie sie versucht hatte, ihrer Stimme Kraft und Bestimmtheit zu geben. Er wusste noch, wie er kurz den Kopf vom Outdoor-Sofakissen gehoben hatte, um zu lauschen.
„Tut mir leid, er ist nicht da. Geschäftlich unterwegs, Sie wissen schon. Kann ich ihm etwas ausrichten?“ Sabine und seine Mutter hatten sich nie verstanden. Dazu hatte es auch wenig Gelegenheit gegeben, denn selbst Weihnachten verbrachten Sabine und er meistens auf einer tropischen Insel, weit weg von den schneidenden Mistral-Winden der Provence, wo sich die Lavendelfarm seiner Mutter befand. Wo er aufgewachsen war und sich geschworen hatte, nie zurückzukehren. Raus aus der Enge des ländlichen Frankreich, der bestürzenden Einfachheit der Menschen.
Er hörte, wie seine Mutter zögerte und dann nur leise sagte: „Nein. Nein, danke. Erwähnen Sie bitte nicht, dass ich hier war, Sabine. Daran wäre mir sehr gelegen.“
Ein Glück, dass es seiner Frau wieder gelungen war, seine Mutter abzuwimmeln. Die ständigen Besuche und Telefonate mit nichtssagendem Inhalt hatten in den letzten Wochen zugenommen und nervten ihn massiv. In seiner spärlichen Freizeit wollte er nicht von seiner Familie belästigt werden. Er schickte zu Geburtstagen Geld nach Saint-Jacques-les-Monts, von dem sich seine Mutter etwas Schönes kaufen konnte, wenn sie wollte. Das musste Dankbarkeit genug sein. Und trotzdem ließ irgendetwas André aufstehen und sich über die Glasmauer der Dachterrasse lehnen. Er sah, wie seine Mutter gebeugt davonschlich, in ihrer Hand den alten Lederkoffer, der schon ihrem Vater gehört hatte. Einige Wochen später war sie tot.
André öffnete die Augen. Auf der Farm war es still. Das sommerliche Geschrei der Zikaden war verstummt, der Herbst hielt Einzug. Im Haus regte sich nichts, aber das konnte es auch nicht. Er war allein. Eine zweite Chance mit Sabine? Hatte nicht geklappt. Eine zweite Chance mit der Deutschen Laura? Hatte er vergeigt. Die Farm? Pleite, ausgelaugt, ausgebrannt. In seiner Not hatte er einem windigen Geschäftsmann aus Marseille vertraut, der schließlich die Scheune abfackeln ließ, als André das geliehene Geld nicht zurückzahlen konnte. Und danach? Er steckte mittendrin in dem Danach. Das Verfahren der Staatsanwaltschaft lief und in seinem Portemonnaie klapperten nur noch zwei Münzen dumpf gegeneinander, die er später zum Bäcker tragen würde, für ein bisschen Reiseproviant.
Es war Zeit, für eine Weile fortzugehen. Er hatte von einer Gesellschaft in Paris gehört, die sich für ökologische Landwirtschaft einsetzte und Starthilfen gewährte. Wenn es in seinem Leben noch eine Chance gab, das Erbe seiner Mutter zu retten, dann diese.
Er stand auf und schmiss ein paar ungebügelte Hemden in den Lederkoffer. Dann ging er noch einmal durchs Haus. Erst jetzt fiel ihm auf, wie traurig alles aussah. Der abgeplatzte Lack an den Fenstern hatte ihn nie gestört, auch nicht der nie reparierte Wasserschaden an der Spüle in der Küche. Abgesehen von dem Moment, in dem Laura den behelfsmäßigen Schwamm herausgezogen und ein Schwimmbad aus seiner Küche gemacht hatte. Die abgebrannte Scheune zeichnete sich scharf gegen den tiefblauen provenzalischen Himmel ab, der abgeerntete Lavendel auf seinen Feldern erschien ihm wie Haufen toter, grüner Igel. Er hatte das Erbe seiner Mutter ruiniert. In Momenten wie diesen hoffte er, dass es keinen Himmel gab, aus dem Tote auf die Erde hinabsehen konnten. André drückte einen Kuss auf seine Fingerspitzen und hob sie in das unendliche Blau. Sicher war sicher. Dann schloss er die Tür hinter sich ab.
„Laura, warum ist Lavendel eigentlich lila?“, fragte Lou und zerbröselte einige getrocknete Blüten zwischen den Fingern.
„Tja… ich weiß nicht. Was denkst du denn?“ Laura hatte sich angewöhnt, auf Lous Fragen mit einer Gegenfrage zu antworten, damit nicht so auffiel, dass sie keine Ahnung hatte, wie sie dem Kind die Welt erklären sollte.
„Also ich glaube“, antwortete Lou begeistert und hüpfte von der Arbeitsplatte, „dass es an den Sonnenblumen liegt. Weil die gelb sind und jede Pflanze gelb sein will, damit die Bienen kommen. Aber weil die Sonnenblumen neben dem Lavendel stehen, musste sich der Lavendel eine andere Farbe aussuchen.“
„So so. Und warum hat er sich dann nicht Rot ausgesucht oder Grünblau gestreift?“, neckte Laura das Mädchen.
„Na weil Lila viel cooler ist als die anderen Farben.“ Sie deutete auf ihr lavendelfarbenes T-Shirt, das mittlerweile mit Mehl bestäubt war.
„Das leuchtet mir ein. Magst du jetzt den Teig für die Kekse kneten? Ich zeige dir, wie man das macht.“ Laura hätte nie gedacht, dass sie diesen Satz einmal sagen würde. Jemandem zeigen, wie man Teig knetet und Kekse backt. Aber in den Monaten, die sie in Sophies Bäckerei in Saint-Jacques-les-Monts verbracht hatte, hatte sie so einiges gelernt und das Backen war das Geringste. Sie hatte gelernt, mit wenig zufrieden zu sein, in einer kleinen Kammer mit alten Möbel zu leben und vor allem, mit Menschen umzugehen. Es waren gerade zwei Monate vergangen, dass sie ihren Job gekündigt hatte, um zu André in die Provence zu ziehen, aber es kam ihr vor wie Jahre. Und das Beste daran: Die Enttäuschung mit André tat ihr nicht mehr weh.
Während Lou, die Tochter von Benjamin, der Andrés bester Freund war und so ganz anders als der ruppige Lavendelbauer, den Keksteig knetete, gab Laura einige Lavendelblüten hinzu. Sophie hatte ihr freie Hand gelassen, mit Lavendel herumzuexperimentieren.
„Na gut. Aber nur, wenn du mir nicht die Küche verwüstest“, hatte die resolute ältere Dame geknurrt und Laura zum Strahlen gebracht, die längst wusste, dass das ein Ritterschlag war. Zweifellos hatte auch Benjamin, ihr Sohn, ein gutes Wort für sie eingelegt. Das Lavendelfest stand kurz bevor und Laura wunderte sich, dass bisher niemand auf die Idee gekommen war, mit Lavendel zu backen. Dabei konnte man ihn essen, das hatte sie in Erfahrung gebracht und bei Andrés Lavendeleis am eigenen Leib erfahren. Lavendel hatte eine verführerische Kraft, das konnte man nicht anders sagen. Laura seufzte.
„Was hast du denn?“, fragte Lou verwundert. „Du schnaufst so.“
„Ach, gar nichts.“ Laura grinste. Lou hatte Augen und Ohren überall. Der Keksteig duftete und als Laura einen Tropfen Lebensmittelfarbe hinzugab, nahm er auch die blasslila Farbe an, die an Lavendel erinnern sollte. Die Provence war voller Feste, selbst jetzt noch, nachdem der Sommer vorüber war. Die Ernte war überall eingebracht. Wein, Lavendel, Sonnenblumen, Feigen, Tomaten und allesamt in den sattesten Farben. Jetzt waren die Einheimischen dran, der Rest des Jahres gehörte ihnen. Auf dem diesjährigen Lavendelfest morgen würde die erste Lavendelkönigin des Dorfes gekrönt werden, ein Vorschlag von Laura, über den sie selbst erstaunt war. Aber ein so bezauberndes Dorf wie Saint-Jacques brauchte einfach eine Lavendelkönigin, in weißem Kleid, mit weißem Hut und einem Lavendelsträußchen in einem Weidenkörbchen…
„Super Idee“, hatte Ben sofort gesagt, als sie den Vorschlag eher spontan bei einem Abend in der Bar gemacht hatte. Er zückte einen Bierdeckel und schrieb die ersten Kandidatinnen auf. „Laura, du stehst auf Platz eins des Wahlzettels, wenn das ok für dich ist.“
Laura hatte nicht im Traum daran gedacht, sich selber aufzustellen. „Aber...“
„Super, ich wusste, dass dir das gefällt.“ Ben hatte sie angegrinst und ihr mit dem Kugelschreiber sanft auf die Nase gestupst.
Und nun buk sie mit Lou und Sophie Brot um Brot, einen Haufen Kekse, Fougasse und Croissants, die morgen verkauft werden sollten. Lou stach runde Kreise aus und drückte ein paar Lavendelblüten hinein. Sie schien plötzlich nachdenklich und Laura wartete auf die Frage, die sie hatte. Lou war eine einzige Wundertüte mit sprühender Fantasie.
„Laura, wieso hast du eigentlich keinen Mann?“
Laura verschluckte sich an einer Handvoll Nüsse, die sie in den Mund geworfen hatte.
„Naja, das ist kompliziert.“ Sie wusste, dass das keine befriedigende Antwort für Lou war, aber sie verschaffte ihr Zeit zum Nachdenken. „Es ist nicht so, dass jede Prinzessin gleich ihren Prinzen findet und sie glücklich und zufrieden bis an ihr Lebensende sind.“
„Das ist in Märchen aber auch nicht so, du Blödi! Du hast überhaupt keine Ahnung von Märchen. Dornröschen musste auch erst hundert Jahre schlafen, bis ihr Prinz kam und Cinderella hatte eine böse Stiefmutter, die sie Erbsen zählen ließ.“ Sie erhob den Zeigefinger und predigte Weisheit. Laura musste schmunzeln, gab sich aber Mühe, es zu unterdrücken. „Man muss erst etwas ganz Schlimmes erleben, bis der Prinz kommt und einen erlöst.“
„Da hast du wohl recht.“ Sie dachte an ihren holprigen Start in der Provence, an ihre erste Reise. Wie André sie aus Versehen angefahren und ihr dann das Portemonnaie gestohlen hatte. Wie er einen Kredit auf ihren Namen abgeschlossen hatte und wie all das ans Licht gekommen war. War das nicht Schlimmes genug? War es jetzt Zeit für einen Prinzen? Laura würde nicht nach ihm suchen, so viel stand fest. Stolz war Stolz, egal wie verletzt er war.
„Ich finde, du solltest auf einen Ball gehen. Das machen Prinzessinnen auch dauernd.“
„Aber nur, wenn du mitkommst“, sagte Laura und wischte Lou eine Spur Mehl aus dem Gesicht.
In Lauras Tasche vibrierte ihr Handy, sie wartete auf einen Anruf von einem Immobilienmakler im größeren Nachbardorf. Ohne Sophie einzuweihen, hatte sie sich dort beworben. Das Leben als Bäckereigehilfin mochte reizvoll sein, aber wenn sie eine ernsthafte Zukunft in der Provence wollte, brauchte sie einen richtigen Job.
„Oui, âllo?“, meldete sie sich.
„Hallo, Liebes! Schon ganz französisch, was?“ Ein nervöses Lachen.
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Texte: N.Rusch
Bildmaterialien: Pixabay
Tag der Veröffentlichung: 18.09.2018
ISBN: 978-3-7438-8110-5
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